Mit diesem Reader möchten wir einen Diskussionszyklus beginnen mit dem Ziel, ein revolutionäres Verständnis von Kunst und Kultur zu entwickeln. Wir verwenden den Begriff des ‚Revolutionären‘ in der Tradition einer Linken, die sich wahlweise antikapitalistisch, alternativ, anarchistisch, kommunistisch etc. usw. versteht.
Ziel dieses Readers ist es nicht, eine Anleitung dafür zu geben, wie Kunstschaffende ‚politische‘ Kunst machen können. Dem Begriff der ‚politischen Kunst‘ geht unserer Einschätzung nach ein affirmatives Verhältnis zur bürgerlichen ästhetischen Theorie voraus. Wichtiger erscheint uns, den Bereich von Kunst und Kultur in Ableitung der politischen Ökonomie zu verstehen.
Es geht uns nicht um Elfenbeinturmdiskussionen. Die Auswahl der Texte soll das reflektieren. Wir haben uns darum bemüht, ein gleichwertiges Verhältnis von abstrakten wie auch konkreten Texten zu bewahren. Wir sind damit bemüht, die verschiedenen Interessen und Zugänge zu dem Themenkomplex Kunst/Kultur zu berücksichtigen.
Dieser Reader richtet sich an verschiedene Milieus, von denen das revolutionäre nur eines ist. Der Natur des Themas gemäss möchten wir auch jene Kunstschaffenden ansprechen, die salopp gesagt ‚die Schnauze voll haben‘ von diesem System und die nach einer Vertiefung des Verständnisses von Kunst und Kultur im Verhältnis zum Kapitalismus suchen.
Wir möchten mit dieser Einleitung einige Worte vorausschicken und thesenhaft die Zusammenhänge zwischen den Texten skizzieren.
Die Milieus, die sich feindlich gegenüber stehen …
In den Diskussionen innerhalb der revolutionären Linken werden die Themen Kunst und Kultur stiefmütterlich behandelt. Das Feld wird häufig einer bürgerlichen Interpretation überlassen – oder die Kategorien der bürgerlichen Kunst und Kultur werden unhinterfragt übernommen.
Lenin selbst merkte an, dass er den Nationaldichter Puschkin dem Revolutionskünstler Majakovskij vorziehe und die Vermittlung der bürgerlichen Kultur für wichtiger erachte als jegliche Experimente einer proletarischen Aneignung von Kultur. Trotzkis Haltung ging noch weiter und wird häufig auch von Aktivisten heute geteilt: Für Fragen, die mit Kunst und Kultur zusammenhängen, reiche die Energie des Proletariats nicht aus. Denn, so argumentiert Trotzki militaristisch: „Wir sind nach wie vor Soldaten auf dem Vormarsch: Wir haben nur einen Rasttag. Da muss man sich sein Hemd waschen, die Haare schneiden und kämmen und vor allen Dingen sein Gewehr reinigen und einfetten.“ Ein Treppenwitz der revolutionären Kultur, nebenbei: Nicht nur geschrieben von einem, der das Prinzip der Arbeiterkontrolle verraten hatte, sondern der auch, während er dies schrieb, im Kururlaub am Schwarzen Meer weilte. – Entsprechend heisst es also: Da die den Kapitalismus definierenden Felder in der Ökonomie und Politik, dem Unterbau zu entdecken seien, und dort auch angegangen werden müssen, sei es strategisch falsch, Zeit, Energie und Arbeit hiervon abzuziehen, um sich mit dem „Überbau“ von Kultur oder Kunst zu beschäftigen.
Eine dritte historische Linie sieht in der Kunst einen propagandistischen Gehilfen für die Parteipolitik: Der stalinistisch geprägte sozialistische Realismus als verordnete Staatskunst ist hierbei nur die extremste Unterwerfung kreativer Tätigkeit. Aber auch ‚weichere‘ Formen der propagandistischen Nutzung von Kunst im Rahmen politischer Deutung beharren auf der Perspektive, dass die Kunst dem Politischen dienlich zu sein habe. – In dieser Perspektive gilt: „Gute Kunst ist politisch – und nur politische Kunst ist gut.“ Das ist – und noch freundlich formuliert – borniertes Spiessbürgertum auf Parteiniveau. An ein solches Verständnis kann man nicht anknüpfen. Deutlich wird das auch, wenn man sich vor Augen führt, dass eine solche Instrumentalisierung von Kunst für Politik gleichermassen in der faschistischen Kulturpolitik kennzeichnend war.
Umgekehrt hat sich auf der Seite der Kunstschaffenden eine Antipathie gegenüber dem revolutionären Projekt gebildet. Zu theoretisch, zu lustfeindlich seien diese ewigen Diskussionen innerhalb der revolutionären Bewegung geworden. Sie rücke nicht ab vom Standpunkt einer Theoriebildung um der Analyse willen und bleibe so unverständlich für den interessierten Laien (wenn sich z.B. ein orthodoxer Marxist und ein kommunistischer Anarchist gegenseitig Zitate um die Ohren hauen). Oder aber zu laut und so böse seien die Aktionen einer als aktivistisch, illegal operierenden und auftretenden Fraktion, die vor Gewalt nicht zurückschrecke.
Tatsächlich fürchtet sich das Milieu der Kunstschaffenden vor denen, die viel wissen, und den anderen, die etwas machen. Das Fehlen einer eigenen fundierten Analyse und Kritik sowie die Unmöglichkeit zur praktischen Veränderung mittels der Kunst, die von der Gesellschaft abgetrennt ist, geben hier den Boden für Gehässigkeiten.
Dennoch hat sich unter Kunstschaffenden unter dem Druck der letzten Krise wieder das Bedürfnis entwickelt, eigene Erfahrungen innerhalb des Kapitalismus und seinen Erscheinungen zu verarbeiten. Ohnmächtig und diffus wirkt das noch, und verbleibt instinktiv auf der Ebene des Gefühls, dass das herrschende System nicht die „beste aller Welten“ ist. Entsprechend nimmt die kreative Schicht Zuflucht zu modischen Erklärungsansätzen (sprich: postmoderner Ideologie), deren Erkenntnisse zwar eben so verschachtelt sind wie jene der Marxisten, die aber gesellschaftlich anerkannt sind und die beliebig zitiert und verwurstet werden können. Unfähig, ihre Systemkritik an das revolutionären Projekt anzuschliessen, isolieren sich die Kunstschaffenden und suchen die benötigte Anerkennung bei den Überbleibseln des bildungsbürgerlichen Publikums (sprich: Alt-68er). Sie passen ihre Sprache den Erfordernissen einer zwar politisch interessierten, aber eine Revolution verneinenden Intelligenz an, und entwickeln Formen, die dem bürgerlichen Verständnis von Kunst folgen, für den Aktivisten wie aber auch für die Masse ohne die entsprechende ästhetische Bildung meistens unverständlich bleiben.
Politisch sind sie nur insofern, dass sie es gerne wären, und insofern, als es gerade Mode ist. Ihre Performances sind an einem toten Punkt der eigenen Geschichtlichkeit angelangt und enthalten, wie es Peter Bürger formuliert, „Widerstand gegen die Warengesellschaft nur für den, der ihn darin sehen will. Die Neoavantgarde, die den avantgardistischen Bruch mit der Tradition erneut inszeniert, wird zur sinnleeren Veranstaltung, die jede mögliche Sinnsetzung zulässt.“
Es ist längst fällig, einen Brückenschlag zwischen diesen beiden Milieus zu vollziehen und die oben formulierten Klischees in der gemeinsamen Diskussion als Vorurteile zu entlarven. Das bedingt, dass es ein Interesse seitens der revolutionären Linken gibt, nicht vor den Themen Kunst und Kultur zurückzuschrecken; sowie ein Interesse seitens der Kunstschaffenden, die eigene Trennung vom Rest der Gesellschaft zu analysieren.
Herrschende Kultur
Es gibt innerhalb der revolutionären Linken bis heute noch kein ergiebiges Verständnis davon, wie die Felder Kunst/Kultur im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktion und der Ideologie stehen. Es gibt Strömungen wie den westlichen Marxismus, bzw. die Frankfurter Schule, die massgebliche Arbeit geleistet haben hinsichtlich einer Theoriebildung, die auch die Ebene der Ideologie einbezieht. Die Transformation der westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, bzw. die Durchsetzung einer „Kulturindustrie“ (Horkheimer/Adorno) oder einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Debord) als gleichförmige globale Massengesellschaft ist historisch vollzogen. Vor diesem Hintergrund suchen wir nach einem Verständnis von herrschender Kultur und entsprechender Gegenkultur.
Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, was denn „Kunst“ oder „Kultur“ überhaupt bedeuten.
Die Entwicklung des Kapitalismus hat zu einer paradoxen Konstellation geführt: Die herrschende Kultur ist nicht mehr die Kultur der Herrschenden. Heute haben wir alle Teil an einer Kultur, die sich durchweg kapitalistisch gestaltet und die an die Kaufkraft der Massen gebunden ist. Popsongs, Hollywood, Mode u.a. sind die Erscheinungen einer Kulturindustrie, die eben nicht mehr wie ihre historischen Vorläufer im 19. Jahrhundert (z.B. Oper, Theater) einem kleinen Teil der Gesellschaft vorbehalten sind, sondern sie sind eben dadurch definiert, dass sie an die Masse gerichtet sind und sich an ihr orientieren. Darin liegt die Paradoxie, dass die herrschende Kultur nicht die Kultur der herrschenden Klasse ist, sondern Produkt des herrschenden Mechanismus, der aus dem Menschen einen Konsumenten macht.
Wir leben also in einer Gesellschaft, deren herrschende Kultur als Massenkultur in Erscheinung tritt. Aber was wäre denn die Alternative?
Es erscheint uns nun elitär, wenn jener Massen(konsum)kultur ein Verständnis von (Klein-)Kunst entgegengesetzt würde. Kunst ist nicht der Gegensatz zur Kulturindustrie: Sie sind nur zwei Seiten derselben kapitalistischen Organisation kreativer Tätigkeit. Auch ein revolutionäres Bewusstsein allein macht aus Kunst nicht revolutionäre Kunst. Wir erwägen, den Begriff der ‚Kunst‘ ebenso wie jenen der ‚Nation‘ als historisch gebunden zu sehen. Das heisst, der Begriff ‚Kunst‘ ist historisch an den Aufstieg des Bürgertums gebunden. Ebenso wie jener der ‚Nation‘ ist seine Verwendung heute dadurch gekennzeichnet, dass er mehr verschleiert als erklärt. Im Namen der ‚Nation‘ wie auch der ‚Kunst‘ wird der Antagonismus der Klassen ideologisch aufgehoben: Das eine macht aus uns Bürger, das andere Konsumenten oder Ästheten. Tatsächlich stehen beide Begriffe unter dem Eindruck globalisierter Wirtschaft und dienen als Schirm für jene Teile des Kleinbürgertums, die ihre eigene Proletarisierung nicht begreifen möchten. Führt der Begriff der ‚Nation‘ in seiner Reaktivierung in die Arme von sich anti-demokratisch begreifenden Wutbürgerparteien, so erlaubt der Begriff der ‚Kunst‘ einen ähnlichen Integrationsprozess. Egal, ob als Produzenten oder als Konsumenten: Kunst ist ein heiles Refugium, ein eigenes Milieu, das die Widrigkeiten der äusseren Welt ästhetisch entkräftet.
Genau hier möchten wir auch ansetzen: indem wir ein Verständnis von Kreativität jenseits ihrer kapitalistischen Organisation als Kulturindustrie oder Kunst suchen, indem wir das Reden über Kultur einer Gesellschaft nicht ästhetisch, sondern historisch gestalten; gewissermassen geht es darum, parallel mit Marx die Debatte „vom Kopf auf die Füsse zu stellen“.
Massenkunst oder Kultur der Masse?
Der Begriff der Kunst ist also teilweise hinter sich zu lassen. Oder wie es Tretjakow in jenem Zitat, das auch hier auf dem Umschlag des Readers steht, beschreibt:
Erinnern wir uns: Jeder Mensch zeichnet in seiner Kindheit, tanzt, denkt sich treffende Wörter aus und singt. Warum dann aber geniesst er, wenn er erwachsen ist, selbst extrem ausdrucksarm geworden, nur manchmal die ‚Schöpfung‘ eines Künstlers? Hat diese Erscheinung nicht ihre Wurzel in den Bedingungen der kapitalistischen Arbeit, wo der Arbeitsprozess ein Fluch ist und der Mensch nur auf die Minuten der Musse versessen ist? Ist denn der Verlust des aktiven künstlerischen Instinkts des Menschen, der ihn aus einem aktiven Produzenten in einen Zuschauer und Konsumenten verwandelt, als normal anzusehen?
Hier begegnen wir der Grundlage für ein Verständnis von ‚Kunst‘, das nicht mehr bürgerlich ist. Es ist ein Verständnis, in welchem jede(r) auch Produzent sein kann, eine Vorstellung einer Gesellschaft, in der „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ Kunst machen oder geniessen kann.
Es ist eine Vorstellung, die nach massenhaften Laientum, Lob des Dilettantischen klingt. Dem ist entgegenzuhalten: Der kleinbürgerliche Standpunkt kann mit einem kreativen Ansturm der Massen ebenso wenig klarkommen, wie er es mit einem politischen Ansturm der Massen könnte. Es ist dem kleinbürgerlichen Standpunkt ebenso unmöglich, sich vorzustellen, wie ein Betrieb ohne Direktor, sondern nur durch die Belegschaft geführt wird, wie es ihm auch unmöglich ist, sich Kunst und Kultur als etwas vorzustellen, dass nicht durch Experten bestimmt wird, sondern durch jene, die es konsumieren. Darin liegt übrigens eine weitere Parallele zwischen Kunst, Ökonomie und Politik: Zu meinen, dass jene, die an der Spitze sind, die fähigsten wären. Während es bei Ökonomie und Politik im Ansatz schon allen klar ist, dass Korruption und Klientelwirtschaft und -politik Grundlage des Aufstiegs sind, wird innerhalb des Kunstbetriebs immer noch von ‚Talent‘ gesprochen – einem Begriff, den niemand wirklich erklären kann.
Es geht in diesem Reader nicht bloss darum, einem bürgerlichen Verständnis von Kunst und Kultur ein revolutionäres gegenüberzustellen, sondern darum, Beispiele für eine massenhafte Aneignung von Kunst und Kultur aufzuführen. Es ist eine Lüge der Kunstgeschichte, dass die Geschichte der Kunst eine Abfolge von (männlichen) Einzelpersonen von aussergewöhnlichem Talent oder Genie wäre. Auch indem man den Stil oder das Verfahren als Kategorie historischer Entwicklung von der einzelnen Person zu trennen versucht, verlässt man den Boden bürgerlichen Kunstverständnisses nicht. Schon seit jeher gibt es zweierlei Kultur: Eine Kultur der Herrschenden und der Beherrschten. Erstere hat sich immer gerne an der letzteren bedient, um ihre eigenen Sehnsüchte zu formulieren. Die Schäferromantik der Renaissance und des Barock sei hier nur als eines der bekannteren Beispiele erwähnt. Aber auch systematische Ansätze, wie zum Beispiel die Integration von mündlichen Volksmärchen während des 19. Jahrhunderts in das ideologische Gebilde namens „nationale Literatur“ zeigen auf, dass es in Klassengesellschaften nicht nur zweierlei Kulturen nebeneinander gibt, sondern dass dieser Prozess dialektisch verläuft. Während das Bürgertum des 19. Jahrhunderts in den Salons, Galerien, Museen, Theatern und in Lesegesellschaften sitzt, unterrichten sich die Arbeiter gegenseitig in ihren Bildungsvereinen, tanzen an ihren Musikabenden, wo sie sich gleichermassen als Produzenten wie auch Konsumenten verstehen und instinktiv Formen von kreativer Tätigkeit ausleben und geniessen, die in direkter Ableitung ihrer eigenen Lebenserfahrung und des eigenen politischen Kampfes stehen.
Die Dialektik, die in diesem kulturellen Antagonismus steckt, zeigt sich seit dem Erscheinen der organisierten Arbeiterbewegung in neuerlicher Form. Als Vermittlung von ästhetischer Bildung für alle versuchte die sozialdemokratische Kulturpolitik die Defizite zwischen der eigenen Intelligenz und der mangelnden schulischen Bildung der Arbeiterschaft dadurch zu kompensieren, dass sie Zugänge zu bürgerlicher Bildung anbot.
Es ist dies noch die bürgerlich geprägte Vorstellung von Kulturpolitik der 2. Internationalen, nämlich dass die Arbeiterschaft erst auf das kulturelle Niveau des Bürgertums zu bringen sei, bevor es überhaupt über Kultur nachdenken kann. Anstatt anzügliche Witze und Sprüche zu klopfen, sollte es lieber eloquent Goethe zitieren, anstelle von Gin die Verse Shakespeares schlürfen. Das Klavierspiel sei Kultur, gröhlendes Singen hingegen nicht.
Wie wir oben geschrieben haben, war dies letztlich auch die Kulturpolitik der Bolschewisten. Dennoch vollzog das russische Proletariat im Zuge seiner Revolution jenen Bruch, welcher den stärksten Nachhall besass. Aber nicht nur in Russland, überall, wo die Arbeiterbewegung von solchen national-kulturellen Einlullungen verschont blieb, entwickelte sich so etwas wie eine kulturelle Praxis kreativen Massenausdrucks.
Die Texte 1 – Proletarische Kultur
In diesem Reader sind vier Beispiele angeführt für ein solches Verständnis von kreativem Massenausdruck als kulturelle Praxis:
Die Industrial Workers of the World (IWW, oder auch ‚Wobblies‘) in den USA vor dem ersten Weltkrieg, der sowjetische Proletkult (Kofferwort aus ‚Proletarskaja Kultura‘, russisch für ‚Proletarische Kultur‘) bis 1921, die anarchistischen Brigaden während des Spanischen Bürgerkrieges sowie die brasilianische Volkskulturbewegung während der 60er-Jahre. Sicher, all diese Beispiele sind historisch. Aber sie umspannen auch eine Periode von mehr als einem halben Jahrhundert, sie sind jeweils unabhängig von einander entstanden, haben andere Ausprägungen entwickelt und stehen gleichzeitig in einer Verbindung mit revolutionären Bewegungen. Wir sind uns bewusst, dass es tausend weitere ähnliche Ansätze und Bewegungen gab und gibt – unsere Auswahl ist der Zugänglichkeit geschuldet und der Möglichkeit zur Diskussion: revolutionäre Kultur im Zusammenhang mit revolutionären Bewegungen zu verstehen.
Die Texte der Sitzungen 1 bis 6 bilden den ersten Block, in welchen die Auseinandersetzungen um die Begrifflichkeiten von Kunst und Kultur im Vordergrund stehen. Was heisst ‚Kunst‘ und woher kommen die Vorstellungen die damit einhergehen? Wie gestaltet sich ‚Kunst‘ für das Bürgertum? Worin läge ein mögliches revolutionäres Verständnis von kreativer Tätigkeit und wie kann ein solches Verständnis Teil einer revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse, des Proletariats oder allgemeiner: Teil einer Gegenkultur, die das Herrschende zu überwinden sucht, sein?
Wir lesen in Franklin Rosemonts Aufsatz (1. Termin) über die Gegenkultur der IWW als eine aktivistische Kultur, die gleichzeitig Vorstellungen von Kreativität hatte, die nicht kompatibel waren mit jenen Vorstellungen von ‚Kunst‘ des Bürgertums. Innerhalb der Arbeiterbewegung der IWW kam es zu einer breit angelegten kreativen Tätigkeit von Holzfällern, Weberinnen, Hafenarbeitern, Dienstmädchen, die ihre eigenen Gedichte, ihre Lieder mit derselben Selbstverständlichkeit zur gegenseitigen Unterhaltung vortrugen, wie sie sich auch an den Strassenrändern auf Seifenboxen stellten und in emphatischen Reden andere Arbeiter agitierten. Heute würde ein sich für gescheit haltender Kunsttheoretiker solche Strategien aus ihrem revolutionären Zusammenhang lösen und als „performative Intervention im öffentlichen Raum“ bezeichnen. Nichts liegt uns ferner, als ein solcher Ansatz.
Mit der russischen Revolution stellte sich die Frage nach einer ‚eigenen‘ Kultur der Arbeiterschaft auf eine ähnliche Weise: aber als Frage nach einer „proletarischen Kultur“. Auf Initiative der Arbeiterräte wurde die Frage nach einer Übernahme von Kunst und Kultur durch die Arbeiter selbst so selbstverständlich aufgeworfen, wie die politischen und ökonomischen Verhältnisse mit der Revolution in die Hände der Arbeiterschaft übergingen. In seiner frühen Phase war die kulturelle Organisation namens „Proletkult“ die dritte grosse Kraft in der jungen Sowjetunion, neben Partei und Gewerkschaft. Als eine Massenorganisation waren hunderttausende Arbeiter Teil einer historisch einmaligen Bewegung, die sich die Verwirklichung einer genuin proletarisch verstandenen Kunst und Kultur auf die Fahne geschrieben hatte. In den Texten von Arvatov (2.) und Kerschenzew (3.) lesen wir darüber.
Das sowjetische Experiment hatte nur eine kurze Blüte, bis 1921, d.h. spätestens mit dem Kronstädter Aufstand und dessen Niederschiessung waren die Machtverhältnisse zugunsten der bolschewistischen Partei und ihrer staatlichen Vorstellung von Gesellschaft und damit auch von Kunst und Kultur umgedreht. Dennoch existierte in der Bewegung des LEF und Novji LEF eine Tradition weiter, welche die Futuristen begonnen hatten. Weniger interessiert uns hier das ästhetische Verfahren oder die Methoden jener Kunstgruppen, sondern das aktivistische Selbstverständnis gegenüber Partei und Gesellschaft, das Tretjakow behauptet (4.).
Zu diesem Zeitpunkt des Diskussionszyklus ist die Frage danach, was Kunst eigentlich ist oder sein kann, breit aufgefächert. Gleichzeitig besitzen wir drei Beispiele hinsichtlich der Positionierung von Kunst oder Kreativität zur revolutionären Bewegung: Einmal als Teil einer Gegenkultur im Zusammenhang der Arbeitskämpfe (Rosemont), dann als Objekt der Aneignung und Umgestaltung durch die Arbeiterschaft bzw. als Erweiterung des Gedankens der Arbeiterkontrolle (Proletkult; Arvatov und Kerschenzew) und schliesslich als nachrevolutionäre Opposition (Tretjakov).
Die bürgerliche Kunst blieb in ihrer Entwicklung innerhalb der eigenen Kategorien gefangen. Auch wenn viele Vertreter der Avantgarden angesichts der politischen, ökonomischen und technischen Neuerungen die eigene Institution ‚Kunst‘ radikal hinterfragten und in ihrer Radikalität häufig mit der Arbeiterbewegung zusammenarbeiteten, so wurden diese neuen Perspektiven auf die Gesellschaft letztlich als Verfahren, Stil oder Mittel isoliert und erfuhren so doch bloss eine Verwendung als erneuernde Kraft für die Institution Kunst.
Spätestens nach 1945 stellte sich aber die Frage nach der Historizität der Kategorien bürgerlicher Kultur. Es ist hier der Text von Peter Bürger über die historische Avantgarde (5.), der herbeigezogen werden muss für ein grundlegendes Verständnis der Kategorien bürgerlicher Kunst. Vor allem gilt es, die historischen Avantgarden im Zusammenhang mit der zentralen Kategorie zu begreifen, nämlich der Autonomie der Kunst. Das Bürgertum organisierte alle kreative Tätigkeit als Profession und isoliert sie in einem eigenen System namens Kunst. ‚Die Kunst‘ ist damit von der Gesellschaft getrennt. Die Versuche der historischen Avantgarde, diese Trennung rückgängig zu machen, artikulierte sich als Wunsch, die Institution ‚Kunst‘ zu verlassen und „zurück ins Leben“ zu gelangen. Gerade aufgrund dieses Punktes erscheint es uns als ergiebiger, diesen Schlüsseltext für das Verständnis bürgerlicher Kunst nicht an den Anfang des Readers zu stellen, sondern ihn unter dem Eindruck einer proletarischen Kultur zu lesen. Gewissermassen demonstrierten die revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen eben jenes Verständnis von Kunst/Kultur und Kreativität sowie die Verwendung derselben als organischen Bestandteils der eigenen Lebensrealität, was den im Bürgertum beheimateten Kunstschaffenden verwehrt blieb, so unsere These.
Der erste Block wird mit einem Text beendet, in welchem Baxmeyer anhand der literarischen Aktivitäten in der anarchistischen Bewegung während des Spanischen Bürgerkrieges das Verhältnis revolutionäre Bewegung und ‚Kunst‘ aufrollt (6.). Diesen Text haben wir ausgewählt weniger um die Diskussion noch mehr in die Tiefe zu führen, sondern eher aufgrund seines zusammenfassenden Charakters. Vieles was für die proletarische Kulturbewegung der jungen Sowjetunion galt, trat 20 Jahre später auch im Zusammenhang mit der anarchistischen Bewegung Spaniens auf. Die Kategorien einer massenhaften Aneignung von Kreativität und Kultur sind hier allgemeiner formuliert und weniger entlang einer Trennung in bürgerlich und proletarisch.
Die Texte 2 – Kultur der Massen oder Kultur für die Massen?
Die Sitzungen 7 bis 11 bilden einen zweiten Block, in welchem verstärkt auf die kulturelle Transformation des Kapitalismus nach 1945 eingegangen wird. Wie bereits erwähnt, sehen wir den Durchbruch einer kapitalistischen Massenkultur als bestimmendes Kennzeichen. Dies verändert die Bedingungen für die bürgerliche Kunst wie auch für die nationalen Arbeiterbewegungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch übrig blieben und sich neu formierten.
Die utilitaristischen Vorstellungen von Kunst, wie sie Arvatov und Tretjakow skizzierten, werden spätestens mit dem Aufkommen von Massenmedien zusätzlich brisant. Die Frage dreht sich hier klar darum, was denn „das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ noch ausmache (7.). Sowohl in den skizzierten Verwendungen von Kunst als gestaltendes Mittel des Alltags, wie auch in Benjamins Text über das Kunstwerk formuliert sich die Hoffnung der Verwendung von ehemals privilegierten Verfahren für eine breite Masse. In diesem Zusammenhang ist der Text von Benjamin faszinierend und bietet sich an, um die Krise der (bürgerlichen) Kunst sowie ihre teilweise dialektische Aufhebung in der Massenkultur nachzuvollziehen.
Das gesellschaftliche Potential hingegen, das hierbei hinsichtlich der damals neuen Medien (Fotographie, Radio) mitschwingt, mag zwar durch seine Geschichtlichkeit auch für heute interessant sein, angesichts der Apologeten der Neuen Medien. Aber der emphatische Glaube, dass neue Medien nicht nur eine technische Neuerung, sondern gleich auch eine revolutionäre Transformation mit sich bringen würden, ist idealistischer Bockmist.
Dennoch verschwindet die bürgerliche Kunst angesichts der kapitalistischen Massenkultur nicht.
Damit geht die These einher, dass solche Kunst durch die beginnende Massenkultur nun doppelt ins „Reich des Zweckfreien“ verdammt würde. Das wird durch den Text von Marcuse (8.) genährt.
Fragen lässt sich in dem Zusammenhang also, welche Veränderung im Verhältnis zwischen proletarischer Gegenkultur und der Kunst eingetreten ist, wenn der Kapitalismus nunmehr seine eigene Massenkultur zum Massstab von Öffentlichkeit und herrschender Ideologie gemacht hat.
Den Text von Marcuse haben wir auch deswegen ausgewählt, da er den Übergang zur Massenkultur als neuer herrschenden Kultur auf den Punkt bringt: „Herrschaft hat ihre eigene Ästhetik, und demokratische Herrschaft hat ihre demokratische Ästhetik.“
Mit einem solchen Verständnis von Massenkultur, die durch das Kapital verwertet und angeboten wird, erschliessen sich die Texte über die Kulturindustrie (9.) oder die „Gesellschaft des Spektakels“ (10.) von neuem.
Dialektisch sind wir gleichermassen zu einer Aufhebung sowohl bürgerlichen Kunstverständnisses wie auch proletarischer Gegenkultur gekommen: Die Massenkultur beherrscht und umschmeichelt uns heute alle: den Einzelnen wie auch die Milieus und Szenen. Für jeden hat sie das, was er verlangt, als Ware im mehr oder weniger stark verpacktem Gewand mit entsprechendem Preis.
Wir bezweifeln dennoch, dass ihr Siegeszug abgeschlossen ist. Aus diesem Grund haben wir auch an den Schluss des Readers den Text von Boal (11.) gesetzt, der über 50 Jahre nach dem Proletkult zu verblüffend ähnlichen Schlüssen wie dieser gelangt.
Dass die Diskussion an diesem Punkt der Geschichte nicht fertig ist, ist uns bewusst. Es gäbe sicherlich noch viele weitere Bespiele aus den letzten 40 Jahren, ähnliche Momente, in denen sich gegen die Massenkultur eine subversive Eigenkultur der Massen manifestiert. Einige sind uns auch bekannt. Nur fallen diese sporadisch aus, tauchen nur punktuell auf, und selten bis gar nie im Zusammenhang mit revolutionären Bewegungen. Möglicherweise liegt es – wieder eine These – auch an der Kluft zwischen diesen beiden Bewegungen, die sich lieber voneinander abgrenzen und auf ihr sicheres Terrain stellen. Dass die revolutionäre Bewegung wie auch das Bedürfnis nach kreativer Aneignung selten zueinanderfinden, ist aber auch Zeugnis der erfolgreichen Spaltung in die verschiedenen Milieus und Szenen, ein weiterer Charakterzug der Kulturindustrie als Populärindustrie.
Wir halten es für Unsinn, eine Spaltung zu betreiben, indem wir das Revolutionäre der Politik und das Kreative der Kunst zuordnen, um diese scheinbar unvereinbar gegeneinander antreten zu lassen. Wir wollen mittels dieser Texte die Mittel allgemein verfügbar machen, damit ein(e) jede(r) selbst oder gemeinsam mit uns ein Verständnis von Kunst und Revolution entwickeln kann, das nicht auf jenen Vorstellungen beruht, die uns die Massenkultur so gerne verkauft.
Egal ob das Gegenüber nun wie in unseren vier Beispielen amerikanische Kapitalisten, russische Bürokraten, spanische Faschisten oder brasilianische Polizisten waren, proletarische Gegenkultur vereinte jeweils die revolutionäre Bewegung wie auch das Bedürfnis nach massenhafter Aneignung des Bereichs kreativer Tätigkeit. Daraus erschliesst sich für uns, dass es innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung immer einen Teil gab und gibt, der nicht nur die Fabriken, sondern auch die Musik und das Theater übernehmen will – der nicht nur auf die Barrikaden geht, sondern dabei auch musiziert und tanzt – der in einer Lesung eben so wenig still bleiben will wie am Fliessband oder im Büro – jener Teil, der auf keinen Fall bloss Zuschauer sein möchte: weder angesichts eines Films, noch angesichts seines Lebens.
Rosemont, Franklin: Joe Hill. The IWW and the Making of a Revolutionary Workingclass Counterculture. 2003, Chicago.
Arvatov, Boris: Kunst und Produktion. Entwurf einer proletarisch-avantgardistischen Ästhetik (1921-1930). Neuauflage. 1972, München.
Kerschenzew, Platon Michailowitsch: Das schöpferische Theater. Neuauflage. 1980, Köln.
Tretjakov, Sergej: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts. Neuauflage. 1972, Hamburg.
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. 1974, Frankfurt a.M.
Baxmeyer, Martin: Das ewige Spanien der Anarchie. 2012, Berlin.
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 1963, Frankfurt a.M.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. 1967 Neuwied und Berlin.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philsophische Fragmente. 1969, Frankfurt a.M.
Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. 1996, Berlin.
Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. 1989, Frankfurt a.M.
* Beim vorliegenden Text handelt es sich um die Einleitung des Readers zum Diskussionszyklus «Kunst/Revolution» der Gruppe Konverter in Zürich. Die Diskussionen finden jeden letzten Samstag des Monats statt und stehen für alle offen. Weitere Informationen dazu sowie der vollständige Reader sind hier zu finden: https://konverter.wordpress.com/kunstrevolution-diskussionszyklus-und-reader/.
Franco Bellettini
Was auffällt ist das die sogenannte Kunst den Platz
einer politischen Bewegung einnimmt , statt eine zu
begleiten . Zürich nimmt da sicher einen Spitzenplatz
ein . Die achtziger Bewegung wurde so aufgesogen ,
befriedet . Der Anspruch libertär , anarchistisch
oder subversiv zu sein ist , höflich ausgedrückt , sehr
problematisch .Ihr seid ein Teil der Zürcher Soziokultur und ihrem integrativen Charakter . Und natürlich ihren informellen und undurchsichtigen hierarchischen Strukturen . Wichtiger als die xte Kunsttheorie wäre es die Funktion dieses Spektakels
zu thematisieren . Subversiven Mut zu beweisen , und
das eigene Nest zu beschmutzen .
Gruppe Konverter
Danke für deinen Kommentar. Wir sehen das ähnlich wie du, wie wir oben ja auch ausführten. Jede proletarische Bewegung muss den Begriff der “Kunst” hinter sich, aber zugleich die eigene Kreativität zulassen. Wie beschrieben, sind wir ein Laienkollektiv aus Überzeugung, d.h. wir bieten dem Milieu der angehenden Kunstschaffenden keinerlei Perspektive. Im Gegenteil, ist unser Verhältnis zu jenen Kunstschaffenden von Feindschaft gekennzeichnet. Ob Jede/r, die ein Gedicht schreibt, ein Lied singt oder sich kollektiv zusammen schliesst, um die eigene Vereinzelung auch in solcher Kreativität aufzuheben, bereits Teil eines affirmativen oder integrativen Verhältnisses gegenüber den herrschenden Zustände ist, wagen wir daher zu bezweifeln. Im Gegenteil war die proletarisch-revolutionäre Bewegung dort am Stärksten, wo sie nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch kreativ sich anschickte, die Kontrolle zu übernehmen.
Franco Bellettini
Noch zwei ” Gedichte ” zum Begriff Avantgarde
Die Avantgarde 68 ?
das waren Ho Chi Minh , mao
und Che Guevara Plakate neben
Klassikern wie Marx und Engels
Lenin und Trotzki
und die einer
Rosa Luxemburg
begleitet durch ein
wenig Wahrhol Banalitäten
und Dalis Schnickschnak
in den Postern der
Rolling Stones
krachte der Rhythmus
der Revolte , sie waren
unsere ” Kunst ”
der Rest mottet bis heute
in Akademien und Museen
also in Mausoleen
vor sich hin
*
Die Rockmusik mit ihren
schwarzen Wurzeln
war die Avantgarde der Sechiger
sie war der Vorlauf
die Vorhut von 68
Dada , Futurismus und
co. waren nur Reaktionen
also die Nachhut
eines ent
täuschten bürgerlichen
Bewusstseins
es weckte kein Begehren
auf eine selbst zu gestaltende
Zukunft
*
Die Rockmusik liess
das metaphysische Gehabe
der Kunst sinnlich
zerdröhnen
und stellte sie als Kollektiv
revoltierndes Bewusstsein
her
*
Ausserhalb dieser historischen
Momente ist Kunst nur
Dekoration und die
Massenkultur hat im besten
Fall unterhaltungswert
der sogenannten Hochkultur
geht das auch noch
ab
Franco Bellettini
Das zweite
Die Avantgarde die
sie meinen
nannte Joseph Beuys
einen Hasen
und zelebrierte
bestenfalls
seine Totenmesse
und macht weiter
mit ihren mittelalterlich
alchemistischen
Vorstellungen
in einem
mit viel Glück
vergoldeten Rahmen
Avantgarde ist nur
durch durch das Wort
dem Sound der Revolten
genügte
das Volkslied der
Blues
mit einem Elektrokabel
und Rhythmus
bewaffnet jagten
sie richtung Aufstände
war vsie die Avant
garde
die Vorhut