Ein Gespräch mit dem englischen Menschenrechtsanwalt Raj Chada
In der Schweiz sind Klimaaktivist:innen verurteilt worden; in Deutschland werden sie gar als kriminelle Vereinigung eingestuft. Die Repression gegenüber Protesten nimmt zu. In Grossbritannien geht das einher mit einem grundsätzlichen Angriff auf die Menschenrechte. Laut dem Menschenrechtsanwalt Raj Chada drückt das eine grundsätzliche Krise der britischen Gesellschaft aus.
Mit Raj Chada sprach Stefan Howald in London
Soeben ist die so genannte «Public Order Bill» vom britischen Parlament verabschiedet worden, die angeblich zum Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung Einschränkungen des Demonstrationsrecht vorsieht. Was bedeutet das politisch?
Diese neuen Einschränkungen sind durch Dominic Raab vorbereitet worden, der als einer der schlechtesten Innenminister der letzten Jahrzehnte gilt und wegen Bullying von seinem Amt zurücktreten musste. Das neue Gesetz ist für mich selbst systemisch fragwürdig. Wie kann damit der britische «Human Rights Act», der Menschenrechte garantiert, eingeschränkt werden, solange wir noch die Europäische Konvention für Menschenrechte unterzeichnet haben? Die dort verbrieften Rechte, etwa das Demonstrationsrecht, sind immer noch gültig, und man kann immer noch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gehen, um sie einzufordern. Die neuen Einschränkungen machen einfach alles langwieriger, was vermutlich beabsichtigt ist.
Aus der Konservativen Partei werden immer wieder Stimmen laut, die fordern, Grossbritannien solle die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aufkündigen. Könnte so etwas tatsächlich geschehen?
Ich weiss es schlichtweg nicht, die Dinge entwickeln sich so schnell. Vor zwei oder drei Jahren hätte ich Nein gesagt, weil es wirklich unvorstellbar war – nur Kosovo und Russland sind nicht Mitglied der Konvention. Bei der kürzlichen Krönung von Charles III wurden fünfzig Protestierende, die sich mit ein paar Bannern gegen die Monarchie aussprechen wollten, von der Polizei präventiv verhaftet. Dass jemand im heutigen England verhaftet werden kann, weil er ein Plakat mit der Aufschrift «not my king» hochreckt, ist ziemlich erschreckend.
Eine bestimmte Gruppe unter den Tories hat eine Obsession mit Europa und der EMRK. Da wird geredet, wie es selbst unter Margaret Thatcher unvorstellbar gewesen wären. Die Rhetorik dieser Leute zur Fluchtbewegung über den Kanal ist rassistisch, und ihre Verteufelung von AnwältInnen, die die Menschenrechte verteidigen, ist gefährlich.
Würde ein Austritt aus der Menschenrechtskonvention Ihre Arbeit konkret beeinträchtigen?
Ja, massiv. Ich verteidige viele Protestierende. Wir stützen uns dabei auf die Artikel 10 und 11 der Menschenrechtskonvention. Vor zwei Jahren sind wir damit vor den Obersten britischen Gerichtshof gegangen, um das Verhältnis von Kriminalstrafrecht und Menschenrechten zu klären.
Es handelte sich um vier Angeklagte, die vor einer Waffenmesse protestiert und dabei die Zufahrt von Lastwagen behindert hatten. Sie wurden wegen geringer Vergehen angeklagt, vor allem wegen eines Verstosses gegen die Strassenverkehrsordnung. Doch erstinstanzlich wurden sie freigesprochen, weil der Einzelrichter befand, sie hätten ihr Demonstrationsrecht wahrgenommen, und dieses sei abzuwägen gegen die Unannehmlichkeiten, die sie anderen Personen bereitet hätten. Ein Recht habe nicht automatisch Vorrang vor einem andern, sondern man müsse jeweils abwägen, und in diesem Fall sei die Demonstration nur kurz, symbolisch und friedlich gewesen und deswegen durch das Demonstrationsrecht abgesichert.
Der Entscheid ist zweitinstanzlich gekippt worden, wir haben dagegen Berufung eingelegt, und schliesslich landet der Fall vor dem Obersten Gericht, und das entscheidet, ja, der erstinstanzliche Richter hat richtig geurteilt, indem er Rechte gegeneinander abgewogen hat. Eine Strasse samt Gehsteig diene nicht nur Automobilistinnen oder nur Fussgängern, sondern sei ein öffentlicher Raum, der vielerlei Interessen erfülle. Grundsätzlich sei diese Abwägung von Interessen richtig und wichtig
, und jemand könne nur verurteilt werden, wenn es wichtige Gründe gebe, den Artikel 10 zur Meinungsäusserungsfreiheit hintanzustellen. Dieses Prinzip des Abwägens verschiedener Rechte ist bislang niemals so deutlich festgehalten worden, und es basiert auf der EMRK.
Das Urteil hat uns als Grundlage für verschiedene Verteidigungen gedient, etwa auch im Fall jener Protestierenden, die die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol ins Meer gekippt haben.
Bis jetzt können, und müssen, Sie sich in jedem einzelnen Fall darauf berufen?
Ja. Wir sagen, dieser Urteilsspruch ist anwendbar auf alle Protestaktionen. Wir haben damit geringere Vergehen wie Behinderung des Strassenverkehrs durch KlimaaktivistInnen oder Sachbeschädigung wie im Fall der Colston-Statue, oder das Nichtbeachten von Anweisungen der Polizei bei Demonstrationen verteidigt. Wir haben gesagt, das Urteil muss verhältnismässig in Bezug auf die Konvention sein. Aber der Justizapparat hat das nicht goutiert. Deshalb hat das Appellationsgericht, das gegenwärtig konservativer als das Oberste Gericht ist, die Anwendung des Prinzips eingeschränkt. Die Appellationsrichter haben gesagt, es gilt nur für ganz bestimmte Fälle. Deshalb findet gegenwärtig ein Kampf zwischen dem Establishment, Regierung, Polizei, konservativer Justizapparat usw., und denjenigen, die bestimmte Entscheidungen des Establishments bestreiten, statt. Und dieser Kampf findet überall statt, im Strafrecht, in der Rechtsprechung zur Migrationspolitik, in juristischen Untersuchungen zu Regierungsentscheiden.
Woher kommt diese Feindseligkeit gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und der Menschenrechtskonvention.
Sie hängt sicherlich mit der ganzen irrationalen Abneigung gegenüber der EU zusammen, ist aber im Fall der Menschenrechtskonvention besonders grotesk, weil die ja von Winston Churchill angestossen und massgeblich von britischen JuristInnen ausgearbeitet worden ist. Die Ablehnung geschieht zum Teil schlicht aus Ignoranz, aber es gibt natürlich auch gezielte Versuche, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die EU in den selben Topf zu werfen.
Dazu kommt ein weiterer spezifischer Grund: Die Exekutive will sich nicht in ihr Geschäft dreinreden lassen. Alle konservativen Regierungen der vergangenen Jahre haben sich gegen alles gewehrt, was ihre Macht einschränken könnte: Juristische Überprüfungen umstrittener Massnahmen, Kontrolle durch das Parlament sowie Versuche, die Exekutive mehr zu beaufsichtigen. Die Exekutive will sich nicht kontrollieren lassen, und wir versuchen genau dies zu tun.
Tatsächlich hat gerade das oben erwähnte Urteil des Obersten Gerichtshofs viele jener Vorhaben der konservativen Regierung veranlasst, die eben gerade das Demonstrationsrecht und andere Rechte einer öffentlichen Auseinandersetzung einschränken wollen.
Wo stehen Sie heute in diesem Kampf?
Als Menschenrechtsanwälte führen wir zur Zeit einen Guerillakrieg, indem wir versuchen, die Folgen dieser konservativen Agenda zu neutralisieren. Darin hat die letzten zwei Jahre unsere Hauptarbeit bestanden: die Menschenrechtskonvention aufrechtzuerhalten, gegenüber den Angriffen der Regierung und eines Teils des Justizapparats.
Ihre Anwaltspraxis Hodge Jones & Allen ist eine der führenden Firmen in diesem Bereich. Wie funktioniert das?
Für unsere Vertretung von Angeklagten bekommen wir als Pflichtverteidiger staatliche Unterstützung. Aber die entsprechenden Gelder sind seit 2017 eingefroren, trotz aufwändigerer Arbeit und trotz Inflation. Wir tun, was wir können, aber es wird immer schwieriger. Zudem sind die Arbeitszeiten für VerteidigerInnen stressig, dazu kommen die Angriffe durch die Regierung und in der Presse, wenn von einer «Menschenrechtsindustrie» gesprochen wird, die schnelle Entscheide verhindere. Deshalb verlassen viele AnwältInnen den Strafrechtsbereich und wechseln ins lukrativere Zivil- oder Wirtschaftsrecht. Ich finde für unsere komplizierten Fälle kaum mehr VerteidigerInnen.
Unterstützt die Labour Party Ihren Guerillakampf?
Der Labour-Vorsitzende Keir Starmer kommt als Anwalt ironischerweise von den Menschenrechten her. Aber leider verteidigt Labour diese Rechte zu wenig, und es besteht die Gefahr, dass einfach die bisherige konservative Position übernommen wird. Dann sähe es für eine demokratische Politik in England ziemlich düster aus.
Das gilt allerdings für den ganzen öffentlichen Dienst, ja die ganze Gesellschaft. Nichts scheint mehr zu funktionieren. Das Gesundheitswesen steckt in der Krise, die Schulen, das Justizsystem. Ich habe, sicherlich seit 1992, keine Zeit gekannt, in der es so schlecht um uns stand. Man kann halt nicht zehn, zwölf Jahre eine strikte Austeritätspolitik verfolgen, den Bruch mit der EU vollziehen, dann kommt noch Covid hinzu, und trotzdem so tun, als würde alles gleich wieder funktionieren.
Nach der Niederlage 1992 konnte man auf eine sich erneuernde Labour Party hoffen, die zumindest den öffentlichen Dienst wieder besser ausstatten würde. Tony Blair bot, bei all seinen Fehlern, ein Narrativ des Fortschritts an. Diese allgemeine Stimmung spüre ich heute nicht mehr.
Selbst innerhalb des NHS, der doch weiterhin als grundlegende soziale Errungenschaft gilt, scheint das Vertrauen nicht mehr vorhanden zu sein, er könne seine Aufgabe weiter erfüllen.
Ja, die AssistenzärztInnen streiken, die PflegerInnen streiken, und sogar die Oberärzte streiken. Es zerbröselt alles. Man kriegt keinen Termin mehr in der lokalen Arztpraxis, wirklich nicht. Das Ganze sollte als Triage funktionieren, aber wenn sie keinen Termin in der Arztpraxis kriegen, gehen die Menschen halt in die Notfallaufnahme, die noch mehr überlastet wird als bisher. Mittlerweile beginnen ApothekerInnen, medizinische Untersuchungen für 100 Pfund anzubieten. Das Solidaritätsprinzip des NHS wird weiter erodiert. Dazu kommen die Schwierigkeiten in der Sozialbetreuung. Es gibt keine übergeordnete Strategie, keine Ideen, wie man den Gesundheitsdienst im 21. Jahrhundert neu aufstellen könnte.
Das ist der Unterschied zum Aufbruch nach 1992, dass es weder in der Politik noch in der Verwaltung irgendeinen Ansatz gibt, der uns mit Zuversicht erfüllen könnte.
Das gilt wohl auch für Labour?
Ich glaube, die Labour-Führung ist paranoid, sie fürchtet, sie könnte die nächsten Wahlen erneut verlieren. Und sie ist entsprechend gespalten bezüglich ihrer Strategie. Zudem tut man sich schwer, mit dem Erbe von Tony Blair und Jeremy Corbyn umzugehen.
Keir Starmer hat die Partei von allen ehemaligen AnhängerInnen von Corbyn gesäubert.
Ja, das war brutal, sehr brutal. Die AnhängerInnen Corbyns sind an den Rand gedrängt worden. Aber die neue Führung hat kein Mittel gefunden, die Mitglieder erneut zu mobilisieren. Uns spüren zu lassen, dass Labour etwas Neues repräsentiert. Die Partei hat jeden Sinn dafür verloren, wofür sie eigentlich steht.
Mir fällt keine einzige substanzielle, begeisternde Idee von Starmer ein.
Wenn man bei den Wahlen 1997 an der Haustür Werbung für Labour machte, konnte man auf die geplante Regionalisierung, den Mindestlohn, die zusätzlichen Gelder für den NHS hinweisen, womit wir endlich auf kontinentaleuropäischen Standard kommen sollten. Ich weiss nicht, was AktivistInnen heute sagen könnten. So besteht das Risiko, dass es bei einem Wahlsieg einfach eine Fortführung von Rishi Sunaks Politik geben wird.
Es geht nicht mal darum, dass man zu solchen Massnahmen wie der erneuten Verstaatlichung von Betrieben der Grundversorgung, also der Bahnen oder des Energiesektors, zurückkehrt. Sondern es geht darum, wie man die Verheerungen der jahrzehntelangen Austeritätspolitik korrigiert. Der Lebensstandard unserer Kinder wird – vermutlich erstmals seit dem Krieg – niedriger sein als der ihrer Eltern.
Gibt es hoffnungsvolle Bewegungen jenseits von Labour, sei es innerhalb oder ausserhalb des parlamentarischen Systems?
Ich glaube, Politik vollzieht sich in Wellenbewegungen. Es wird sicherlich eine neue Generation geben, ich hoffe, innerhalb der Labour Party, und sonst halt ausserhalb. Sie wird sich um eine links-grüne Achse drehen müssen.
Warum haben die Grünen bisher den Durchbruch nicht geschafft? In den meisten europäischen Ländern sind sie längst im Mainstream angekommen. Liegt ihre Schwäche in Grossbritannien nur im Majorzsystem bei den Wahlen begründet?
Das ist sicherlich der Hauptgrund. Doch die Grünen sind bislang nie als glaubhafte Alternative wahrgenommen worden. Sie sind Aussenseiter geblieben. Die Grünen sind stark in Brighton and Hove und in Bristol und ein paar anderen Gebieten. Aber ich glaube, sie benötigen bessere Leute. Wir brauchen Leute, die strategisch denken können. Die Grüne Partei hat mit Caroline Lucas eine der besten Parlamentarierinnen, die ich kenne, kompetent, beredt, sympathetisch. Aber sie tritt nächstes Jahr zurück, und ich sehe niemanden, der ihr nachfolgen kann.
Es gibt eine Generation, die sich verraten fühlt. Die Jungen traten in den Nullerjahren, als sie Mitte zwanzig waren, in die Labour Party ein und rückten die Partei nach links. Diese Generation fühlt sich von Labour verraten wegen des Irakkriegs und von den Liberaldemokraten, weil die in der Koalitionsregierung von 2010 ihr Versprechen brachen, sich gegen Studiengebühren einzusetzen. Meines Erachtens sind diese Menschen immer noch politisch interessiert, aber sie haben im Moment keine Stimme. Dazu kommen die jungen Berufstätigen und die jungen DoktorInnen, die streiken – dass Doktoren streiken, ist schon beinahe eine Revolution
Auch der Verband des Pflegepersonals hat ja erstmals seit seiner Gründung vor über hundert Jahren zum Streik aufgerufen.
Ja, auch die PflegerInnen streiken. Aber bei den Doktoren ist es noch was anderes, weil die reich sind – okay, nicht alle sind reich und nicht übermässig, aber manche von ihnen kommen aus wohlbehüteten Umständen. Deshalb hat die rechtsradikale Boulevardzeitung «Daily Mail» auch widerliche Kampagnen gegen einige dieser «Nestbeschmutzer» geführt.
Der Grund, weshalb sie streiken, liegt in einer Lüge, die man ihnen aufgetischt hat: Man hat ihnen ein besseres Leben versprochen. Aber die Gesellschaft ist nicht so, wie es ihnen versprochen worden ist. Das hängt zusammen mit den steigenden Kosten fürs Wohnen, mit den nachwirkenden Schulden aus den Studiengebühren, mit all den dysfunktionalen Entwicklungen der letzten 30 Jahre, um die sich niemand gekümmert hat. Deshalb gibt es eine Marktlücke im politischen Spektrum, diejenigen, die jetzt um die 40 Jahre alt sind. Zum Teil auch jüngere mit ihren grünen Anliegen. Ich weiss bloss nicht, welche politische Kraft dies ausnützen wird.
Raj Chada
1973 in einer indischstämmigen Familie geboren, ist Raj Chada Strafverteidiger in der Anwaltspraxis Hodge Jones & Allen, wo er die Abteilung für Strafrecht und Korruptionsbekämpfung leitet. Er hat sich auf Fälle spezialisiert, in denen die Zivil- und Menschenrechte von Demonstrierenden verletzt werden. So hat er viele Aktivist:innen der Bewegung Extinction Rebellion verteidigt, ebenso wie Protestierende gegen eine Erweiterung des Flughafens Stansted, Black Lives Matter-Aktivist:innen und Demonstrant:innen, die die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol vom Sockel ins Meer stürzten.
Als Labour-Politiker wurde Chada 2002 in den Bezirksrat von Camden in London gewählt, wo er schnell zum Verantwortlichen für Wohnbau ernannt wurde. 2005 wurde er Bezirksratsvorsitzender. 2006 verlor er seinen Sitz an die Konservativen. 2015 versuchte er, für die nationalen Wahlen als Kandidat für den Wahlkreis Camden nominiert zu werden, unterlag aber Keir Starmer, dem jetzigen Vorsitzenden der Labour Party.