Franz Heilgendorff
Kategoriale Kritik
Zur Bedeutung von Kategorie und Begriff in der dialektischen Methode bei Marx
Berlin; Dietz Verlag; 2023
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Im Kern von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie liegt der unauflösliche Nexus von Abstraktion und Herrschaft. Im Schlussteil seiner Dissertation zum Thema Kategoriale Kritik – Zur Bedeutung von Kategorie und Begriff in der dialektischen Methode bei Marx führt Franz Heilgendorff ein Zitat aus den Grundrissen an, das die Subsumtion alles konkreten menschlichen Lebens unter die Abstraktionen der politischen Ökonomie (abstrakte Arbeit, Wert, Geld, Kapital usw.) gut zum Ausdruck bringt. Die sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Kapitalismus, welche die in vorkapitalistischen Gesellschaften überwiegenden persönlichen Formen der Herrschaft ersetzen, erscheinen laut Marx so, „dass die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind.“ (MEW42, S. 97)
Diesen Nexus ans Licht gebracht zu haben ist das Verdienst der Kritischen Theorie, von den frühen Arbeiten von Horkheimer zur Logik der Kopula als Subsumtion über Adornos Negative Dialektik bis hin zu Hans-Jürgen Krahls Thesen zum Wert als Repression. Mit seiner beim Dietz-Verlag erschienene Dissertation bereichert Heilgendorff diesen Ansatz in der Marx-Interpretation insofern um einen wichtigen Beitrag, als er sich bemüht, den Doppelcharakter der politökonomischen Abstraktionen – reell und zugleich ideell – in den historischen Zusammenhang der Entwicklung des Begriffs der Kategorie bei Aristoteles und Hegel zu stellen. Begriff und Kategorie – denn beides ist nicht unmittelbar identisch, wie dies die Asymmetrie zwischen den Kategorien von Hegels Wissenschaft der Logik und der Logik vom Begriff als Kulmination derselben zeigt. Der Begriff, so Heilgendorffs These, entfaltet sich in den Kategorien, die ihn darstellen (S. 19). Ob aber dieses höchste Abstraktum nur spekulative Hypostase von bestehenden Herrschaftsverhältnissen bleibt (wie in Hegels Verherrlichung der bürgerlichen Staatsform) oder nicht eher durch immanente Kritik die Widersprüchlichkeit jeder Form von Subsumtion des Konkreten unter das real existierenden Ideellen manifest werden zu lassen vermag (wie in der Kritik der politischen Ökonomie) – diese Frage ist keine andere als die nach dem subtilen Unterschied zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik.
Wir können in dieser Besprechung nur einige Momente von Heilgendorffs mehrschichtiger Argumentation hervorheben. Und zwar möchten wir – dem Faden der Dissertation folgend – den Nexus zwischen Herrschaft und Abstraktion entlang der Kategorie der Substanz deklinieren. Denn es ist die Kategorie der Substanz, die die drei Teile von Heilgendorffs Dissertation verbindet. Im 1. Teil, über Aristoteles, wird die Substanz in ihrer letzten Bestimmung als Telos (causa finalis) gedacht. Aristoteles gelangt somit an der Schwelle von Hegels System, das vom Grundgedanken ausgeht, dass das Wahre nicht nur Substanz, sondern zugleich Subjekt ist (vgl. S. 64). Mit Hegel beschäftigt sich dann der 2. Teil der Dissertation, aus dem wir vor allem die Seiten über Hegels Kritik an Spinoza im Substanz-Kapitel der Wissenschaft der Logik hervorheben möchten (S. 110-112). Denn das ist der Punkt, an dem sich laut Hegel der Übergang vom Reich der Notwendigkeit in den der Freiheit vollziehen müsste. Die Spinoza unbekannte teleologische Entwicklung der Negation der Negation müsste die Herrschaft des Objekts durchbrechen und das Subjekt befreien. Hegel mystifiziert aber diese Entwicklung, indem er das Denken, anstatt des Realen, zum Hypokeimenon derselben macht. Marx’ Kritik an Hegel bildet den Auftakt zum 3. Teil, der die abstrakte Arbeit „als Wertsubstanz wie Herrschaftsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 138) der Kritik unterzieht. Erst in diesem 3. Teil wird umrissen, wie die fortschreitende Subsumtion des Konkreten unter die real existierenden Abstrakta Wert und Kapital revolutionär durchbrochen werden kann. Das Versprechen von Hegels Logik, das Lebendige von der Herrschaft der toten Objektivität zu befreien, kann das Denken für sich allein nicht einlösen. Nur „praktisch-kritische Tätigkeit“ (1. These über Feuerbach) vermag dies.
Dass Aristoteles mit seiner Bestimmung der Substanz als causa finalis in der Metaphysik an der Schwelle von Hegels Logik gelangt ist die Kernthese vom 1. Teil der Dissertation. Heilgendorff zieht nicht nur die klassischen Stellen aus der Kategorien-Schrift und aus der Metaphysik heran, um die Entwicklung von Aristoteles’ Konzeption von Kategorien darzulegen. Denn schon in der frühen Schrift zur Topik geht Aristoteles auf die Kategorien ein und zeigt, wie Kategorienfehler zu den Trugschlüssen der Sophisten führen können (S. 50: Sokrates ist weiß, Weiß ist eine Farbe, also ist Sokrates eine Farbe). Worauf Heilgendorff aufmerksam macht, ist auf die eminent politische Bedeutung von Aristoteles’ Kritik an der Sophistik. Er zitiert dabei Pierre Vidal-Naquet (S. 51): „Die polis lebt und spricht im logos, sie ist selbst das gesprochene Wort, das wirkungsvolle Wort auf der agora.“ Das altgriechische Verb agorein bedeutete „öffentlich reden“, und kategoria – wir sollen dies nicht vergessen – „bedeutete ursprünglich öffentliche Anschuldigung, Gegenrede und im übertragenen Sinn auch Aussageform.“ (ebda.). Kategorienfehler und falsche Reden, um den demos zu manipulieren, sind zwei Seiten desselben politisch-diskursiven Komplexes.
Aristoteles fasste Philosophie als „Politik der Wahrheit“ auf und bezweckte mit seinen logischen und metaphysischen Untersuchungen zum Kategorienbegriff vielleicht so etwas wie eine Freilegung der Bedingungen, die parrhesia („wahr reden“) in der polis möglich machen. Heilgendorff greift zwar nicht auf eine solche von Foucault inspirierte Lektüre zurück, aber seine Auseinandersetzung mit der Topik wirft ein neues Licht auch auf die alte Frage zur Bedeutungsverschiebung der Kategorie der Substanz (ousia) von der Kategorien-Schrift zur Metaphysik. Denn in der Kategorien-Schrift wurde die ousia noch als „erste Substanz“ verstanden; als hypokeimenon (Subjekt), das nicht selbst Prädikat sein kann; als das, was subsistiert, ohne zu inhärieren. Kurz: als Einzelding (Sokrates, dieses Pferd, das-da-da). Arten und Gattungen („Mensch“, „Pferd“ usw.) waren nur „zweite Substanzen“, also weniger Substanz als die Einzeldinge. Wenn im Buch 7 der Metaphysik Aristoteles die Kategorie der Substanz neu definiert, als eidos („Wesensform“), und sie nunmehr explizit vom hypokeimenon abgrenzt (mit der formlosen „ersten Materie“ als Grenzbegriff des hypokeimenon), dann muss man bedenken, dass diese Verschiebung gerade auch in politischer Hinsicht nicht ganz unschuldig ist. Die Form und das Telos (die causa finalis) zum Wesen / Substanz / ousia zu deklarieren und sie von der Materie als hypokeimenon abzugrenzen, beinhaltet eine Konzeption von Abstraktion, die unablösbar ist von der Naturbeherrschung durch Technik. Abstrakte Form (Zweckursache des technischen Verfahrens) ist Herrschaft über die Materie. Der unbewegte Beweger als immaterielle, ewige Substanz ist zugleich die alles Geschehen beherrschende absolute Form und Zweckursache. Herrschaft ist onto-theologisch legitimiert.
Aristoteles’ Figur des Denkens des Denkens als aktive Form übernimmt die Funktion des letzten Subjekts. Dynamisiert, als Zweckursache, ist das Sein „eben nicht nur Substanz, sondern zugleich Subjekt“ (S. 64). Das ist der Punkt, an dem Hegel ansetzt, zugleich aber der Punkt, an dem sein Idealismus scheitert. Denn die Vermittlung von Sein und Denken ist von Anfang an durch die von Aristoteles übernommene Teleologie vorbelastet. Die spannendsten Seiten von Heilgendorffs Auseinandersetzung mit Hegel sind wohl die, in denen er auf die Kategorien der Wirklichkeit in der Wissenschaft der Logik eingeht (99-117), und zwar insbesondere auf die Kategorie der Substanz. Die Kategorie der Substanz ist nämlich in vielen Hinsichten der Kulminationspunkt der objektiven Logik. Der Begriff bewegt sich in den „Denkbestimmungen der Metaphysik“ (S. 98), die in der objektiven Logik entfaltet werden, noch nicht für sich, sondern nur an sich. Erst in den „klassischen logischen Formen“ (S. 98), die in der subjektiven Logik zum Ausdruck kommen (ebda.), befreit sich der Begriff von seiner Substanzhaftigkeit, um sich als Subjekt zu manifestieren: „Diese Wahrheit der Notwendigkeit ist somit die Freiheit, und die Wahrheit der Substanz ist der Begriff“ (Hegel, Enzyklopädie, §158; zitiert von Heilgendorff, S. 113).
Die Auseinandersetzung mit Hegels Darstellung der Kategorie der Substanz ist somit zentral, um zu verstehen, in welchem Sinn die Wissenschaft der Logik als eine Kritik an der herkömmlichen Metaphysik gelesen werden kann. Heilgendorff selbst verweist in der Einleitung auf Engels’ Meinung, wonach Hegels Dialektik „spielend mit der ganzen früheren Logik und Metaphysik fertig geworden“ sei (MEW13, S. 474; Heilgendorff, S. 14). Er weist dabei auf Michael Theunissens Interpretation hin, wonach Hegels Verhältnis zur Metaphysik genau im selben Sinn wie Marx’ Verhältnis zur politischen Ökonomie aufzufassen ist.[1] Von seiner „Kritik der ökonomischen Kategorien“ sagt Marx in einem Brief an Lassalle (22. Februar 1858), dass in ihr „das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt“ wird. Sie ist „zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (MEW29, S. 550) Ähnlich sei Hegels Darstellung der Denkbestimmungen der herkömmlichen Metaphysik zugleich eine Kritik derselben. Heilgendorff erblickt in der Darstellung der Kategorie der Substanz den Punkt, an dem die „Einheit von Darstellung und Kritik“ paradigmatisch aufgezeigt werden kann (S. 110ff.). Denn Hegels Kritik an Spinozas Auffassung der Substanz zielt gerade darauf ab, die Unfreiheit der rein objektiven Notwendigkeit der causa sui, wie sie das konsequenteste metaphysische Denken konzipiert, ans Licht zu bringen. Spinozas omnis determinatio est negatio – ein von Hegel hochgeschätzter Satz – bleibt auf halbem Weg stehen. Erst indem die objektive Determiniertheit selbst negiert wird („Negation der Negation“) kann sich das Subjekt von der blinden Herrschaft des Objektszusammenhangs befreien. Spinozas Substanz, an der keine Negation der Negation stattfindet, ist somit kein Subjekt und bleibt deshalb unfrei: „Spinoza bleibt bei der Negation als Bestimmtheit oder Qualität stehen; er geht nicht zur Erkenntnis derselben als absoluter, d. h. sich negierender Negation fort; somit enthält seine Substanz nicht selbst die absolute Form, und das Erkennen derselben ist kein immanentes Erkennen.“ (Hegel, Werke, Bd. 6, S. 195; zitiert von Heilgendorff, S. 111) Heilgendorff führt in diesem Zusammenhang ein schönes Zitat aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion an, in dem die befreiende Funktion der Negation der Negation klar zum Ausdruck kommt:
Erst die Negation der Natürlichkeit, insofern diese selbst schon als das Negative ist, ist die affirmative Bestimmung der Freiheit. Indem das Andere, nämlich die Welt, das endliche Bewusstsein und die Knechtschaft und Akzidentalität desselben negiert wird, so liegt in dieser Vermittlung die Bestimmung der Freiheit. (Hegel, Werke, Bd. 17, S. 94; zitiert von Heilgendorff, S. 112)
Die Befreiung von der Knechtschaft einer fremden Objektivität durch Negation der Negation bildet das Telos von Hegels Logik. Den engen Zusammenhang zwischen Negation der Negation, Teleologie und Subjektivität erkannt zu haben bleibt ein großes Verdienst von Althussers Kritik an Hegels Dialektik. In seinem Aufsatz Über die Beziehung von Marx zu Hegel formuliert nämlich Althusser seine Forderung, die Dialektik im Sinn eines „Prozesses ohne Subjekt“ zu denken, gerade dort, wo er auf die teleologische Grundstruktur der dialektischen Figur der Negation der Negation aufmerksam macht.[2]
Die teleologische Dimension von Hegels Konzeption der Befreiung des Subjekts durch Negation der Negation stellt aber zugleich den Punkt dar, an dem seine Auffassung von Befreiung scheitert. Hegels „logischer Mystizismus“, wie ihn Marx nennt, besteht darin, das Verhältnis von Subjekt und Prädikat verkehrt aufgefasst zu haben: Das Prädikat / Begriff wird zum Subjekt der Denkbewegung erhoben, genauso wie Aristoteles in der Metaphysik die Wesensform (eidos) zur Substanz (ousia) erhoben hatte. Dieselbe Teleologie ist in beiden Fällen am Werk. Hegels „Begriff“, weit davon entfernt, das Subjekt von der Knechtschaft der Objektivität befreit zu haben, ist selbst Ausdruck von Herrschaft. Nicht im „Denken des Denkens“ oder in der teleologisch verfassten Wesensform muss das Subjekt der Befreiung gesucht werden, sondern in der Materialität der „ersten Substanzen“. Dialektik wird bei Marx materialistisch durch eine Art Rückkehrbewegung auf den ersten Aristoteles, auf den Aristoteles der Kategorien-Schrift, der die Substanz als hypokeimenon (als Subsistierendes, das nicht inhäriert) konzipiert (vgl. dazu Galvano della Volpes „Logik als positive Wissenschaft“[3]).
Die Konsequenzen von Marx’ Kritik an Hegels „logischem Mystizismus“ werden im 3. Teil der Dissertation ausführlich rekonstruiert. Heilgendorffs Argumentation in diesem Teil kulminiert in einer originellen Interpretation der Struktur des ersten Bands des Kapitals. In dieser Rekonstruktion wird klar, dass die Hypostasierung des Abstrakten zu Substanz und Subjekt der wirklichen Bewegung nicht ausschließlich im Kopf des Idealisten stattfindet, sondern mit dem sehr reellen Herrschaftszusammenhang von Wert und Kapital über das konkrete menschliche Leben koinzidiert. Die allgemeine Stoßrichtung von Heilgendorffs Interpretation ist vorgezeichnet in Hans-Jürgen Krahls Deutung der Wertabstraktion als Repression. Folgende zwei Zitate aus den Beiträgen aus den Schulungsprotokollen, auf die sich auch Heilgendorff bezieht, leiten die Problematik sehr gut ein:
Die Abstraktion hat Realität, weil sie Ausdruck eines Arbeitsteilungsverhältnisses ist, wobei dieses so strukturiert ist, dass es ein Verhältnis abstrakter Arbeit, hochentwickelter und industrialisierter Arbeit darstellt, das sich losgelöst hat von den konkreten Produzenten. […] Die Abstraktion, die Marx meint, ist eine repressive Abstraktion. Die kapitalistische Produktion als Produktion um der Produktion, aber nicht um der Konsumtion willen legt den Individuen ein Abstraktionserfordernis auf, das Marx als Abstraktion von den besonderen Gebrauchswerten, Bedürfnissen und Interessen bezeichnet und das die moderne Psychoanalyse Triebversagung nennen würde.[4] (zitiert von Heilgendorff, S. 202)
Der Wert reduziert im gesellschaftlichen Verkehr die konkreten Dinge auf die bloße Abstraktion des Werts. Wert ist die Abstraktion von den konkreten Gebrauchswerten, Individuen, Bedürfnissen und Interessen; Wert ist also Repression.[5] (zitiert von Heilgendorff, S. 149)
Die Originalität von Heilgendorffs Interpretation besteht vor allem im Versuch, die Struktur von Kapital Bd. 1 entlang der Linien zu rekonstruieren, die durch die Geschichte und Kritik der Metaphysik der Substanz, wie sie oben umrissen wurden, definiert werden. Heilgendorff sieht das Werk von Marx als „Verschränkung“ und „Vermittlung“ von zwei Totalitäten von Kategorien, in denen sich die Herrschaft des Begriffs / des Abstrakten jeweils nach spezifischen Modalitäten entfaltet (S. 175). In der Zirkulationssphäre als der ersten Totalität von Kategorien entfaltet sich der Begriff / das Abstraktum Wert; in der Produktionssphäre als der zweiten Totalität von Kategorien entfaltet sich hingegen der Begriff / das Abstraktum Kapital. Beide Abstrakta sind freilich dasselbe, nur dass die Herrschaft einmal abstrakt (Wert), einmal konkret (Kapital) betrachtet wird (ebda.). Heilgendorff schlägt auch eine interessante Analogie des Werts mit der causa sui und des Kapitals mit der causa finalis vor (ebda.). Wir möchten versuchen, diese Analogie etwas näher zu ergründen.
Heilgendorff rechnet die ersten zwei Abschnitte von Kapital Bd. 1 zur ersten Totalität der Zirkulationssphäre. Er betont mit Recht, dass Marx’ Bestimmung der gesellschaftlich notwenigen Arbeitszeit, d.h. der abstrakten Arbeit, als Substanz des Werts, nicht als Ausdruck einer „vermeintlichen ‚naturalistischen Tendenz‘ bei Marx“ aufzufassen ist (S. 199), wie dies z.B. Michael Heinrich tut. Denn die Kategorie der Substanz verweist auf den Zusammenhang von Abstraktion und Herrschaft, der sich durch die Geschichte der westlichen Metaphysik hindurchzieht, und nicht auf eine vulgäre Naturalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen. Heilgendorff will aber den Wert eben nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt auffassen, denn der Wert verwandelt sich in Kapital, wenn er anfängt, neuen Wert zu erzeugen. Auch da kann er sich mit Recht auf Marx beziehen, der im zweiten Abschnitt von Kapital Bd. 1 das Kapital als „automatisches Subjekt“ bezeichnet (MEW23, S. 169). Inwiefern ist aber dieses automatische Subjekt causa sui? Kritisierte Hegel Spinozas Substanz (die causa sui ist) nicht gerade deshalb als unfrei, weil sie eben kein Subjekt ist, das die eigene Negativität zu negieren vermögen würde? Oder versteht hier Heilgendorff unter causa sui etwas anderes als die subjektlose Substanz Spinozas?
Heilgendorff scheint selbst an einer Stelle eine Antwort auf diese Fragen zu suggerieren, nämlich dort, wo er die Grundzüge der „zweiten Totalität“ (der Kapitalverwertung) als causa finalis skizziert und sie der Wertsubstanz als causa sui entgegensetzt:
Die Formursache liegt also nicht in der Substanz selbst, sondern in den Erfordernissen des Kapitals. Die Bestimmung der Substanz vollzieht sich hier nicht an-und-für-sich naturwüchsig und autonom (als causa sui), sondern das Für-sich-sein ist bestimmt durch die Bedingungen der Mehrwertproduktion und das Telos der Verwertung des Kapitals (causa finalis). (S. 177)
Der Wert scheint causa sui zu sein, weil er automatisch-naturwüchsig sich verselbständig von den Produzenten, deren gesellschaftliche Verhältnisse die Form einer Sache annehmen, die sie beherrscht. Im Teil über die „erste Totalität der Bestimmungen der abstrakt menschlichen Arbeit“ (S. 204-233), wo der Fetischcharakter des Werts und die entsprechenden rechtlichen Fiktionen (Person, Eigentum, Vertrag) ausführlich behandelt werden, führt allerdings Heilgendorff selbst ein Zitat aus dem 4. Kapitel von Kapital Bd. 1 an, in dem Marx die „Transsubstantiation“ des Werts in Kapital als einen Prozess schildert, in dem der sich in Kapital verwandelnde Wert „als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz“ dargestellt wird. Mehr noch: als eine Person:
Er unterscheidet sich als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden in der Tat nur eine Person, denn nur durch den Mehrwert von 10 Pfd.St. werden die vorgeschossenen 100 Pfd.St. Kapital, und sobald sie dies geworden, sobald der Sohnund durch den Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr Unterschied wieder und sind beide Eins, 110 Pfd.St. (MEW23, S. 169f.; zitiert von Heilgendorff, S. 231)
Marx’ Ironie ist hier, die theologische Fiktion der Person heranzuziehen, um den Automatismus der Selbsterzeugung des Kapitals kritisch zu beleuchten. Spinoza, der mit seinem Begriff der Substanz als causa sui gerade gegen den Personalismus der Theologen Polemik führte, war sich der herrschaftskritischen Dimensionen seiner Metaphysik der Immanenz wohl bewusst. Wenn Marx hier die Theologie der Person heranzieht, dann deshalb, weil er das Kapital als Subjekt eben als Subjekt von Herrschaft, und nicht von Befreiung präsentieren will. Die „Logik vom Begriff“ bleibt für Marx, als Kritiker von Hegel, eine „Logik der Herrschaft“, und das Bild des Kapitals als Person, die sich selbst erzeugt (causa sui in einem nicht-spinozistischen Sinn), steht gerade emblematisch für diese Kritik.
Der Zusammenhang von Abstraktion und Herrschaft nimmt konkretere Formen in den Abschnitten 3 bis 6 von Kapital Bd. 1, in denen Marx die Produktion von Mehrwert thematisiert. Während in der Zirkulationssphäre das Kapital, als automatisches Subjekt, seine Herrschaft noch abstrakt ausübte – eine unpersönliche Herrschaft, die „einher[ging] mit der aus der Wertabstraktion resultierenden Freiheit und Gleichheit des Menschen als Person“ (S. 234) – treffen wir es, sobald wir die Zirkulation verlassen und in die „verborgene Stätte der Produktion“ herabsteigen, in der konkreten Gestalt der „Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter“ (ebda.). Der schon bei Aristoteles beleuchtete Nexus zwischen Zweckursache und Naturbeherrschung nimmt neue Formen an, sobald sich der Produktionsprozess „unter dem Zweck der Kapitalverwertung, als causa finalis oder Telos“ entwickelt (S. 235). Hier manifestiert sich die Herrschaft als Ausbeutung, d.h. als Klassenherrschaft (Produktion von absolutem Mehrwert; S. 242-251). Mehr noch: Nicht nur die menschliche Arbeitskraft, sondern auch die nicht-menschlichen Produktivkräfte werden als Kräfte des Kapitals entwickelt. Das Kapital beschränkt sich nämlich nicht darauf, die Produktionsmethoden und -techniken zu übernehmen, die unabhängig von seiner Herrschaft entwickelt werden. Die Produktivitätssteigerung als Imperativ der Kapitalverwertung (Produktion von relativem Mehrwert; S. 251-261) drückt sich als reelle Subsumtion des Produktionsprozesses unter das Kapital aus.
Wir gelangen somit langsam am Ende einer komplexen Geschichte, die in der Darstellung des Akkumulationsprozesses des Kapitals (Abschnitt 7 von Band 1) kulminiert. In der Kapitalakkumulation werden die abstrakte Herrschaft der Zirkulation (Wert) und die konkrete Herrschaft der Produktion (Kapital) miteinander vermittelt. Marx sagt dazu, dass „im selben Maß, wie [der Wert] nach [seinen] eignen immanenten Gesetzen sich zur kapitalistischen Produktion fortbildet, in demselben Maß schlagen die Eigentumsgesetze der Warenproduktion um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung.“ (MEW23, S. 613; zitiert von Heilgendorff, S. 264) Um dies mit Heilgendorff zu sagen: „In und vermittels des Prozesses der Kapitalakkumulation verkehrt sich so die abstrakte Herrschaft und mit ihr verkehren sich die Rechtsbestimmungen der Person in ihr Gegenteil: die konkrete Herrschaft des Kapitalisten über die Arbeitenden.“ (ebda.)
Dies soll auch der Sinn dieser ganzen komplexen Geschichte sein: Kategoriale Kritik soll immer zugleich auch Kritik an den realen Herrschaftsverhältnissen sein, die in den Kategorien ausgedrückt werden. Heilgendorff schließt mit seiner Dissertation an die materialistische Kritik an Hegels idealistischer Dialektik an, die von der Kritischen Theorie entwickelt wurde. Der Anspruch auf absolute und abgeschlossene Sinndeutung, die von Hegel erhoben wird, ist selbst Ausdruck von Herrschaft. Kategoriale Kritik soll Kritik an der Subsumtion des Konkreten unter den Begriff sein. Dialektik kann nicht wie bei Hegel einen Abschluss im Abstraktum des Staates finden – „der Marx zufolge praktisch daseiender Idealismus ist“, um Hans-Jürgen Krahl nochmals zu zitieren.[6] Nur die hartnäckige Widerständigkeit des Konkreten, die Materialität von Aristoteles’ „ersten Substanzen“, das Nicht-Identische und Nicht-Subsumierbare im hypokeimenon – nur all das verhindert den Abschluss des Systems und kann ein Subjekt der Befreiung konstituieren, das dem durch Hegels Begriff konstituierten absoluten Herrschaftssubjekt (dem Staat) sich entgegensetzen kann. Revolution im Idealen zu suchen, ist illusorisch. Nur was sich der Subsumtion materiell entzieht, kann Herrschaft subvertieren. Das ist, was wir von Heilgendorff gelernt haben.
[1] Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der hegelschen Logik; Frankfurt a.M., 1980.
[2] Louis Althusser: Über die Beziehung von Marx zu Lenin; in: Lenin und die Philosophie; Hamburg, 1974, S. 62f.
[3] Galvano della Volpe: Logica come Scienza positiva; Messina / Firenze, 1950.
[4] Hans-Jürgen Krahl: Beiträge aus den Schulungsprotokollen; in: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution; Frankfurt a.M., 1971, S. 379
[5] Ebda., S. 385
[6] Ebda., S. 379