Eine Studie der Universität Hohenheim kam zu dem Ergebnis, dass ein Viertel der Deutschen glauben, Politik werde von “geheimen Mächten” gesteuert und die Regierenden “betrügen das Volk”. Parteipolitisch werden diese Ressentiments von der AfD bedient und so überraschen die Ergebnisse des aktuellen DeutschlandTrends kaum: Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, würde die AfD 23 Prozent erreichen und damit die zweitstärkste Partei im Parlament werden.
Die Strategien, mit den ständig steigenden Umfragewerten der AfD umzugehen, sind unterschiedlich.
So hat Anne Will in ihre gleichnamige politische Talkrunde in der ARD seit zwei Jahren keine AfD-Politiker*innen mehr eingeladen. Laut Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, ist das gerechtfertigt, weil AfD-Politiker Innen “provozieren – und dann wird im Großteil der Sendung über diese Provokation gesprochen, statt über das ursprüngliche Thema” (Stuttgarter Zeitung, 01.12.2023[1]).
Auch im politischen finden sich ähnliche Vorgehensweisen. Um AfD-Kandidaten bei Stichwahlen für Bürgermeister- oder Landratsämter zu verhindern, haben sich zuletzt die übrigen Parteien häufiger zusammengetan und eine Wahlempfehlung für Gegenkandidaten ausgesprochen[2].
Verfechter dieser Verfahrensweisen beziehen sich dabei auf Aussagen und Auffassungen von AfD-Politiker*innen, die liberalen Werten zuwider laufen. Es handelt sich dabei beispielsweise um Aussagen, die Gastarbeiter, aufgrund ihres “Gastarbeiter-Seins”, als Gesindel bezeichnen(Nikolaus Fest, AfD[3]). Aussagen wie diese widersprechen liberalen Werten, in diesem Fall zum Beispiel den universellen Menschenrechten: Alle Menschen sind mit gleichen Rechten ausgestattet, die unveräußerlich, unteilbar und universal gültig sind. Da die AfD immer wieder liberalen Werten widerspricht, und diese Kritik als ihr Markenzeichen ausweist, wird sie von Diskursen und politischen Ämtern ausgeschlossen, obwohl sie von einem Teil des Volkes legitimiert wurde. Dieser Widerspruch stößt so manchem Bürger bitter auf: “Mehr als ein Drittel der Befragten (35 Prozent) im aktuellen DeutschlandTrend für das ARD-Morgenmagazin empfindet diese Handlungsweise als falsch.”[4]
Man spricht hier vom sogenannten “Demokratie-Paradox”: Auf der einen Seite steht das alte demokratische Prinzip, dass die Macht vom Volk ausgeübt werden sollte. Auf der anderen Seite wird diese Volkssouveränität durch die Werte der individuellen Freiheit und der Menschenrechte beschnitten. Diese Werte sind von zentraler Bedeutung für die liberale Tradition und konstitutiv für die moderne Weltanschauung. Dennoch sollte man sie nicht in einen Topf mit der demokratischen Tradition werfen, deren Kernwerte, Gleichheit und Volkssouveränität, andere sind.
Liberalismus und Demokratie
Liberalismus und Demokratie werden oftmals als untrennbare Konzepte präsentiert, im Begriff der “liberalen Demokratie”. Jedoch priorisieren die beiden Traditionen unterschiedliche, im Kern widersprüchliche Dinge (vgl. Chantal Mouffe, 2005)[5].
Um diese Aussage besser zu verstehen, müssen wir uns mit den Ursprüngen des Liberalismus beschäftigen. Der Liberalismus findet seinen philosophischen Ursprung in der ‘Aufklärung’, einer geistigen Bewegung die Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand. Sie stellte die Machtdominanz der Kirche und des Adels zu Gunsten der Bourgeoisie (des wohlhabenden Bürgertums) infrage. Jeder Mensch habe unveräußerliche Menschenrechte aufgrund seines Menschseins, und somit sei ein göttlich legitimierter Herrschaftsanspruch (von Monarchen) hinfällig. Letzteres wurde als Aberglaube verstanden, von dem sich der Mensch befreien könne, indem er sich seiner Vernunft bediene.
Klassische Liberale Werte, wie beispielsweise vertreten von John Locke, verfechten außerdem, dass der Freiheit und dem öffentlichen Interesse besser gedient sei, wenn man Entscheidungen Privatpersonen überlässt und die Freiheit des Einzelnen, insbesondere die Freiheit vom Staat betone. Das Recht des Einzelnen im Politischen und die Eigeninitiative des Einzelnen im Wirtschaftlichen stehen im Mittelpunkt. Individuelle Freiheit und Menschenrechte sind also zentral.
Demokratien hingegen fußen theoretisch auf der Unterscheidung von Menschen: Während das liberale Verständnis von Gleichheit aussagt, das jeder Mensch jedem Menschen gleich ist, kann sich diese Gleichheit in einer Demokratie nur auf den Demos beziehen. Carl Schmitt stellt fest, dass es demokratietheoretisch darauf ankommt, eine Trennlinie zu ziehen zwischen denen, die dem Demos angehören – und daher gleiche Rechte haben – und denen, die in einem politischen Bereich nicht die gleichen Rechte haben können, weil sie nicht Teil des Demos sind. Das zeigt sich beispielsweise am Konzept der Wahlberechtigten. Die Teilnahme an der Wahl setzt voraus, dass nicht alle Menschen zum Demos gehören (und somit gleich sind), sondern nur Staatsbürger*innen eines Landes, deren Stimmen in der Wahl widerrum gleich gewichtet werden.
Desweiteren zeichnen sich Demokratien auf theoretischer Ebene durch die uneingeschränkte Macht des Demos aus, während diese Macht – durch die Verschmelzung der beiden Konzepte – praktisch durch den Liberalismus beschnitten wird. Letzterer weist bestimmte Rechte als indiskutabel aus. Diese Rechte stehen dann selbst in einer Demokratie nicht mehr zur Abstimmung.
Doch auch im Liberalismus an sich finden sich grundlegende Widersprüche.
Liberalismus und Kapitalismus
Der Liberalismus schmückt sich mit der Verteidigung unveräußerlicher Menschenrechte. Doch die Gleichheitsansprüche in Form von unveräußerlichen Menschenrechten begrenzten sich von Beginn an nur auf Europa. John Stuart Mill machte beispielsweise in On Liberty and Representative Government deutlich, dass seine dort vertretenen Ansichten nicht auf Indien angewandt werden können, weil die “Inder” zivilisatorisch, wenn nicht gar racially, minderwertig seien. Eine ideologische Notwendigkeit, da sonst die Kolonialisierung der restlichen Welt aus Profitgründen nicht zu rechtfertigen gewesen wäre.
Das Ermöglichen von Kapitalakkumulation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Liberalismus. So wurde der Anspruch der Gleichheit von Beginn an von der Bourgeoisie vorangetrieben, um die eigenen Kapitalakkumulationsambitionen zu legitimieren und zu ermöglichen. Waren diese zur Zeit des Absolutismus noch beschränkt, änderte sich dies mit dem Liberalismus. Dieser beschränkt den Staat, was die Freiheit des (Kapital-) Marktes komplementiert. Ähnliches lässt sich auch in Hinblick auf den liberalen Wert der Gleichheit feststellen:
“Einerseits wird die Forderung nach Gleichheit soweit politisiert, dass sie den revolutionären Sturz aller Ordnungen rechtfertigt, in denen rechtliche Ungleichheit herrscht. Anderseits wird die politisch-revolutionäre Durchsetzung der Gleichheit aber einzig und allein auf die Gleichheit subjektiver Rechte begrenzt, womit − über die juridische Entpolitisierung der Gesellschaft – ideale Voraussetzungen für die funktionale Herrschaft des Kapitals geschaffen werden. [...] Da der Kapitalismus auf Privateigentum, Konkurrenz und Profit basiert, ist das liberale Freiheitsversprechen folglich nicht ungetrübt. Seine aus dem Kampf gegen den Absolutismus der Staatsgewalt gewonnene emanzipatorische Energie wird durch ein marktkonformes Freiheitsverständnis substituiert, das selbst keineswegs zwanglos ist” (Luxembourg, 2017[6]).
Die Auswirkung dieser liberalen Dialektik auf das Proletariat wurde von Karl Marx als “doppelte Freiheit” beschrieben. Der Arbeiter “muss zum einen persönlich frei sein, um seine Arbeitskraft verkaufen zu können bzw. dürfen und zum anderen muss er „frei“ von Produktionsmitteln sein, um seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen” (wgb, 2021[7]). Daraus entstehen neue strukturelle Zwänge und soziale Ungleichheiten.
Von Keynese zum Neoliberalismus
Diese Zwänge und soziale Ungleichheiten manifestieren sich in der Geschichte des Kapitalismus in unterschiedlichem Ausmaß.
Der Kapitalismus war für die breite Masse im globalen Süden bereits seit seinen Anfängen desaströs, durch den Wertetransfer von Süd nach Nord, nicht nur durch den Handel von Rohstoffen, sondern auch von Arbeitskraft (beginnend mit dem seines Gleichen suchenden transatlantischen Sklavenhandel zur Produktionssteigerung in den Amerikas). Im globalen Norden profitierte die Arbeiterklasse zumindest temporär von der Übertragung der Werte von der Peripherie ins Zentrum.
Nachdem die Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre die kapitalistische (wirtschaftliche) Ordnung ins Mark erschütterte und den Weg zur Macht für Faschisten ebnete, so waren die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg bis hin zu den siebziger Jahren von einem Kapitalismus nach Keynese gekennzeichnet. Sozialdemokratische Staatsformationen der europäischen Nachkriegszeit limitierten die Ausbeutung der Arbeiter*innen. Die damalige Denkweise wird durch einen Text von zwei herausragenden Sozialwissenschaftlern, Robert Dahl und Charles Lindblom, aus dem Jahr 1953 gut illustriert. Sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus seien in ihrer ursprünglichen Form gescheitert, argumentieren sie. Der einzige Weg in die Zukunft bestehe darin, die richtige Mischung aus Staat, Markt und demokratischen Institutionen zu schaffen, um Frieden, Integration, Wohlstand und Stabilität zu gewährleisten.[8]
Nachdem es aber Ende der 60er Jahre zu einer Stagnation mit hohen Inflationsraten und ungleichmäßigem wirtschaftlichem Wachstum kam, sah die kapitalistische Elite ihre Vormachtstellung in Gefahr. Der Neoliberalismus als potenzielles Gegenmittel geisterte bereits seit einiger Zeit in akademischen, politischen und elitären Kreisen herum. So hatte bereits die sogenannte “Mont Pelerin Society” 1947 rund um den politischen Philosophen Friedrich von Hayek für eine neoliberale Kehrtwende geworben. Und die jahrzehntelange Interessenvertretung trug Früchte. Die Zeit des Neoliberalismus brach an, der sich weltweit sehr unterschiedlich durchsetzte. Der Theorie zufolge soll der neoliberale Staat starke individuelle Privateigentumsrechte, die Rechtsstaatlichkeit und frei funktionierende Märkte sowie freies persönliches Handeln fördern. Das Individuum steht im Mittelpunkt.
Doch auch der Neoliberalismus ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Es besteht ein Widerspruch zwischen einem verführerischen, aber entfremdeten Individualismus auf der einen Seite und dem Wunsch nach einem sinnvollen kollektiven Leben auf der anderen. Der Einzelne hat zwar oberflächlich die freie Wahl, soll sich aber nicht für den Aufbau starker kollektiver Institutionen (wie Gewerkschaften) entscheiden. Schwache, freiwillige Vereinigungen (wie Wohltätigkeitsorganisationen) werden priorisiert. Die Bevölkerung solle sich außerdem nicht zu politischen Parteien zusammenschließen, die den Staat dazu zwingen, in den Markt einzugreifen oder ihn fundamental zu beschneiden. Die größten Gefahren für den Neoliberalismus beschreibt David Harvey als Rassismus, Kommunismus, Sozialismus, autoritärer Populismus und sogar Mehrheitsherrschaft. Um sich davor zu schützen, müsse die neoliberale Ordnung die demokratische Regierungsführung stark einschränken und sich stattdessen auf undemokratische und nicht rechenschaftspflichtige Institutionen (wie das IMF) zur Entscheidungsfindung verlassen (vgl. David Harvey, A Brief History Of Neoliberalism). Dies führt zu dem Paradoxon intensiver staatlicher Interventionen und einer Regierung durch Eliten und “Experten” in einer Welt, in der der Staat eigentlich nicht intervenieren sollte.
Hier zeigt sich erneut das Demokratie-Paradox, das Spannungsfeld zwischen (neo-) liberalen Werten und der Demokratie im klassischen, griechischen, Sinne, verstanden als ‘Herrschaft Aller über Alle’. Die Individualität wird gegenüber der Kollektivität referiert. Dies, und die Eigeninitiative im Wirtschaftlichen, wird als logische Schlussfolgerung des rational handelnden Menschen, basierend auf der Epoche der Aufklärung, und als notwendiger Schritt zur weltweiten Armutsbekämpfung verstanden. Auch der Neoliberalismus als Kind des Liberalismus und somit Spezifität des kapitalistischen Systems geht auf Kosten der ‘Volksherrschaft’.
Die heuchlerische Kritik von Rechts
Die heute vorherrschende Tendenz besteht darin, Demokratie so zu konzipieren, dass sie fast ausschließlich mit dem Rechtsstaat, universellen Rechten und dem Kapitalismus identifiziert wird. Das Element der Volkssouveränität gilt als überholt und wird zur Seite geschoben. Wie wir in den vorherigen Abschnitten feststellen konnten, entstehen hieraus unterschiedliche Widersprüche und ein demokratisches Vakuum.
Rechtspopulistische Parteien weltweit, und die AfD in Deutschland, positionieren sich clever an dieser Spannungslinie. Die AfD prangert beispielsweise an, dass die Corona-Maßnahmen in Deutschland nicht direkt demokratisch legitimiert wurden, sondern per Erlass. Sie zeigt auf, dass während der Pandemie demokratische Legitimierung liberalen Werten – wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit – untergeordnet wurden. Die Bekämpfung der Unterordnung demokratischer Prinzipien unter liberalen Prinzipien hat sich die AfD auf die Fahne geschrieben: Schaut man in das Wahlprogramm der AfD, befasst sie sich in den ersten zwei Abschnitten mit den Themen: “das Volk ist der Souverän” und “Volksabstimmungen nach Schweizer Modell” (AfD, Wahlprogramm[9]).
Doch noch einen weiteren Widerspruch des Liberalismus machen sich Faschisten zu Nutze, wie am Beispiel von Migration aufgezeigt werden kann. Während liberale Stimmen begründet in den universellen Menschenrechte Migration zumindest legitimieren, lassen sie völlig außen vor, dass es im Kapitalismus, und insbesondere im Neoliberalismus, mit dem Dogma der unantastbaren Rechte des Eigentums, die allumfassenden Tugenden des Marktes und die Gefahren eines Eingriffs in seine Logik, aus Sicht von Arbeiter*innen – vorausgesetzt man folgt der kapitalistischen Logik – rational argumentiert werden kann, keine weiteren Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt aufzunehmen. Diese Spannungslinie zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern in verschiedenen Nationen wird durch die Verlagerung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer noch verstärkt. Wenn sich die Kritik der etablierten Parteien dann nicht in Richtung Kapitalakkumulation richtet, befinden wir uns schnell in einer Situation, in der ArbeiterInnen gegen ArbeiterInnen ausgespielt werden können. Das machen sich Faschisten zu Nutze.
Doch auch wenn sich die AfD (und andere Parteien derselben Coleur) den Wählerinnen und Wähler als einzige Partei, die sich dem sogenannten Establishment entgegenstellt, präsentiert, ist es mit ihrer Rebellion nicht weit her. Sie kritisieren Teile des Liberalismus, sind aber weit entfernt von einer voll umfassenden Missbilligung: Der Liberalismus wird verteufelt, der dazugehörende Kapitalismus aber legitimiert. Das politische System kann jedoch nicht getrennt vom wirtschaftlichen System, dem Kapitalismus betrachtet werden. Letzteres bringt systematische Ungleichheit hervor, die sich Faschisten zu nutze machen, in letzter Konsequenz aber gar nicht ändern wollen. Sie verteufeln also auf der einen Seite den Liberalismus, folgen ihm aber nichtsdestotrotz.
Neben offensichtlich faschistischen Ansichten muss in Bezug auf die AfD also kritisiert werden, dass sie nicht wirklich systemkritisch ist. Sie hinterfragt nicht den Status Quo, das kapitalistische System, sondern belässt es dabei, die liberale, repräsentative Demokratie zu kritisieren. Sie betrachtet das System wie einen erkrankten Menschen: Nur der Blinddarm, beispielsweise Migration oder das ‘Establishment’ muss entfernt werden, dann wird der Patient genesen. Hier unterscheidet sich die AfD kaum von den anderen Parteien. Der Kapitalismus ist ‘off limits’.
Der Staat und der Kapitalismus
In Bezug auf den Staat stellt der Philosoph Poulantzas fest, dass es sich hierbei um eine Art institutionelle Kristallisation der Klassenverhältnisse handelt. Durch seine bloße Existenz schafft der Staat einen “politischen” Raum, in dem soziale Konflikte ausgetragen werden, ohne dass sie jemals in den Bereich der Produktion überschwappen müssen. So gibt es z.B. keine direkten Forderungen der ArbeiterInnen an die Eigentümer des Kapitals (den ArbeitgeberInnen). Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital wird in das parlamentarische System verlagert. Ebenso muss der Staat, so Poulantzas, im Interesse der Stabilität eingreifen, wenn der Kapitalismus in Schwierigkeiten ist.
So nutzen beispielsweise Martin Carnoy und Manuel Castells die Ideen von Poulantzas, um die ersten Schritte der Globalisierung zu erklären. Sie argumentieren, dass sie von den Regierungen eingeleitet wurde, um die destabilisierenden Probleme der 1970er Jahre zu beheben: sinkende Gewinne, schwache Gewerkschaften und weniger Möglichkeiten für rentable Investitionen. Die Globalisierung wurde in der Tat vom Staat als Ausweg aus der Krise herbeigeführt. Nicht unter dem Kommando der Konzerne, aber mit Sicherheit mit den Interessen der Konzerne als grundlegendem Anliegen. Der Staat ist also ein stabilisierendes Element, der einen bestimmten Zweck verfolgt: ein potenziell konfliktreiches und krisenanfälliges System in ein nachhaltiges System einzubinden. Der Staat kann also verschiedene Dinge tun, die dem Kapital auf kurze Sicht missfallen könnten, wie z. B. Steuern erheben, um Dienstleistungen oder Infrastrukturen zu finanzieren, die aber für den Erhalt des Systems notwendig sind (Charles Umney, 2018).
Mit diesem Verständnis im Hinterkopf erscheint es nicht überraschend, dass ein Viertel der Deutschen glaubt, dass Politik in Deutschland von „geheimen Mächten“ gesteuert werde und ein Viertel meint, die Regierenden „betrügen das Volk“. Geheime Mächte müssen hier nur mit ‘kapitalistischen Interessen’ ersetzt werden, und diese Aussage erscheint nicht mehr ganz so abwegig.
Seit Mitte der 1980er Jahre haben wir viel über den Niedergang des Links-Rechts-Gegensatzes gehört. Parteien siedeln sich in der sogenannten ‘Mitte’ an. Das bedeutet, dass sie oberflächlich unterschiedliche Interessen vertreten, jedoch alle in der Logik des Neoliberalismus/Kapitalismus denken. Das zeigt sich beispielsweise an der Partei ‘Bündnis 90/Die Grüne’. Trotz dessen, dass der systematische Zusammenhang zwischen der globalen Produktionslogistik und der Klimakrise offenkundig bekannt ist, wird das derzeitige Wirtschaftssystem nicht fundamental kritisiert.
Heutzutage bewegt sich die Politik vermeintlich auf neutralem Terrain: Das kapitalistische Terrain als Ausgangspunkt. Es seien Lösungen verfügbar, die alle zufrieden stellen könnten.
Diese typisch liberale Perspektive ist unrealistisch und wird derzeit, wenn auch nicht ehrlich, von der AfD infrage gestellt. Dank einer geschickten populistischen Rhetorik und massiver finanzieller Unterstützung sind sie in der Lage, sich als einzige Garanten für die Souveränität des Volkes zu präsentieren. Eine solche Situation wäre nicht möglich gewesen, wenn es im Rahmen des traditionellen demokratischen Spektrums mehr echte politische Wahlmöglichkeiten gegeben hätte. Doch dafür müsste auch das wirtschaftliche System zur Verhandlung stehen. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt sich auch an der Studie der Universität Hohenheim. Das Ergebnis, dass sich rechtspopulistische Ansichten tendenziell stärker bei Personen mit niedriger formaler Bildung und bei Menschen in Ostdeutschland finden, wird ohne jegliche Einordnung präsentiert. Dabei wird einfach unterschlagen, dass beide Gruppen tendenziell eher zu Verlieren im kapitalistischen System gehören. Diese fehlende Einordnung führt zu einer weiteren Verarmung der ohnehin schwachen politischen Öffentlichkeit.
Schlussfolgerung
Auch angesichts der oben skizzierten Kritik an liberalen Werten halte ich es für vorschnell, universale Rechte grundsätzlich abzulehnen. Doch ich rede hier nicht von abstrakten Idealen oder formalen Prinzipien. David Harvey und David Wengrow befassen sich in ihrem bahnbrechenden Buch “The Dawn of Everything” mit grundlegenden Formen sozialer Freiheit, die man tatsächlich in die Praxis umsetzen kann und die bereits existiert haben:
(1) die Freiheit, sich von seiner Umgebung zu entfernen oder zu verlagern; (2) die Freiheit, von anderen erteilte Befehle zu ignorieren oder zu missachten; und (3) die Freiheit, völlig neue soziale Realitäten zu schaffen oder zwischen verschiedenen Realitäten hin und her zu wechseln. Sie stellen fest, dass die ersten beiden Freiheiten – der Ortswechsel und die Befehlsverweigerung – oft als eine Art Gerüst für die dritte, kreativere Freiheit fungierten. Solange die ersten beiden Freiheiten als selbstverständlich angesehen wurden, wie es in vielen nordamerikanischen Gesellschaften der Fall war, als die Europäer sie zum ersten Mal entdeckten, konnten die einzigen Könige, die es geben konnte, letztlich immer nur Spielkönige sein. Wenn sie die Grenze überschritten, konnten ihre ehemaligen Untertanen sie jederzeit ignorieren oder woanders hinziehen.
Die drei Grundfreiheiten haben sich allmählich zurückgebildet, bis zu dem Punkt, an dem die Mehrheit der heute lebenden Menschen kaum noch nachvollziehen kann, wie es sein könnte, in einer Gesellschaftsordnung zu leben, die auf diesen Freiheiten beruht (2021, S. 503).
Es ist also ein Kampf zu führen, nicht nur darüber, welche Universalien geltend gemacht werden sollten, sondern auch darüber, wie universelle Prinzipien und Vorstellungen von Rechten konstruiert werden sollten. Die Verbindung des Neoliberalismus als politisch-ökonomische Praxis mit universellen Rechten einer bestimmten Art als exklusive ethische Grundlage für moralische und politische Legitimität sollte uns alarmieren. David Harvey sagte, er könne niemanden mit philosophischen Argumenten überzeugen, dass das neoliberale Rechtsregime ungerecht sei. Aber der Einwand gegen dieses Rechtsregime ist ganz einfach: Es zu akzeptieren bedeutet, dass wir keine andere Wahl haben, als unter einem Regime der endlosen Kapitalakkumulation und des Wirtschaftswachstums zu leben, unabhängig von den sozialen, ökologischen oder politischen Folgen.
[3]https://www.goslar-gegen-rechtsextremismus.de/html/afd-sprueche.php
[5]https://monoskop.org/images/4/41/Mouffe_Chantal_The_Democratic_Paradox_2000.pdf
[8] R. Dahl and C. Lindblom, Politics, Economy and Welfare: Planning and Politico-Economic Systems Resolved into Basic Social Processes (New York: Harper, 1953).