Zum Werk des Schweizer Sozialwissenschaftlers und Philosophen Heinz Kleger
«Freiheit, Toleranz, Solidarität»: ein halbwegs bekanntes, halbwegs ungewohntes Begriffstriumvirat. Heinz Kleger baut darauf eine zeitgemässe, aktive Theorie der Politik auf. Von 1993 bis zu seiner kürzlichen Emeritierung an der Universität Potsdam als Professor für politische Theorie tätig, hat er seine Expertise vielfach in praktische Projekte der BürgerInnenbeteiligung in Potsdam und im Bundesland Brandenburg eingebracht.
So hat er dort das so genannte Potsdamer Toleranzedikt mit begründet. In dessen Rahmen engagieren sich einzelne BürgerInnen und Bewegungen der Zivilgesellschaft gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gerade in ostdeutschen Bundesländern und setzen sich für eine humane Flüchtlingspolitik ein.
Sozialer Wandel durch BürgerInnenbewegungen hat Kleger schon früh beschäftigt. 1952 in Zürich geboren, ausgebildeter Philosoph und Sozialwissenschaftler, unterrichtete er in den 1980er-Jahren an den Universitäten Zürich und Konstanz, schrieb für die Theoriezeitschrift «Widerspruch» und gelegentlich auch für die WOZ.
1993 veröffentlichte er seine umfangreiche Habilitationsschrift «Der neue Ungehorsam. Widerstände und politische Verpflichtung in einer lernfähigen Demokratie». Es war für die Schweiz ein theoretischer Meilenstein. Der Soziologe reagierte damit auf zwei Jahrzehnte neuer Widerstandsformen, von der Antiatomkraftbewegung über die neue Asylbewegung bis zur Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA), systematisierte sie und verknüpfte demokratietheoretische Vorstellungen mit konkreten Politikformen.
Im gleichen Jahr wurde er an die kurz zuvor gegründete Universität Potsdam berufen. Die Stadt musste sich nach der deutschen Wiedervereinigung neu finden und erfinden. Sie hat sich seither nicht nur als Wissenschafts- und Dienstleistungsstandort, sondern auch als ein Politiklabor profiliert. Dabei wurde an eine kosmopolitische Tradition in Brandenburg als Grenzland zwischen Ost und West angeknüpft. Kleger verstand das als Herausforderung auch an seinen Lehrstuhl für Politische Theorie. 1996 initiierte er die Buchreihe «Region – Nation – Europa», in der er mittlerweile 83 Bände zu einem weiten Spektrum herausgegeben hat, von grundlegenden Überlegungen zu «Bürgerschaft und Migration» oder zur Legitimität von EU-Mehrheitsentscheiden über die Chancen regionaler Körperschaften angesichts globaler Herausforderungen bis zu materialreichen, aktuellen Studien, etwa über Rechtsextremismus im Sport im Bundesland Brandenburg.
Eingriffe
Darüber hinaus hat Kleger immer wieder selbst publizistisch und organisatorisch in Debatten eingegriffen, mit Beiträgen über die «lernfähige Demokratie» und einen «reflexiven Staat» die demokratische BürgerInnenbeteiligung veranschaulicht. Brandenburg hatte sich 1992 eine fortschrittliche Landesverfassung gegeben, die liberale, demokratische Freiheitsrechte mit gewissen sozialen Absicherungen aus der ehemaligen DDR zu verbinden suchte. Dies vor dem Hintergrund zunehmender fremdenfeindlicher, rassistischer Gewalttaten. 1998 wurde dagegen das Bündnis «Tolerantes Brandenburg» gegründet, das ein tolerantes Gesprächsklima schaffen wollte, durch das genauere Verhandeln der Toleranz aber auch scharf gegen nicht-tolerierbaren Hass und Gewalt antrat. Die Toleranz ist für Kleger bis heute ein Fixpunkt. «Toleranz ist das höchste Gut Europas», hat er einmal erklärt. 2008 initiierte er, am interkonfessionellen und migrationsfreundlichen Toleranzedikt von 1685 anknüpfend, das «Neue Potsdamer Toleranzedikt». Unter diesem Namen sollte in einem stadtweiten Gespräch eine «offene und tolerante Stadt der Bürgerschaft» gefördert werden.
Hier kam der Dreiklang «Freiheit, Toleranz, Solidarität» zu seinem Recht. Freiheit versteht Kleger als die aufklärerische, liberale, wirtschaftlich womöglich eine ordoliberale, sozialstaatlich verantwortliche. Toleranz bezieht sich auf den Umgang mit andern, die Verhandlungsform in sozialen wie politischen Beziehungen. Den anderen zuhören, sie zu Wort kommen lassen. Meinungsstreit statt Meinungskampf. Solidarität schliesslich ist eine notwendige Ergänzung, sei es in der sozialistischen Tradition der Arbeiterinnenbewegung, sei es einer sozialstaatlichen oder einer (links)katholischen. Jeder Teil dieses Dreiklangs ist gefährdet: Was, wenn die Freiheit auf Kosten anderer geht? Was, wenn die andern nicht zuhören wollen und uns nicht zu Wort kommen lassen? Was, wenn die Solidarität sich auf die eigene Gruppe beschränkt und andere ausgrenzt? Die Fragen verorten sich im grundsätzlichen Spannungsfeld von Individualität versus Gemeinschaft: Abgrenzungen sind für uns Menschen unter psychologischem Aspekt wichtig, aber es müssen offene Grenzen sein.
Nach zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen hat Kleger in den letzten Jahren zwei Bände «Gedankensplitter» veröffentlicht, der erste mit autobiografischen Passagen, aber auch theoretischen Überlegungen; der zweite eine Art Tagebuch der laufenden Ereignisse von 2019 bis 2021, ebenfalls angereichert durch grundsätzliche Beiträge. Sie enthalten ungemein fruchtbare Überlegungen. Kleger enthält sich (fast) jedes wissenschaftlichen Jargons. Seine Texte sind argumentativ, verständlich. Er überprüft, differenziert.
So setzt er beispielsweise ein: «Klarheit über die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Macht, Gewalt, Herrschaft und Recht ist Voraussetzung für ein differenziertes politisches Denken.» Macht ist als Handlungsmacht nötig. An das staatspolitische Konzept von Montesquieus Gewaltentrennung anknüpfend, geht es für Kleger um Machtbegrenzungen und Machtteilungen. Anhand der Pandemie reflektiert er über den modischen Begriff des Ausnahmezustands als Wille zur unbedingten Macht und grenzt ihn vom Notstand ab, der von einem rechtlichen Rahmen umfasst bleibt.
Zusammengesetzte Identitäten
Jederzeit geht es um die verschiedenen Ebenen, auf denen wir denken und handeln – vom Lokalen bis zum Globalen, oder von der Basisdemokratie über staatlich verfasste Politikformen bis zum Verfassungsrecht als übergreifenden Rahmen. Auch um die verschiedenen Formen der Zivilgesellschaft, halbstaatliche eingeschlossen. Kleger untersucht auf dem Gebiet des Politischen, was sozial als zusammengesetzte, mehrfach bestimmte Identität beschrieben wird. Am verfassungsrechtlichen Beispiel: von der Potsdamer Bürgerschaft über die Brandenburger Landeszugehörigkeit und die deutsche StaatsbürgerInnenschaft bis zum EU-Subjekt. Sie alle haben je eigene Praxen, je eigene Möglichkeiten und Grenzen und sind miteinander verflochten.
So arbeitet sich Kleger immer wieder an einer EU-StaatsbürgerInnenschaft ab. Er ist ein aufgeklärter Europäer. Hartnäckig die Schwierigkeiten des Projekts im Auge, unverbrüchlich an dessen Chancen glaubend. Nation und Nationalismus sind nicht zu überspringen, aber nach unten – die Region, die Stadt – zu vertiefen und nach oben – EU, Europarat – zu erweitern. Als ein Ursprung für seinen Optimismus gilt ihm der Grundrechtekonvent der EU von 1999/2000, mit dem erstmals versucht wurde, die bisherige hierarchische Struktur der EU aufzubrechen und in einer offenen Diskussion zwischen Exekutive und Legislative die Grundrechte der Staatengemeinschaft zu formulieren.
Noch vehementer allerdings unterstreicht er die Bedeutung der Stadt als Zufluchtsort und der produktiven Auseinandersetzung zugleich. Als «Orte der Vermittlung und des Pragmatismus» seien sie Zentren für das Aushandeln von Konflikten und für das Ausprobieren von innovativen Problemlösungen.
Kleger ist das Musterbeispiel eines Akademikers, der sich aktiv um sein soziales und politisches Umfeld kümmert. Entsprechend liegt ihm Potsdam am Herzen. Hier scheint sich im diskriminierten, oder sich diskriminiert fühlenden Osten Deutschlands einiges zu entwickeln. Potsdams kulturelle Tradition, die Nähe zu Berlin helfen zweifellos. Kleger begreift Potsdam als «Lernort deutscher Geschichte». Tatsächlich hat die Stadt in den letzten zwanzig Jahren einen Bürgerhaushalt eingeführt, einen Beteiligungsrat samt Werkstatt für Beteiligung und einen Migrationsbeirat geschaffen und fördert das Mittel von Bürgerbegehren; zugleich beteiligt sich die Stadt an Aktionen zur Flüchtlingshilfe und gegen Rassismus, mitsamt einem neuen Integrationskonzept.
Potsdam als Labor
Wie bei anderen ostdeutschen Städten fiel auch in Potsdam die Zahl der EinwohnerInnen nach dem Ende der DDR, und zwar zwischen 1992 und 1999 von 140000 auf 128000. Seither ist sie rasant auf 183000 EinwohnerInnen gewachsen. Die Nähe zu Berlin hat junge, eher mittelständische Studierende und die Kreativindustrie angezogen.
Durch das schnelle Wachstum ist die Wohnungsnot gestiegen. Der kommunale Wohnungsbau hat in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Entsprechend läuft aktuell ein «Bürgerbegehren» für einen Mietendeckel.
Der 2005 eingeführte «Bürgerhaushalt» funktioniert weiterhin. Für das Budgetjahr 2023/24 wurden 538 Finanzierungsvorschläge eingereicht, Mitte November sind in einer Abstimmung jene 20 ermittelt worden, die in der Stadtverordnetenversammlung zumindest diskutiert werden müssen. Das ist nur Mitsprache, keine Mitbestimmung. Aber es ist eben doch Mitsprache. In seinen Evaluationen solcher BürgerInnenbeteiligung bleibt Kleger handfest und realistisch: Man müsse Vorurteile zwischen Behörden und BürgerInnen abbauen, die Kommunikation verbessern, Laien mit Expertinnen zusammenführen, keine falschen Hoffnungen wecken, sich nicht zu viel aufbürden.
Potsdam ist wirtschaftlich potenter als das Umfeld und die Bevölkerung durchschnittlich jünger. Entsprechend äussert sich die Fremdenfeindlichkeit nicht so stark wie in anderen ostdeutschen Städten. Während bei den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg die AfD zur zweitstärksten Partei wurde und beinahe die SPD einholte, konnte sie zwar auch in Potsdam ihre Stimmenzahl zur Stadtverordnetenversammlung verdoppeln, blieb aber bloss die fünftgrösste Partei mit relativ bescheidenen 9,5 Prozent. Das ist laut Kleger auch das Verdienst eines Bündnisses verschiedener Gruppierungen gegen den Fremdenhass, das von der Stadt unterstützt wird. Auch ein offiziell verankertes Integrationskonzept hat seines Erachtens geholfen.
Regiert wird Potsdam von einer «Ratshauskooperation» der drei etwa gleich starken Fraktionen von SPD, Grüne/B90 und Die Linke, die zusammen 31 von 56 Sitzen hält, unter dem dynamischen Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD).
Gesunder Menschenverstand
Ein zweiter Schwerpunkt der Koalitionsregierung ist die Flüchtlingshilfe. Potsdam hat die europäische Städtegemeinschaft «Städte sicherer Häfen» mit begründet, um zusammen mit der Aktion «Seebrücke» im Mittelmeer in Seenot geratene Geflüchtete aufzunehmen; die Stadt hat früh bei der Bundesregierung interveniert, als es um die Aufnahme von Kindern ging. Und sie hat das Onlineportal «HelpTo – für soziales Engagement vor Ort» lanciert, das mittlerweile von zahlreichen Städten in etlichen Bundesländern übernommen worden ist.
Kleger schildert, wie staatliche Stellen und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Von Schwierigkeiten, Konflikten, von Mitbeteiligung und Demokratie als schwieriger Prozess ist die Rede. So weit, so handfest. Und doch bleibt das weitgehend auf einer mittleren Ebene konkreter Prinzipien ohne konkrete AkteurInnen. Konflikte werden anerkannt, aber wer denn gegen wen steht, wie partikuläre Interessen von Frauen, MigrantInnen, Arbeitslosen, People of Color, Jugendlichen austariert werden, wird nicht ausgeführt. Natürlich, solche Konkretion ist nicht Aufgabe einer politischen Theorie, aber gerade weil Kleger verdankenswerterweise auf lokaler Ebene und handlungsorientiert argumentiert, hätte man sich zuweilen gerne weitere Konkretionen gewünscht.
Letztlich setzt Kleger auf den gesunden Menschenverstand, auf common sense oder Gemeinsinn. Solche durchaus moralisch zu nennenden Kategorien werden, wie gesagt, handlungsanleitend konkretisiert. Zuweilen schleichen sich dennoch Zweifel ein, ob dieses kommunal- und europapolitische Engagement wirklich gelingen mag, ob nicht die Reibungsverluste, Rückschritte, Interessenskonflikte, Frustrationen überwiegen mögen, ob hier ein unermüdlicher Sisyphus seine Steine wälzt. Doch dann erinnern wir uns daran, dass wir solchen Optimismus brauchen.
Heinz Kleger: «Gedankensplitter. Ein Schweizer in Potsdam». Books on Demand, Norderstedt 2019. 202 Seiten.
Heinz Kleger: «Gedankensplitter II. Normalität und Ausnahmezustand – Zivilgesellschaft und Solidarität – Bürgerbeteiligung und Demokratie». Books on Demand, Norderstedt 2021. 376 Seiten.
Porträtbild Martin Müller