Droht ein Krieg? Droht ein neuer Kalter Krieg? Die Schlagzeilen und Kommentare der meisten europäischen und US-amerikanischen Medien während der letzten Monate liessen Schlimmstes befürchten. Die plötzlich erwachten Ängste erinnerten mich an eine Begegnung, die noch im tiefsten Kalten Krieg stattgefunden hatte. Es war im Winter 1960/61. Das damalige Bonner «Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen» hatte Mittelschüler aus dem deutschsprachigen Raum zu einer Bildungswoche zum Thema Kommunismus in eine norddeutsche Akademie eingeladen. Wir hörten Vorträge über «Diamat» (Dialektischer Materialismus), das angebliche Ziel der Sowjetunion, einmal die ganze Welt zu beherrschen und natürlich auch über ihre «Fünfte Kolonne».
Unter den Referenten befand sich auch ein Exilrusse, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Er sprach nicht über Marxismus-Leninismus und die Sowjetunion sondern über Russland und zur Frage, warum gerade in seiner Heimat die im Westen entstandene Ideologie des Kommunismus sich ausbreiten konnte. Über den russischen Messianismus, über die Spannungen zwischen Ost und West, die schon lange vor dem Kalten Krieg bestanden hatten, über Byzanz und Moskau, das Dritte Rom.
Dieser Ansatzpunkt, der nicht vom Resultat ausging, sondern nach Ursachen fragte, danach, was eigentlich vor 1917 geschehen war, eine solche Themenstellung war damals, mitten im Kalten Krieg, ungewöhnlich, ja verdächtig. Der russische Dissident entwickelte einen Gegenblick. Er sah die Sowjetunion nur als eine Phase einer jahrhundertealten Geschichte seines Landes und zeigte historische Konstanten auf, die im Westen in der Fixierung auf das Feindbild Kommunismus in Vergessenheit geraten waren.
«Bist Du nun ein Roter geworden?», bekam ich von Mitschülern zu hören, als ich – wieder hinter den Toren der Innerschweizer Klosterschule – über dieses andere Russlandbild berichtete. Dreissig Jahre später, als ich 1991 Moskau-Korrespondent wurde, hatte sich das Feindbild Kommunismus tatsächlich in nichts aufgelöst. Aber es fand kein «Ende der Geschichte» statt. Im Gegenteil, die während des Kalten Krieges eingefrorene Geschichte war wieder zurückgekehrt. Wir Moskau-Korrespondenten sollten plötzlich über 15 neue unabhängige Staaten berichten und sahen uns gezwungen, zuerst einmal die Karte in die Hand zu nehmen. Ja, wo liegt denn eigentlich Tadschikistan, wo befinden sich Tatarstan oder Tschetschenien?
Nach einer anfänglichen Euphorie, als der Westen glaubte, Russland und der postsowjetische Raum würden sich jetzt nahtlos in die transatlantische Ordnung eingliedern, haben Unverständnis, Gleichgültigkeit, aber auch Angst wieder überhand genommen. Aufgebrochen ist die Geschichte auch in der Ukraine. Die Krise in diesem «Grenzland» zwischen Ost und West erinnert an den Fehlstart nach dem Ende des Kalten Krieges. Anstatt Russland in eine neue gesamteuropäische Sicherheitsordnung einzubeziehen, hat der Westen die Nato bis an die Grenzen Russlands nach Osten erweitert. Der Kalte Krieg hat nie aufgehört. So jedenfalls sieht es Moskau.
Die erwähnte Veranstaltung mit dem Exilrussen ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil ich von ihm das wohl bekannteste Bonmot zu Russland erstmals zu hören bekam: «Verstehen kann man Russland nicht, auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.» Mit dem Zitat des Slawophilen Fjodor Tjuttschew war der Exilrusse allerdings nicht einverstanden. Er gab zu bedenken, der Westen habe zu lange an Russland nur «geglaubt», es dämonisiert oder verherrlicht. Und fragte dann, warum man Russland nicht wie jedes andere Land auch einfach «verstehen» könne? Gute Frage. Besonders jetzt, wo «Russland-Versteher» plötzlich ein Schimpfwort geworden ist. «Gegenblicke» wären wieder notwendiger denn je.