“To praise the glorious future and the hopeless past.”
Father John Misty, Leaving L.A./Pure Comedy
“The old tyrants invoked the past; the new tyrants will invoke the future“
Gilbert Keith Chesterton
I Die ideologische Schliessung der Zukunft
«Wir müssen die Vergangenheit vergessen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.» rief kürzlich ein Leitungsmitglied einer schweizerischen Hochschule ins virtuelle Auditorium einer Tagung. Um den Grad der Ideologisierung des Begriffs der Zukunft zu ermessen, ist es hilfreich, sich die Statements und Begrifflichkeiten jener Führungspersonen anzuhören, deren beruflicher Erfolg nicht mehr nur vom Bekenntnis zur Offenheit für die Zukunft, sondern von ihrer rechtzeitigen Antizipation abhängig scheint. Zukunftsforschung als etablierte Zunft, Phrasen wie die von der Zukunft, die nicht wartet und für die man gerüstet sein muss, sowie die Rede von den Megatrends, die angeblich die Zukunft bestimmen, verraten den Charakter der ideologisierten Zukunft: Sie ist nicht der Raum des Unbestimmten, den wir nur ahnen können und nie zu sehen bekommen, sie ist vielmehr unser sicheres Schicksal, das auf bereits verlegten Bahnen heranfährt.
Im Manifest des Zukunftsinstituts, dessen Leiter der bekannteste deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx ist, lesen wir: «Wir erkennen, benennen und beschreiben die Zukunft (…) Unsere Erkenntnisse erhöhen die Zukunftskompetenz (…) Wir wirken, indem wir frühzeitig erkennen.» Hauptinstrument aller Zukunftsforschung sind die «Megatrends». Ein populärer Zukunfts-Guckkasten, der Einlass findet in beinahe jedes Entwicklungspapier grosser Institutionen. Megatrends sind laut Zukunftsinstitut die «Blockbuster des Wandels». Genannt werden auf der Website die folgenden 12: «Gesundheit, Gender shift, Globalisierung, Konnektivität, Individualisierung, Mobilität, New Work, Neo-Ökologie, Sicherheit, Urbanität, Silver Societey, Wissenskultur.» Bei der Arbeit mit Megatrends «geht es um die Beobachtung langfristiger Entwicklungen mit grosser Relevanz für alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, die sich mit hoher Verlässlichkeit in die Zukunft ‘verlängern’ lassen». Megatrends werden also nicht erfunden oder ausgerufen, «sie sind das konzentrierte Ergebnis der systematischen Beobachtung, Beschreibung und Bewertung neuer Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Trends zu analysieren bedeutet immer auch, frühzeitig ihre Auswirkungen zu benennen.» (zukunftsinsitut.de, 2021) Nur: Den Megatrend Kapitalakkumulation und Kapitalkonzentration sucht man vergebens, weil er kein Trend ist, sondern der Zweck, für den die Trends arbeiten oder der See, in die sie alle fliessen sollen. Denn wahr am vermeintlichen Wissen über die Zukunft ist ja nur, dass diese immer schon tausendfach kapitalisiert und auf späteren Gewinn verwettet ist, was gleichzeitig auch den Grad des Unwahren anzeigt. Denn zu jeder Wette gehören die Verlierer:innen, für die es anders kommt.
Zukunftsforschung und Wahrsagerei gleichen sich darin, dass sie sich weder um die Gegenwart noch um die Vergangenheit scheren. Entscheidend ist allein das sichere Wissen um die Zukunft. Wer es besitzt, hat die Macht über diejenigen, die sich nur um den heutigen Tag plagen oder sich zurückwenden, weil ihnen vorne nichts mehr winkt. Es gilt die Formel: Je mehr Zukunft, desto weniger Vergangenheit, je weniger Zukunft desto wichtiger die Vergangenheit. Weil für viele vorne alles zu ist, geht ihre Kreativität nach hinten los. Sie klammern sich an alte Traditionen oder – was öfter der Fall ist – sie erfinden sie neu für ihre eigene Vergangenheit, für ihren eigenen Rückraum der Freiheit, den sonst niemand mehr haben will. Das Thema, das die Kulturzeitschrift «lettre international» zur Jahrtausendwende für einen europäischen Essaywettbewerb ausschrieb, mutet heute wie eine Handlungsanweisung an beide Gruppen an – die Zukunftsfähigen und die Zukunftsunfähigen: «Die Vergangenheit von der Zukunft befreien. Die Zukunft von der Vergangenheit befreien.»
Im Mantrastil vorgebrachte Slogans wie «Zukunft ist machbar», oder die Rede von der «Zukunftsfähigkeit oder -kompatibilität» und der «Zukunftskompetenz» zeigen: Zukunft ist eine Praxis für Expert:innen, ein Mysterienkult für Eingeweihte. Doing future ist Priesterdienst. Aber für welchen Gott?
Die Antwort ist weder originell noch überraschend. Der Zukunftskult wiederholt die aus dem Geist des Kapitalismus hervorgegangene Prädestinationslehre der Neuzeit (vgl. Max Weber 2017). Der seltsame Widerspruch zwischen einer Zukunft, die offenbar unerbittlich daherkommt und der Möglichkeit, sich mit den richtigen Handlungen, zukunftsgemäss zu verhalten, beziehungsweise zum Vorreiter und Vorbereiter dieser Zukunft zu werden, wiederholt jenen der calvinschen Prädestinationslehre, wonach das bereits entschiedene jenseitige Heil, sich durch permanente Anstrengung schon im Diesseits zeigen kann. Genauso wie dort gilt, dass das im Jenseits schon Feststehende immer mehr dazu antreibt, sich seiner jetzt schon zu versichern, sich seiner würdig zu erweisen und dass dieser Glaube die Leute zweiteilt in jene, die von sich sagen können, dass sie alles Erdenkliche getan haben und daher ihnen der Erfolg anzeigt, auf dem richtigen Weg zu sein und in jene, von denen man sagen kann, dass ihr schlechter diesseitiger Zustand ihre ewige Verlorenheit anzeigt. Genauso gewinnt ja die Zukunft nur, wer sich ihr anpasst, was wiederum nur jenen gelingt, die bereits die Gegenwart beherrschen und es haben diejenigen die Zukunft bereits immer schon verloren, die jetzt schon verloren sind.
Dadurch etabliert sich die Vorstellung eines gnadenlosen Laufs der Zeit, der sich viele der hier und jetzt anwesenden Menschen und Lebensweisen in Zukunft nicht mehr leisten kann. Dies ist auch der existentielle Grund für die tiefe Liebe zum Neuen in der Gesellschaft. Wer es mitmacht, wer es sich kauft, hat Teil an der Zukunft, hat ein Stück Heil erfahren, ist aber gleichzeitig eingetreten in seinen unerbittlichen Entwertungssog. Wenn immer nur das Neue gut ist, dann ist das Gegenwärtige immer das Ungenügende, was eine endlose Reform- und Innovationskette in Gang setzt, aus der nur schwer herauszukommen ist. Der in allen Prozessen kapitalistischer Produktion automatisierte Drang nach dem immer Neuen, der keinen Wert in der Erhaltung des Vorläufigen, Unabgeschlossenen, Imperfekten sieht, sondern erst im Ende von allem zum Stehen kommt, erweist sich als Motor von Abfall und Verfall. Zudem kommt das Neue stets schneller als man hoffen kann, denn Hoffnung setzt eine wenigstens in Teilen statische, mangelhafte Gegenwart voraus, die gestaltet und ausgehalten und nicht einfach nur durchschritten und hinter sich gelassen werden muss. Nur wo die Zeit stehen bleibt, kann Hoffnung reifen und nur insofern könnte die Gegenwart jene spannungsvolle «Jetztzeit» sein, in die nach dem Wort von Walter Benjamin, auch die «Splitter der messianischen» Zeit bereits eingesprengt sind (1991, 704). Denn «auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten.» (Ebd.)
Weil aber in der Neomanie der ideologischen Zukunft das Neue immer vor der Zeit da ist und insofern selten das lang Ersehnte, sondern das Aufgedrängte ist, ist die ständige Anpassung ans Neue ein wiederholter Akt der Entfremdung. Diese kann aber durch den Trick aufgehoben werden, dass man versucht, das Kommende zu antizipieren, sich im Geiste mit dem, was unweigerlich Tatsache werden wird, bereits heute gemein zu machen, um es dann zwar nicht als das Erhoffte, aber als das unumstösslich Kommende zu begrüssen. Womit das Denken auf permanente Antizipation und das Handeln auf präventive Anpassung gerichtet werden muss; was wiederum nur Sinn macht, wenn das Neue stets nach denselben Gesetzmässigkeiten produziert wird, bzw. Innovation sich in den bereits berechneten Verkaufserwartungen bewegt.
Aber ob das Neue als das freudig Vorhergesagte oder als das Angedrohte und Befürchtete kommt, ist dem antizipierenden Bewusstsein im Grundsatz einerlei. Es versucht nur, sich schadlos zu halten, indem es sich möglichst mit den Ersten zum Künftigen schlägt. Diese Indifferenz mündet in Martin Heideggers Zeit-Philosophie in die Parteinahme für das finale Ende. (vgl. Heidegger 2014, 186.) Wenn das Leben, so Heidegger, nichts weiter als ein «Vorlaufen zum Tod» (Heidegger 1974, 339ff.) ist, dann ist das eigentliche Ziel jeder Zukunft der Tod und dann hat der die besten Karten, der sich dem Tod angleicht, das heisst, so lebt als wäre er schon tot oder im Namen des Todes auftritt bzw. über Tod und Leben verfügt – den eigenen oder den der anderen. Die Zukunft, als ein vorne geschlossenes System, wird bei Heidegger zur «ideologischen Waffe des Todes» (vgl. Hinkelammert 1985), die jener am besten führt, der es versteht, sich in einer regressiven Bewegung wieder dem Ursprünglichen, als nie der Zeit verfallenem Sein, anzunähern. «Wo Heidegger Zukunft, der er immer wieder den Vorrang unter den Zeitdimensionen zuweist, im eigentlichen Sinne denkt, handelt es sich immer um geschlossene Zukunft. Die Spezifik der ‘ursprünglichen Zukunft’ liegt gerade darin, dass sie das ‘Seinkönnen schliesst’, das heisst, selbst geschlossen ist.» (Susanne Lettow 1999, 340) Als ganz der Zeitlichkeit enthoben erweist sich stets das Abstrakte, weshalb für die Zukunft vor allem recht behält, wer dieser möglichst alles Besondere, Konkrete und Stoffliche austreibt. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich daher jene Zukunfts-Konzepte, die nicht mehr versuchen, die Unwägbarkeiten einzugrenzen, sondern diese selber zum umfassenden Abstraktionsprinzip machen, indem sie die Volatilität von allem zum Naturgesetz und Adaptivität und Agilität zur Lösung für alles erklären. Willkommen in der VUCA-Welt (vuca-welt.de 2021).[1]
II Vergangenheit für Verlierer:innen
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Ob Heidegger und seine Adepten Geschichte ausser Dienst setzen, religiöse Systeme versuchen, die Verheissungen in Gewissheiten umzudeuten, ob Fortschrittsideologien Probleme nur unter dem Aspekt ihrer Beseitigung analysieren, ob naturwissenschaftliche Welterklärungen wie der Evolutionismus die Menschheitsgeschichte nur nach den ewig gleichen Gesetzen fortschreiben lassen oder ob ökonomische Theorien nur in Zyklen denken, gemeinsam ist allen diesen Geschichtsphilosophien, dass sie die Zukunft nicht als offen, sondern als geschlossen betrachten. Und gute Philosophie, so lernen wir bei den alten Griechen, bringt Nutzen, das heisst, sie lässt sich auch in Gewinne umwandeln. Der Utilitarismus, der jedes ethische Dilemma und jede tragische Situation in einen vorteilhaften Tausch verwandelt, solange er für die Zukunft einen spekulativen Nutzen glaubwürdig machen kann, ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Und jeder kann an der Börse direkt einsehen, welche Zukunftsphilosophie gerade am besten zu Buche schlägt. Start-up-Biotechfirmen treiben in den USA derzeit in der ersten Investitionsrunde 100 – 300 Millionen Dollar auf, insgesamt sind es pro Jahr 100 Milliarden gekaufte Zukunft. Obwohl die kapitalistische Verwertungsmaschine immer schneller dreht und normalerweise die Gewinne sich sofort einstellen müssen, können immer mehr Unternehmen mit riesigen Krediten jahrelang Verluste schreiben. Einziges Kriterium ist der Glaube an ihre Zukunftsträchtigkeit, was bedeutet, dass alles dafür getan werden muss, dass die Zukunft so kommt, wie es die Investor:innen erwarten. Im Silicon Valley scheint dies öfters der Fall zu sein und in Somalia eher weniger. So ist es mit allen Schulden. Wem man glaubt, dass er sie in Zukunft wird bezahlen können, der kann mit Schulden reich werden, wem man es nicht glaubt, geht an ihnen zu Grunde: Credo gibt Kredit. Das viele Geld, womit die Volkswirtschaften seit der Finanzkrise 2008 geflutet werden, ist daher masslos verschenkte Zukunft. Die Sozialdemokratie, die meist dafür einsteht, tauscht damit ein kleines Stück krisenfreie Gegenwart gegen eine zukünftige, endlose Herrschaft der Superreichen. Da unter den Bedingungen des globalen Monopolkapitalismus, letztlich alles Geld bei den Giganten jeder Branche landet. Eine Entwicklung, die eigentlich nur verantworten kann, wer sowieso schon an den nächsten grossen Crash glaubt.
Der Herrschaftscharakter der geschlossenen Zukunft ist offensichtlich. Wer weiss, was die Zukunft bringt, kann sie kapitalisieren, kann sich wappnen, weiss was andere brauchen werden und kann in Gang setzen, was es braucht, dass es auch so kommt, wie man es sich und den anderen weismacht oder er kann wirksame Massnahmen zur Verhinderung des Kommenden ergreifen und sich, wenn nicht eintrifft, was sicher schien, dafür feiern lassen. Und daher befördern alle Schliessungen der Zukunft immer die Teilung der Menschen in jene, die dem Kommenden entsprechen und jene, die es nicht tun. Den Abgehängten und Unterdrückten aber bleibt nur die Vergangenheit in allen ihren zweideutigen Gestalten: der Trauer, der Nostalgie, der belächelten Schürfarbeit nach verschütteten revolutionären Hoffnungen, der Glättung der Erinnerungen, der Reaktion, der Regression und der Romantik. Je mehr Technologieglaube und Sehnsucht nach reiner Natur unvermittelt das öffentliche Bewusstsein prägen
, desto romantischer wird die Gesellschaft. Die Vergangenheit als Abstellraum der Zukunftslosen macht diese noch verdächtiger als sie je schon war. Als zukunftsfähig erweist sich daher im Wissenschaftsbetrieb auch, wer das Vergangene ausschliesslich als das zu dekonstruierende und zu überwindende Falsche betrachtet.
Ohne affirmativen Bezug auf das Vergangene, bleibt nur der Sprung in die Zukunft, der mit grösster Wahrscheinlichkeit in den bereits durchkapitalisierten Räumen des vorwärtsgewandten Forschungs- und Innovationsparadigmas endet. Waren Zukunftserwägungen ehemals durch moralische Kategorien bestimmt, sind sie heute vordergründig vollständig auf die Ebene des Wissens verschoben. Doch sind die Szenarien und Risikoberechnungen nicht immer so objektiv wie sie scheinen, vielmehr verschleiern sie nicht selten die dahinterstehenden Interessen.
Nirgends sind diese Tendenzen besser zu beobachten als in der Klimadebatte und der Klimapolitik. Die hegemoniale Rede vom Anthropozän macht aus der Geschichte der Menschheit eine objektive geologische Kategorie. Sie macht den Menschen zu einem natürlichen Problem für die Natur und verortet die Problematik des Ressourcenverschleisses sehr viel grundsätzlicher in der «Condition humaine» und im Zivilisationsprozess überhaupt als in der Zwecksetzung kapitalistischer Akkumulation. Diese Setzung wirkt sich stark auf die Art der Zukunfts-Forderungen aus. Wenn nicht die Analyse der kapitalistischen Masslosigkeit[2], bzw. der «Verlust des Masses» (Konersmann 2021) seit den neuzeitlichen Anfängen der Verschmelzung von Wissenschaft und Kapital im Zentrum ökologsicher Grundüberlegungen steht, dann hat auch eine den Menschen gemässe Forderung der Rückgewinnung dieses Masses ungleich weniger Kraft als jene nach radikaler Aufhebung der Kategorie Mensch als auf Zivilisation angewiesenes Wesen (der Sprung zurück zum imaginierten reinen Ursprung wie er im Antispeziesismus oder im radikalen Veganismus mitschwingt) oder jene nach der definitiven Abkoppelung der Menschen von ihren natürlichen Grundlagen (der Sprung nach vorn wie er in allen Technologieverheissungen von Biotech über Digitalisierung bis Weltraumfahrt propagiert wird), womit also vorne und hinten die Heideggersche Zeitvernichtungsmaschine fortwirkt. «Denn nicht anders ist aus Geschichte auszubrechen als durch Regression.» (Adorno, 1975, 113)
Die Realitätsdefizite beider Denk-Richtungen sind zwar nicht ohne weiteres mehrheitsfähig. Aber unter dem Aspekt künftiger Kapitalverwertung scheint die Synthese von «Zurück zum reinem Naturursprung» und «von Natur abgelöstem Menschendasein» bzw. von Zivilisations- und Naturfeindlichkeit oder – was auf dasselbe hinausläuft: von Natur- und Technologiefetischismus am erfolgversprechendsten zu sein. Vegane Lebensweise beispielsweise trägt nicht weit ohne die mit allen Wassern gewaschene grüne Nahrungsmittelindustrie und diese kann ihre Produkte ohne den Traum unschuldig-natürlichen Daseins ebenfalls nicht richtig absetzen.
Angesichts der zur Verfügung stehenden Klima-Prognosen scheint die Zukunft tatsächlich geschlossen durch den kapitalistischen Ressourcenraubbau. Aber genauso ist, wer Mensch und Natur doch noch für die Zukunft retten will, auf die Lösungen angewiesen, die sich für das Kapital rechnen und dadurch dem Kapitalismus das Überleben sichern. Man kann daher den Wähler:innen kaum übel nehmen, dass viele wie jüngst in Deutschland und der Schweiz mit untrüglichem Realismus ihre Hoffnungen gerade auf diesen Widerspruch setzen. Zu schön sehen sie aus, die urban-grünen Idyllen mit perfektem Technikset: Die grünliberale Ideologie setzt gleichzeitig auf Natur und ihre Aufhebung durch Technologie bzw. deren Verwandlung in zweite Natur. Sie fügt den oben beschriebenen Zukunftsopfergaben Antizipation und Prävention noch die Perfektion hinzu. Die gewaltigen Investitionen, die jetzt zur technologischen Umwandlung des menschlichen Erdendaseins freigesetzt werden, erlösen aber nicht nur vom schuldigen Leben des ineffizienten, unperfekten Ressourcenverbrauchs, sondern schieben den Kollaps des Wirtschaftssystems nochmals um gut zwanzig Jahre hinaus. Denn man rechnet, dass der Green New Deal eine Wirtschaftskraft entfesselt, die dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg nahekommt. Dass das Kapital nach 1989 sich noch einmal global sanieren kann, ohne einen grossen Krieg zu entfesseln, ist die gute Nachricht, die schlechte, dass es mit Boden und Atmosphäre auch hier selbst zerstört hat, was es jetzt bei anhaltender Gewinnmaxime zu reparieren vorgibt. Denn dass die grüne Technologie bei gleichbleibender Konsum- und Kapitalakkumulationslage nicht tausend neue Sackgassen schafft, kann inzwischen nur noch glauben, wer ignoriert, dass bisher noch jeder Effizienzgewinn in der Energiegewinnung durch Mehrproduktion aufgefressen worden ist und dass die Atomkraft, die Zukunftsvernichtungsmaschine schlechthin, gerade ihr grün gelabeltes Revival feiert.[3]
III Bilderverbot für die Zukunft
Wie divers auch immer die Gründe für ihre Schliessung sind, die Zukunft ist ein düsterer Ort, wenn sie nicht mehr für alle offen ist. Die Linke muss daher alles dafür tun, die Zukunft offen zu halten, indem sie deren ideologischen und materiellen Ausverkauf bekämpft und sich selber ein Bilderverbot für die Zukunft auferlegt.
Die Alternative zu den ideologischen Zukunftsbildern ist ironischerweise die biblische Prophetie, die die Weissagung des Ungewissen nur unternimmt, um die Gegenwart konträr dazu in ihrer realen unmöglichen Gestalt blosszustellen. Die Zukunft ist für die Propheten alles, was als Negativfolie zur Gegenwart verwendet werden kann. Sie ist mitnichten Ansage eines Geschehens, sondern vielmehr die Grenze dessen, was überhaupt passieren kann oder darf. Die Idylle kann nicht, die Katastrophe darf nicht stattfinden. Innerhalb dieser zwei Unmöglichkeiten blieb den alten Juden, um die Gegenwart bestehen zu können, nur des Vergangenen inne zu werden. Denn es war ihnen, wie Walter Benjamin am Schluss seiner Thesen über den Begriff der Geschichte mitteilt, «bekanntlich untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterwiesen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft.» (1991, 697) Selbstverständlich wird auch die Vergangenheit leicht zu einer ideologischen Waffe. Aber sie ist zugänglicher, weil gratis sowie humaner, weil diverser und daher auch weniger leicht schliessbar als die Zukunftsideologie, die immer etwas kostet und letztlich immer aufs Neue transhumaner Phantasterei verfällt.
Die Entzauberung der Zukunft durch ein solches Eingedenken, ist die beste Aufklärung, um die futuristischen Illusionen des neuen Menschen zu entlarven. Der Blick nach hinten macht in dieser Hinsicht nicht nostalgisch, sondern realistisch. Er zeigt das Mass an, mit dem das Künftige bewertet werden soll. Der berühmte Satz des Protagoras, dass der Mensch das Mass aller Dinge sei, verliert in diesem Zusammenhang seinen Hybrischarakter, der ihm anhaftete und wird konträr zum Messwert des Humanen: Machbar ist vieles, denkbar noch mehr, aber erforscht, finanziert und verwirklicht werden soll für die Zukunft nur, was dieses Mass der Menschen nicht übersteigt: ihre raum-zeitliche Bezogenheit, ihre unperfekte, hinfällige Körperlichkeit, ihre von Emotionen durchwachsene Vernunft, ihre schwer kontrollierbare Triebhaftigkeit. Offene Zukunft ist da, wo Anpassung für alle möglich ist, aber nicht für alle Pflicht, wo Integration für alle möglich ist, aber auch Selbstexklusion, wo Wandel kritisch-positiv bewertet wird, wie auch Erhalten, Pflegen und Bleiben und wo viel dafür getan wird, dass alle dürfen, die wollen, aber ebenso viel, dass alle, die dürfen, aber nicht können oder auch nicht wollen, genauso Teil der Gesellschaft sind.
Die Zukunft bleibt nur offen, wenn neben den Skripten der Vergangenheit und der herrschenden Vernunft der Gegenwart, auch den Bildern der Zukunft immer neu misstraut wird. Das heisst, die Linke, die gegenwärtig weit davon entfernt ist, dem Kapital als der negativen Vermittlungsform zwischen Gegenwart und Zukunft eine bessere, weniger zerstörerische entgegensetzen zu können, könnte sich inzwischen wenigstens auf folgendes konzentrieren: Sie darf den Graben zwischen Fortschritt, Wandel und Neuerung und dem Unvermögen der Individuen sich ständig anzupassen nicht zu leicht nehmen, sie muss zweitens die ewig menschliche Diskrepanz verstehen zwischen einem stets veränderten Leben, das die fortschreitende Technik verlangt und den immer hoffnungslos hinterherhinkenden Bewusstseins- und Alltagsformen und drittens unterscheiden zwischen einer Zukunft als Herrschaftsinstrument des Möglichen und der Utopie als Unmöglichkeitsraum der Ohnmächtigen. Nur wo sie Zukunft als Drohkulisse und Herrschaftsinstrument zurückweist im Namen der heute Zukunftsunfähigen, kann sie glaubwürdig die Zukunft für alle offen halten. «Denn nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.» (Benjamin 1991, 201)
Rolf Bossart
Literatur:
Adorno, Theodor W., 1975: Negative Dialektik. Frankfurt am Main
Benjamin, Walter, 1991: Gesammelte Schriften. Band 1 Frankfurt am Main
Heidegger, Martin, 1974: Sein und Zeit. Tübingen
Heidegger Martin, 2014: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). In P. Trawny (Hrsg.), Martin Heidegger Gesamtausgabe. Band 96. Frankfurt am Main
Hinkelammert, Franz, 1985: Die ideologischen Waffen des Todes. Luzern
Konersmann, Ralf, 2021: Welt ohne Mass. Frankfurt am Main
Lettow, Susanne, 1999: Zukunft denken. Benjamin, die Postmoderne und Heidegger, in: Das Argument 230, 338-348.
Gläser, Waltraud: VUCA-Welt. https://www.vuca-welt.de/ (Abfrage 3.1. 2022)
Weber, Max, 2017: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Stuttgart
Zukunftsinstitut, https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/#12-megatrends(Abfrage 3.1. 2022
[1] VUCA-Welt: Managementkonzept: «Entscheidungs-, Lösungs- und Bewältigungsstrategien für den Einklang von Mensch und Organisation im Kontext von Digitalisierung und Transformation.» Die VUCA-Welt ist Volatility, Uncertainity, Complexity, Ambiguity, darauf kann mit VUCA positiv reagiert werden: Vision, Understanding, Clarity, Adaptability/Agility (vuca-welt.de/Waltraud Gläser)
[2] Es gab ausser in der kapitalistischen Ära nie eine Kultur oder eine Religion, die nicht die Mässigung in den Bedürfnissen sowie die Demut und Ehrfurcht gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen gefordert und insbesondere den Fleischkonsum problematisiert und reglementiert hätte.
[3] Denn das Kapital ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, es ist die negative Einheit und insofern wächst, was man hier abschlägt andernorts nach und es wirft hier Gewinn, wird gerodet, umgepflügt und in Besitz genommen, was dort nicht ausgebeutet wird. Die Akkumulation der Natur, des Geistes, der Daten usw. wird nicht aufhören. Solange der Bann der Kapitalverwertung nicht gebrochen ist, muss man sich auch für die grüne Zukunft wünschen, was man bisher nicht hat wünschen wollen, denn es gibt sie nicht die unschuldige Kapitalverwertung.
Zuerst erschienen in: Widerspruch 78/2022