Der faustische Drang herauszufinden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, hat meine Neugierde während Jahrzehnten wachgehalten. Sie setzte lange vor der Zeit ein, als die Wissenschaft zu meinem Beruf wurde. Und sie hält bis heute an, obwohl die Erwerbsarbeit hinter mir liegt. Bei meinen Versuchen, die Neugierde zu stillen, stiess ich immer wieder auf Bücher, die sich wie Puzzle-Teile in meinen jeweils aktuellen Wissensstand und Denkprozess einfügten – sozusagen Volltreffer waren. Einmal verbanden sie theoretische Bruchstücke zu einem Ganzen. Ein anderes Mal verknüpften sie ein diffuses Unbehagen am Gang der Welt mit möglichen Erklärungen dafür. Manchmal zeigten sie auch persönlichen Eigensinn in neuem Licht. Letzteres passierte mir vor einiger Zeit, als ich den Band „Imperiale Lebensweise“ von Ulrich Brand und Markus Wissen las. Was ich bis zu diesem Zeitpunkt als persönliche Marotte empfand, nämlich seit vielen Jahre auf Television zu verzichten, erhielt durch die Lektüre einen neuen Sinn: So können nach Brand und Wissen Beiträge zum Übergang zu einer solidarischen Lebensweise manchmal auch unspektakuläre Formen annehmen und beispielsweise darin bestehen, „sich den heutigen Lebens- und Konsumnormen zu entziehen, explizite und implizite Regeln nicht mehr zu befolgen, bestimmte Praxen und Nahelegungen nicht mehr zu akzeptieren und zu unterbrechen.“ Dieser Satz machte aus einer eigensinnigen Marotte eine Form alltäglicher Widerständigkeit.
Doch ins Zentrum meines Beitrags zur Theoriegalerie soll hier nicht das bereits besprochene Buch von Brand und Wissen, sondern ein älteres Werk von Norbert Kostede rücken. Seine „Studien zur politischen Theorie des Marxismus“, die 1980 unter dem Titel „Staat und Demokratie“ im Luchterhand Verlag erschienen, sind eher denjenigen Puzzle-Teilen zuzuordnen, die Theorie und empirische Evidenz verbanden. Zu Beginn der 1980er Jahre trieb mich meine Neugierde dazu, an einer Dissertation zu schreiben. Mein Thema waren die friedenspolitischen Volksinitiativen der Nachkriegszeit. Ich setzte mit den Chevallier-Initiativen der 1950er Jahre ein und hörte mit den Zivildienstinitiativen der 1970er Jahre auf. Zur GsoA-Initiative, die 1989 zur Abstimmung gelangte, waren zu jener Zeit erst Vorbereitungen in Gang.
Während meines Studiums an der Universität Konstanz hatte ich die marxistische Staatstheorie kennen gelernt. Mein späterer Doktorvater Josef Esser hatte eine der vielen „Staatsableitungen“ vorgelegt, die damals die Debatten dominierten. In diesem Zusammenhang kam Norbert Kostede ins Spiel. Ich wollte mir auf die Ergebnisse, die ich bei der Auswertung der Erfahrungen der Friedensbewegung mit der direkten Demokratie in der Schweiz gefunden hatte, auch theoretisch einen Reim machen. Dabei zäumte ich das Pferd nicht vom Kopf, sondern vom Schwanz her auf. Den staatstheoretischen Teil schrieb ich nicht vor, sondern nach der Empirie. Theorie und historische Herleitung lieferte ich – wohl noch etwas verschämt – im dritten Teil der Dissertation. Dass ich der Theorie nicht höhere Priorität einräumte, beeinflusste auch die spätere Rezeption meiner Arbeit. Während ihre empirischen Teile Aufmerksamkeit weckten, ging der dritte Teil unter. Selbst Hanspeter Kriesi, der die Arbeit neben Josef Esser und Andreas Buro als externer dritter Gutachter beurteilte, vernachlässigte den Schlussteil. Er sei mit der Staatstheorie nicht ausreichend vertraut, merkte er in seinem Gutachten an.
In meiner staatstheoretischen Argumentation stellte eine von Norbert Kostedes Studien ein zentrales Puzzle-Teil dar. Im zweiten Teil seines Buches beschrieb er nämlich den „Prozess der ursprünglichen Diremtion“ (Trennung). Die Assoziation zum Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ im ersten Band von Marx‘ „Kapital“ weckte Kostede bewusst: Ging es Marx um den historischen Prozess der Trennung der Arbeitskräfte von ihren Produktionsmitteln, so ging es Kostede um den historischen Prozess der Trennung der Politik von anderen gesellschaftlichen Sphären. Unter feudalistischen Umständen war der Grundherr noch Richter und Vorgesetzter, politischer und wirtschaftlicher Herrscher zugleich. In seiner Person waren die Funktionen der wirtschaftlichen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung vereint. Unter kapitalistischen Verhältnissen aber – so die Staatsableitungen – ist die Politikform ein von anderen Sphären getrennter Bereich. Es ist gerade diese Trennung, die es kapitalistischen Staaten erlaubt, zur Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse beizutragen. Wäre sie ein Herrschaftsinstrument in den Händen einzelner Kapitalisten oder Fraktionen, wie es gewisse Varianten der Staatstheorie postulierten, könnte sie weder ein allgemeines Kapitalinteresse wahrnehmen noch eine von Zwang und Konsens geprägte hegemoniale Herrschaft über subalterne Klassen ausüben.
Doch ist weder die Trennung der Arbeitskräfte von den Produktionsmitteln noch die Trennung des Staates von anderen gesellschaftlichen Sphären immer schon gegeben. Auch setzte sie sich nicht allein deshalb durch
, weil sie funktional notwendig war. Stellt sich die Trennung ein, dann nach regulationstheoretischen Überlegungen als eine „historische Fundsache“ (Alain Lipietz). Beide Trennungen entstehen und reproduzieren sich durch historische Kämpfe. Diese Lektion hatte ich von Josef Esser gelernt. Norbert Kostede formulierte nun ein idealtypisches Modell der „ursprünglichen Diremtion“ und veranschaulichte dieses am historischen Beispiel absolutistischer Staaten: Noch im feudalen Umfeld entstandene Städte verbünden sich untereinander und mit den schwachen Zentren der Reiche. Der bereits durch die Krise der Grundherrschaft geschwächte Adel gerät dadurch politisch von zwei Seiten unter Druck: Die Städte erringen die Reichsunabhängigkeit und behaupteten gegenüber dem geschwächten Adel ihre korporative Selbstregierung. Die Zentren gelangen über die Städte zu Ressourcen, mit denen sie sich ihrerseits aus der Abhängigkeit vom Adel befreien können. Die Möglichkeit, Steuern zu erheben, erlaubt ihnen beispielsweise Berufsheere einzuführen und nicht mehr auf die Kriegsdienste adeliger Lehensnehmer angewiesen zu sein. Als Berufsbeamte und -offiziere im Dienste des Zentrums gelangt der Adel aber nach und nach zu neuem Einfluss und das Bündnis zwischen Städten und Zentren zerbricht. Als absolutistischer Staat gelingt es dem Zentrum, auch die Städte und ehemaligen Bündnispartner seiner Herrschaft zu unterwerfen. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, dass sich im Zuge der ursprünglichen Akkumulation, die parallel vollzogen wird, im Innern der Städte Ausbeutungsverhältnisse etablieren, welche die zunächst korporativen Formen der Selbstregierung untergraben. „L‘état c‘est moi!“, die Behauptung von Ludwig XIV. , markiert in Kostedes Modell den Moment, indem die Trennung zwischen der Politik und den anderen gesellschaftlichen Sphären vollzogen ist.
Rasch war mir klar, dass Kostedes Modell nicht zur historischen Entwicklung der Schweiz passte. Doch erweist sich ein Idealtyp bekanntlich nicht nur dann als produktiv, wenn er passt, sondern auch dann, wenn sich mit seiner Hilfe Abweichungen herausarbeiten lassen: In der Eidgenossenschaft verbündeten sich nicht nur Städte, sondern auch Länder. Doch auch hier spannten sie mit dem Zentrum zusammen, konstituierten sich als korporativ regierte Stände, behaupteten sich gegenüber dem Adel und errangen die Reichsunabhängigkeit. Mit ihren Söldnern trugen auch eidgenössische Orte dazu bei, dass die Zentren Berufsheere einrichten konnten. Und auch in und zwischen den eidgenössischen Städten und Ländern etablierten sich Ausbeutungsverhältnisse, welche die Einigkeit zwischen und innerhalb der Stände immer wieder prekär werden liessen. Doch in der absolutistischen Phase des ursprünglichen Trennungsprozesses wich die Eidgenossenschaft von Kostedes Modell ab. Zwar entwickelten sich einzelne Stände zu absolutistischen oder oligarchisierten Kleinstaaten, was auf die erwähnten internen Ausbeutungsverhältnisse zurückzuführen war. Doch die Eidgenossenschaft insgesamt machte keine absolutistische Phase durch. Geographisch eher peripher und im Einflussbereich verschiedener Staaten liegend geriet sie auch nie ganz in den Sog eines ihrer absolutistischen Nachbarn.
Die Abweichungen vom Modell Kostedes waren für mich die Erklärung dafür, weshalb die Eidgenossenschaft ein föderalistischer Flickenteppich blieb und sich die „ursprüngliche Diremtion“ nur in unvollständiger Form einstellte. Beides trat die Schweiz als sie 1848 zum Bundesstaat mutierte als Erbe an. So blieb sie bis heute ein föderalistischer Bundesstaat. Die Unvollständigkeit der Trennung zwischen Politik und und anderen gesellschaftlichen Sphären zeigte sich mir paradigmatisch im Milizheer und Milizparlament, wo Stimmbürger und Soldat oder Wirtschaftsbürger und Politiker zusammenfielen. Aber auch die Einrichtungen der direkten Demokratie führte ich auf dieses Erbe zurück, trugen sie doch dazu bei, dass sich die schweizerische Politik nie ganz so weit von der Bürgerschaft entfernen konnte, wie das in repräsentativen Demokratien der Fall ist.
Das Erbe einer unvollständig vollzogenen ursprünglichen Diremtion konfrontierte die Schweiz aber mit Widersprüchen. Idealtypisch hätte zum kapitalistischen schweizerischen Wirtschaftssystem ein weitgehend von der Gesellschaft getrennter Staat gehört. Doch wie der Kapitalismus mit der repräsentativen Demokratie oder mit autoritären Diktaturen einherzugehen wusste und weiss, so lernte er in der Schweiz auch mit der direkten Demokratie umzugehen. So bildete sich in der Schweiz ein „Puffersystem“ oder Abwehrdispositiv gegen direktdemokratischen Einfluss heraus, zu dem etwa das Ständemehr gehört.
Es ist nach der Einreichung von Initiativen und Referenden weitgehend an den Behörden darüber zu entscheiden, was mit dem Vorstoss geschieht. Wird er speditiv oder trölerisch behandelt? Wird er als gültig oder ungültig erklärt? Mit welchen Argumenten und Interpretationen wird auf den Vorschlag reagiert? Wird ihm materiell ganz oder teilweise entsprochen und etwa ein Gegenvorschlag ausgearbeitet? Wann, in welcher Kombination mit anderen Vorlagen und mit welcher Empfehlung kommt er zur Abstimmung? Und im schlimmsten Fall einer der seltenen akzeptierten Initiativen: Wie und in welchem Tempo wird diese umgesetzt? Den Behörden steht ein ganzes Arsenal von Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Bewegung, die den Vorstoss lanciert hat, hat es unter solchen Umständen schwer, die Ebene, den Inhalt und den Rhythmus der Auseinandersetzung und Umsetzung zu kontrollieren. Die Initianten der Alpeninitiative könnten ein Lied davon singen.
So trug Norbert Kostedes Puzzle-Teil über die ursprüngliche Diremtion wesentlich dazu bei, dass ich auch mit dem theoretischen Teil meiner Dissertation zu einem Ende kam und meine Neugierde – zumindest vorläufig – befriedigt war.
Kostede, Norbert. Staat und Demokratie: Studien zur politischen Theorie des Marxismus. Darmstadt: Luchterhand 1980
Brand, Ulrich und Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. Freiburg: Oekom 2017
Epple-Gass, Rudolf: Friedensbewegung und direkte Demokratie. Frankfurt: Haag und Herchen 1988
Esser, Josef: Einführung in die materialistische Staatsanalyse. Frankfurt/New York: Campus 1975