Zu den Aufzeichnungen von Gunilla Palmstierna-Weiss*
Eben noch war sie auf einer kurzen Lesetour mit ihrer Autobiografie «Eine europäische Frau», die vor kurzem auf Deutsch erschienen ist. Am 20. November ist Gunilla-Palmstierna-Weiss im Alter von 94 Jahren gestorben.
«Eine europäische Frau» ist ein Buch von und über Gunilla Palmstierna-Weiss. Es ist auch ein Buch über den Schriftsteller Peter Weiss, mit dem sie dreissig Jahre lang zusammengelebt hat. Aber das ist es erst in zweiter Hinsicht. Denn, wie der Titel verspricht: Hier spricht eine weltgewandte Frau in ihrem eigenen Namen. Gunilla Palmstierna, Keramikerin, Bühnenbildnerin, Netzwerkerin, Aktivistin.
Und so beginnt diese Geschichte.
Die Enkelin eines reich gewordenen jüdischen Buchdruckers aus Deutschland, der sich in Nordschweden angesiedelt hat, heiratet einen Angehörigen aus schwedischem Adel, gegen den Widerstand von dessen Familie. Die 1928 geborene Tochter Gunilla wird nach der frühen Scheidung der Mutter mit vier Jahren zu einer Pflegefamilie gegeben. Zurück bei der Mutter Vera leben Gunilla und ihr zwei Jahre älterer Bruder Hans in Stockholm als Schlüsselkinder. Die Mutter ist Schauspielerin, pflegt intellektuelle und künstlerische Freundschaften im Salon ihres Hauses. Die Sommeraufenthalte werden bei den Grosseltern väterlicherseits, den Palmstiernas, verbracht. Dort befreundet sich Gunilla mit einer Cousine, deren Vater aus französisch hugenottischem Adelsgeschlecht stammt.
1936 lebt sie mit der Mutter ein paar Monate in Wien, diese bewegt sich in psychoanalytischen Kreisen um Sigmund Freud und heiratet einen wohlhabenden holländischen Psychiater. 1937, als Gunilla neun Jahre alt ist, übersiedelt die Mutter mit den beiden Kindern nach Holland; die Kinder werden zumeist von Kindermädchen betreut. Mit zwölf Jahren erlebt Gunilla die Bombardierung von Rotterdam; gegen Kriegsende wird ihr Stiefvater von den Nazis verhaftet, sie begleitet die Mutter bei einem Bittgang ins Nazi-Hauptquartier in Den Haag. In Stockholm wie in Wien und dann in Rotterdam wechselt sie häufiger die Schule, erhält auch Privatunterricht.
Nach Kriegsende, mit siebzehn Jahren, ist Gunilla zurück in Schweden. Sie beginnt ein kunsthandwerkliches Studium, betreut die psychisch immer labilere Mutter und den jüngeren Halbbruder. Nach dem frühen Tod der Mutter wird sie 1947 vom Stiefvater aus der elterlichen Wohnung geschmissen, und der reisst auch das mütterliche Erbe an sich. 1948 geht Gunilla als Neunzehnjährige eine Ehe mit einem Kunstmaler ein; da sie noch nicht volljährig ist, braucht es dazu die Einwilligung des schwedischen Königs.
Kein Erbarmen
Da sind wir bereits, oder erst, auf Seite 145 dieser autobiografischen Aufzeichnungen von Gunilla Palmstierna-Weiss, und es gibt schon Schicksale und Erlebnisse und Anekdoten genug für mehrere Leben. Abspielen tun sich Kindheit und Jugend in der niedrigen schwedischen Aristokratie sowie in der holländischen und französischen Haute Bourgeoisie, alles durchsetzt von Snobismus und Klassendünkel und erschüttert durch gelegentliche Eheskandale.
Ja, in diesen Kreisen herrschen brutale Sitten der Ausgrenzung. Insbesondere wenn es ums Geld geht, kennen die Adligen und Reichen kein Erbarmen.
Der Haushälterin, die die Grossmutter Palmstierna fünfzig Jahre lang bedient, davon zehn Jahre als Alzheimer-Patientin betreut hat, wird nach dem Tod der Grossmutter auf deren Anwesen gnädig ein heruntergekommenes Zimmer ohne warmes Wasser und Toilette zugestanden, das die Haushälterin bis ins hohe Alter bewohnt. «Nicht einmal in meiner wildesten Fantasie hätte ich mir ausmalen können, dass das alte Klassendenken noch in diesem Ausmass existierte» (63), kommentiert Gunilla.
Das von ihrer Familie väterlicherseits geerbte Geld, mit dem Mutter Vera den von seiner Familie geächteten Ehemann finanziert hat, geht nach der Scheidung durch juristische Kniffe an den Ex-Ehemann über; für die Kinder bleibt praktisch nichts übrig.
Überforderungen
Gunilla Palmstierna ist, durch eine in vielem auf sich gestellte Jugend gestärkt, früh selbstständig geworden. Die Beziehung zur Mutter war nicht einfach. Vera ist in der Mutterrolle überfordert und überfordert ihre Kinder, behandelt sie als Erwachsene. So erzählt sie der sechsjährigen Gunilla von einem Suizidversuch und der Todeskälte, die sie bereits gespürt habe. Umgekehrt eröffnet sie ihren Kindern früh die Welt der Kunst und fordert selbstständiges Denken. «Hans und ich hatten uns daran gewöhnt, allein zurechtzukommen. Veras Liebhaber kamen und gingen, das hatte auf das Leben von Hans und mir keinen Einfluss. Es spielte keine Rolle, ob es Männer oder Frauen waren. Hauptsache, sie respektierten uns.» (49f.) Die Selbstständigkeit bringt wiederum eine allzu grosse Verantwortung mit sich. 1946, nach einem weiteren Suizidversuch stirbt Vera im Krankenhaus, unter erbärmlichen Umständen, und die achtzehnjährige Gunilla macht sich Vorwürfe, dass sie nicht die letzten Stunden mit mir verbracht habe; in ihren Aufzeichnungen deutet sie bitter an, dass dem Suizid wohl ein körperlicher Streit mit dem Ehemann vorausgegangen war.
Es war, meint sie über Vera, in einer patriarchalen Gesellschaft «ein vergeudetes Frauenleben» gewesen: «Nie wurde ihr die Achtung zuteil, die sie angesichts ihrer Fantasie, ihrer Intelligenz und ihrer aufgeweckten Art verdient hätte.» (133)
Nach dem Krieg wieder in Stockholm, beginnt Gunilla eine Ausbildung an der Hochschule für Handarbeit und Handwerk. Ihr Stiefvater finanziert die Ausbildung unter der Bedingung, dass sie sich um den Halbbruder Allan kümmert, worauf sie den Sechsjährigen zur Verblüffung von LehrerInnen und MitschülerInnen in die Webkurse mitnimmt, wo er zum «Maskottchen» (116) des Kurses wird. Unter Druck der Familie heiratet sie, ein wenig zufällig den etliches älteren Zeichner Mark Sylwan. Das erleichtert die Wohnungssuche in der Altstadt von Stockholm. Sylwan, ein politischer Karikaturist von etlichem Renommee, führt Gunilla in die Kunst- und Politszene ein, wo sie aber eher als dessen Anhängsel betrachtet wird. Die Geschlechterstereotypen spielen auch in der Ehe. Ihr Mann beansprucht in der Wohnung viel Platz zum Arbeiten, während Gunilla in eine Ecke gedrängt wird; die Zeit für die eigene Arbeit wird noch knapper, als sie im November 1949 den Sohn Mikael zur Welt bringt. Auch an der Kunsthochschule muss sie gegen Diskriminierungen als Frau ankämpfen, und man merkt es dem Text an, dass Gunilla Palmstierna-Weiss noch während der Niederschrift gegen die damaligen Kränkungen anschreibt.
Schicksale
Geschrieben sind diese auf schwedisch bereits 2013 erschienenen, für die deutsche Ausgabe überarbeiteten Memoiren in einem direkten, zupackenden Stil, wobei der gelegentliche Sarkasmus zumeist zwanglos der Sache entspringt. Auf wenigen Seiten werden Schicksale lebendig: etwa das von Murre, einem unehelichen Sohn aus der väterlichen Linie, der von der Familie nie akzeptiert wurde. «In diesem grossen Zuhause hatte er die Rolle eines Dienstboten und Aufpassers und trug stets die Livree eines Dienstboten. Selbstverständlich wurde er nicht bezahlt. Er bekam Kost und Logis und wohnte im Dienstbotenbereich.» (158) Später bezog er eine kleine Wohnung und hütete zuweilen das kleine Kind von Gunilla. Er liebte «grosse kräftige Lastwagenfahrer» und hatte einen festen Freund, Sigge. Ein homosexueller Pfarrer traute die beiden in der Wohnung. «Sigge erschien im Frack und Murre mit Schleier.» Als Murre an Magenkrebs erkrankte, kümmerten sich Sigge und Gunilla um ihn, bis Sigge – vermutlich – Sterbehilfe leistete. «Die reichen Halbgeschwister kamen und holten sich das Wenige, was es noch in Murres Zuhause gab. Sigge wurde nie erwähnt.»
1949 lernt Gunilla Peter Weiss kennen. Damit sind wir auf Seite 175 angekommen, und die folgenden Passagen erwecken, zugestanden, ein zusätzliches Interesse. Peter tritt bei der ersten Begegnung als Kultursnob auf, dem Gunilla aber Paroli zu bieten vermag. Gunillas Ehemann reicht kurz darauf die Scheidung ein; 1952 ziehen Peter und Gunilla zusammen. Peter Weiss, geboren 1916, hat bereits zwei Heiraten hinter sich. Drei Kinder bringen die beiden Partner in die Beziehung ein. Patchworkfamilien, so lässt sich lernen, sind nichts Neues, wobei Gunilla nicht müde wird, zu betonen, dass Schweden bezüglich der Frauenrechte Deutschland weit voraus gesehen sei – was angesichts der Schicksale wie das ihrer Mutter doch ein wenig fraglich scheint.
Das erste Jahrzehnt der Beziehung ist durch die steten Bemühungen von Peter Weiss um künstlerische Anerkennung als Schriftsteller und Maler geprägt. Gunilla Palmstierna ihrerseits bildet sich an der Kunsthochschule vielfältig weiter, in Keramik, Bildhauerei, Webkunst, Malerei, ja, sie lernt auch Schweissen. 1952 schliesst sie das Studium ab – ohne Diplom, da sie laut offizieller Lesart zu oft die Fächer gewechselt habe. Während die Männer Jobs als Designer in der Industrie finden, übernimmt Gunilla mit zwei anderen Frauen eine Keramikmanufaktur, und sie öffnen ihr Atelier und arbeiten vor Publikum, werden zu einem Geheimtipp.
Stockholmer Szene
In den Fünfzigerjahren bildet sich eine Stockholmer Szene, sie dreht sich vor allem um Kunst und Theater, auch ein wenig um Jazz und etwas mehr um Erotik. Fast täglich trifft man sich zu opulenten – aber nicht gerade feinschmeckerischen – Essen und Diskussionen: «Es war eine mentale Überlebensfrage, zu begreifen, für wen man eigentlich schöpferisch tätig ist und welche Möglichkeiten es gibt, als Künstler seinen Lebensunterhalt zu bestreiten» (226). Namen und Ereignisse drängen sich; Stockholm wird als ein europäisches «Zentrum für Kunst, Film, Musik, Tanz und Happenings» (246) vorgestellt, und namentlich als eine Drehscheibe für die Einführung US-amerikanischer Kunst auf den europäischen Kontinent. Auch einige lang dauernde Freundschaften mit Frauen entwickeln sich in dieser Zeit.
Als Peter Weiss sich dem Filmemachen zuwendet, ist Gunilla dabei, sie spielt sogar eine Hauptrolle in dessen Spielfilm «Hägringen». Peter ist ein schwieriger Lebenspartner, hypochondrisch, selbstgerecht, phobisch lärmempfindlich, ein, vorerst unverbesserlicher, Schürzenjäger. Zugleich ist er vielseitig interessiert und gebildet, mitreissend, engagiert, aufgeschlossen. Später, nach einer grundsätzlichen Krise, hat Gunilla ihre Gemeinschaft als ein Bauwerk beschrieben, das sich in zwei Jahrzehnten aufgebaut habe. Wesentlich sind die «gemeinsamen Diskussionen, das gegenseitige Interesse für die Arbeit und unsere gemeinsamen Freunde», ohne irgendwelche professionelle Eifersucht, die Unterstützung noch für die «verrücktesten Gedanken», auch ein Glaube an die Zukunft, dazu selbstverständlich «eine Portion körperlicher Nähe» (446f.).
1961 erhält Gunilla den Auftrag, ein Steinzeugrelief für einen Konferenzraum des Schwedischen Radios herzustellen. Es ist der bisherige Höhepunkt ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Parallel dazu gelingt Peter die erste Veröffentlichung auf deutsch, bei Suhrkamp. Jetzt reisen die beiden häufiger nach Berlin, Peter Weiss wird an die Treffen der Gruppe 47 eingeladen. Gunilla, gelegentlich auch hier wieder hier nur als Peters Begleiterin wahrgenommen, entwirft einige amüsante Vignetten über Vertreter dieser monopolartigen Vereinigung der deutschsprachigen Literaturszene. Scharfsinnig beschreibt sie gleichzeitig das Verhältnis von Peter Weiss zu den verschiedenen Sprachen seines Lebens.
Theater
Die Jahre 1962 bis 1971 sind ein Zentralpunkt dieser beiden Lebensgeschichten. Zu Recht betont Gunilla, dass sie die Bühnenbilder für viele Inszenierungen von Weiss-Stücken, in Schweden und Deutschland, gemacht habe,was bis heute zu wenig gewürdigt wird. Schon zuvor hat sie, für den «Marat/Sade», intensiv in Paris Originalquellen recherchiert. Faszinierend beschreibt sie die Konzepte ihrer Bühnen- und Kostümentwürfe, mit hübschen Anekdoten umrankt. Zum Beispiel braucht sie für die Verfilmung des «Marat/Sade» durch Peter Brook einen spezifischen Stoff für die Zwangsjacken. Nach längerer vergeblicher Suche scheinen ihr die Vorhänge in der Wohnung der Brooks besonders geeignet. Natürlich, nimm sie nur, sagt ihr der Regisseur. Doch als die Vorhänge zugeschnitten auf der Bühne auftauchen, realisiert Gunilla, dass Brook die Zustimmung nur im Scherz erteilt hat und der Verlust der teuren, massgeschneiderten Stoffe doch eine kurzfristige Spannung zwischen den beiden verursacht. Allerdings, Autobiografien sind bekanntlich subjektive Rückblicke, und zuweilen beschleicht einen das Gefühl, eine andere Perspektive auf bestimmte Ereignisse wäre wohl auch möglich.
Politische Reisen
Unerschrocken begibt sie sich auch ins politische Getümmel. Anfang 1967 werden Peter und Gunilla Kontaktpersonen für das Russell-Tribunal zu den US-amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam, das in Stockholm stattfinden soll, wovon sie sich auch durch Interventionen des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Tage Erlander nicht abbringen lassen; Vorbereitungssitzungen finden weiterhin in ihrer Wohnung statt. Im Juli reisen sie mit einer internationalen Delegation zum Nationalfeiertag nach Kuba. Mit auf der Reise sind etwa Marguerite Duras, «eine sehr ernste Dame, die meist für sich allein blieb», der «elegante und recht überhebliche Schriftsteller Jorge Semprun», Eva-Forest-Sastre, Mitglied der baskischen Befreiungsorganisation ETA, und Rossana Rossanda, damals noch im ZK der KPI. Der Aufenthalt war «eine Mischung aus Tanz, Fest und Karneval sowie politischen Diskussionen» (423). Die ausländischen Genossen werden aufgefordert, ein gemeinsames Gemälde zu schaffen. Selbst hier wird Gunilla gelegentlich nur als «Peters Anhängsel» betrachtet und der Besuch sie interessierender Kunstinstitutionen verhindert. Das lässt sie sich nicht gefallen. Sie beschreibt das in einem Abschnitt, der ihren Stil und ihre Haltung beispielhaft verdeutlicht. «Ich forderte eine Diskussion darüber. Ich wollte mir alles ansehen, was für meinen Beruf relevant war und mit meinem politischen Engagement zu tun hatte
, neue Milieus kennenlernen, und natürlich wollte Peter sich auch seinen eigenen Sachen widmen, ohne dass ich ständig hinterherdackelte. Meine Haltung bezog sich nicht nur auf uns, die eingeladenen Frauen, sondern symbolisch auch auf die kubanischen Frauen. Nach der Diskussion über die Situation der eingeladenen Frauen, eine Debatte, die Teil einer grösseren trikontinentalen Diskussion über die Situation von Frauen in der Welt war, bekamen die eingeladenen Frauen eigene, auf ihren jeweiligen Beruf zugeschnittene Programme. Ich wurde gefragt, ob ich innerhalb sehr kurzer Zeit «Macbeth» von Shakespeare mit Schülern der Schauspielschule inszenieren könnte. Der Schule fehlte es zwar an Material, aber nicht an Ideen.» (422f.)
Im Mai/Juni 1968 folgt eine beinahe zweimonatige Reise durch (Nord)Vietnam. Gunilla und Peter erleben sowohl die vielfältigen Kulturanstrengungen, insbesondere auf dem Theater, wie die verheerenden Kriegszerstörungen. Doch mitten während der Reise erleidet Peter eine Nierenkolik und wird ins Spital eingeliefert. So reist sie allein an die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam. Später besuchen sie gemeinsam Dörfer, von Bombenabwürfen beschädigt, in denen traditionelle, auch abergläubische Vorstellungen auf moderne Technologie und neue politische Konzepte treffen, gelegentlich mit bemerkenswerten Resultaten: So werden traditionelle Heilmethoden in neue ärztliche Diagnosetechniken integriert. Gemeinsam schreiben Gunilla und Peter «Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam», doch auf dem Buchumschlag fehlt ihr Name: «Peter, der für Gleichberechtigung war, hätte das sehen und darauf hinweisen müssen.» (418)
Kosmopolitisches Leben
Es sind zwei Jahrzehnte eines kosmopolitischen Lebens. In Stockholm beherbergt das Paar Hans Werner Richter und andere Mitglieder der Gruppe 47, später Mitglieder des Russell-Tribunals, den Black-Panther-Führer Stokely Carmichael oder den Westberliner Kabarettisten Wolfgang Neuss und den DDR-Filmer Konrad Wolf; ihrerseits wohnen sie bei Peter Brook in London oder bei Ernest Mandel in Brüssel.
Weiss ist als Autor etabliert, Gunilla eine anerkannte Bühnenkünstlerin. Doch dann kommt, 1970, «Trotzki im Exil». Das Stück ist eine politische Zumutung, es wird von allen Seiten bekämpft. «Die extreme Linke und die äusserste Rechte hatten sich mit den Anarchisten zusammengetan» (429), meint Gunilla. Während der Generalprobe kommt es zu Pöbeleien, antisemitischen Schmähungen, Handgreiflichkeiten; ein paar Leute wollen als Reminiszenz an den «Marat/Sade» auf der Bühne kopulieren, später sollen auch vier Revolver beschlagnahmt worden sein. Gunilla selbst empört sich so sehr, dass sie einem vor ihr sitzenden rechten Schreihals das Mikrophon über den Eierkopf schlagen will, kann aber vom Regieassistent gerade noch zurückgehalten werden. Nach der Premiere erscheinen «mörderische Rezensionen sowohl in der linken als auch in der rechten Presse» (430). In dieser zugespitzten Situation hat sich nicht nur Peter Weiss umzingelt gefühlt, auch Gunilla schlägt sich unverrückbar auf die Seite ihres Manns und verteidigt das Stück unhinterfragt.
Wenig später erleidet Peter einen Herzinfarkt. Sie fährt ihn im Auto zum Krankenhaus. Es ist ein Heldinnenstückchen. «Ich fuhr barfuss, trug nur ein dünnes Hemdchen und Jeans und roch nach Alkohol. … Die Kurven nahm ich sicher nur auf zwei Rändern und stand eher hinter dem Steuer, als dass ich sass.» (435) Während der Rekonvaleszenz muss sie unter Zeitdruck vier eigene Reliefs für ein Ausbildungszentrum fertigstellen, kümmert sich zugleich umfassend um Peter, versorgt ihn mit Essen und Büchern und kocht auch gleich noch für die Maurer, die das Relief anbringen.
Die falsche Frau Weiss
Alle diese Zuspitzungen und Krisen lassen die Spannungen zwischen den Ehepartner anwachsen, Gunilla fühlt sich, obwohl sie das Wort nicht verwendet, ausgenützt. Während der Inszenierung von «Hölderlin» 1971 in Berlin erreicht die Beziehung einen Tiefpunkt. Peter Weiss hat, wie Gunilla erfahren hat, ein neues Verhältnis mit der Frau eines bekannten deutschen Publizisten angefangen – na gut, es war Maria Augstein. Gunilla trifft sich, ganz die moderne Frau, mit dieser, erkundigt sich «nach ihren Absichten» und schlägt vor, dass Maria nun die «Verantwortung» für Peter übernehme (443). Doch dann kommt es bei der Feier nach der Inszenierung zum Eklat. Peter Weiss und Maria Augstein sitzen auf den Ehrenplätzen, und letztere wird in den gehaltenen Ansprachen öfters als Frau Weiss angeredet. Worauf Gunilla aufsteht, allen dankt, die zur Inszenierung beigetragen haben, sich als Frau Weiss und die vermeintliche Frau Weiss als Maria Augstein outet, aufsteht und die Feier verlässt.
Und sie will Peter verlassen. Sie reist nach Paris, kehrt nach Stockholm in die gemeinsame Wohnung zurück, vorläufig, fest zur Trennung entschlossen. «Das Leben ging weiter unter Schweigen, bis wir uns eines Nachts, wie wir dachten, zum Abschied für immer zusammenfanden. Zu meinem Erstaunen wurde ich schwanger.» (448) Gunilla kann auch dem nachträglich einen Witz abgewinnen. «Während der Schwangerschaft arbeiteten wir zusammen an der Inszenierung von «Hölderlin» am Stockholmer Dramaten. Die Schwangerschaft erregte Aufmerksamkeit – zusammen waren wir ja hundert Jahre alt, ich vierundvierzig und Peter sechsundfünfzig. Es wurde viel darüber gewitzelt. Die Bühnenarbeiter haben gefragt, ob wir erst nach zwanzig Jahren herausgefunden hätten, wie es geht. Es war eine fröhliche und kreative Zeit.» (449) Die Geburt der Tochter Nadja im November 1972 hat Peter Weiss dann als höchstes Glück erlebt, und sie hat die Eltern wieder in einem neuen Verhältnis zusammenführt.
Worauf sich eine merkwürdige Lücke in diesen Aufzeichnungen auftut: die Arbeit von Peter Weiss an der «Ästhetik des Widerstands». Es gibt eine frühe Bemerkung dazu: Peter sei in den Sechzigerjahren «durch ein Relief von Donald Judd zur grafischen Gestaltung seiner Trilogie ‹Die Ästhetik des Widerstands› inspiriert» worden (246). Danach allerdings wird das Monumentalwerk praktisch nicht mehr erwähnt. Natürlich, da war vor dem Arbeitsbeginn die tief gehende, anfänglich unlösbar scheinende Krise in der Beziehung, auch ist die künstlerische und berufliche Zusammenarbeit nicht mehr so eng wie bei den Theaterstücken. Dennoch bleibt es einigermassen erstaunlich – und bedauerlich –, dass wir kaum etwas zu dieser Arbeit erfahren, das als Ergänzung zu den eigenen «Notizbüchern» von Peter Weiss dienen könnte.
Leuchtende Bühnenbilder
Beruflich gehen Gunilla und Peter zunehmend getrennte Wege. Erst 1982 werden sie nochmals zusammenarbeiten, bei der Inszenierung von «Der neue Prozess» in Stockholm, kurz vor dem Tod von Peter Weiss. In den Siebzigerjahren dagegen arbeitet Gunilla an Stücken von anderen Autoren mit Regisseuren wie Götz Friedrich oder Ingmar Bergman, der dann in den Achtzigerjahren zunehmend wichtiger wird. Da findet sie zu einer neuen, eigenen Rolle. Sie liefert leuchtende Beschreibungen von Bühnenbildern und Kostümen, von Ideen und Arbeitsprozessen, von Materialien und Techniken, von Räumen und Farben. Es gibt bewundernd-sarkastische Anekdoten zu Regisseuren, etwa zum cholerischen Ingmar Bergmann, und zur Zusammenarbeit mit Bühnenarbeitern – ja, der Theaterbetrieb ist damals noch fast ausschliesslich eine Männerdomäne. Dabei bewegt sie sich mehr oder weniger gekonnt zwischen den arbeitsrechtlichen und kulturellen Unterschieden in den USA, in Deutschland, in Schweden, in Österreich – dort steigt sie in der Hochachtung der Mitarbeitenden ungemein, als eine Freundin einen grossen Briefumschlag an sie mit dem, zutreffenden, Titel «Baronin Palmstierna» adressiert.
Immer wieder ist sie kulturpolitisch engagiert, in den Fünfzigerjahren mit Peter Weiss in der schwedischen Filmszene, in den Sechzigerjahren im allgemeinen politischen Aufbruch. Auch später äussert sie sich schriftlich und mündlich, zum Theater und zu den Rahmenbedingungen des künstlerischen Schaffensprozesses. Dazu kommt die zunehmende Arbeit als die Nachlassverwalterin von Peter Weiss, im ganz praktischen wie im ideellen Sinn.
Das letzte Unterkapital dieses überreichen Buchs ist den Kindern und Enkeln gewidmet, insbesondere der Tochter Nadja, die als Schauspielerin dem Theatermilieu treu geblieben ist. Da sind wir auf Seite 570 angelangt. Beinahe ein ganzes Jahrhundert ist wie im Flug vergangen.
Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine europäische Frau. Aus dem Schwedischen von Jana Hallberg. Verbrecher Verlag, Berlin 2022. 600 Seiten.
* Dieser Beitrag ist schon auf der Website https://tinyurl.com/Bio-GunillaPW erschienen.