Das Ende der Pandemie ist der Anfang des Revisionismus – ein Rückblick auf das Buch “Seuchenjahre” von Maximilian Hauer

Der US-amerikanischen Epidemiologin Katelyn Jetelina zufolge sind wir in die Phase des ‚pandemischen Revisionismus‘ eingetreten[1]. Sie veranschaulicht diese These anhand des Unterausschusses des amerikanischen Repräsentantenhauses zur Coronavirus-Pandemie. Statt eine nuancierte Bilanzierung der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen wie Lockdowns, Schulschließungen, Masken- und Abstandsregelungen vorzunehmen, hat dieser im Rückgriff auf die 2020 publizierte Great Barrington Declaration die Strategie der Durchseuchung verteidigt.

Auf internationaler Ebene wird seit Ende 2021 das von den europäischen Staaten bei der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagene globale Pandemieabkommen diskutiert. Um zu verhindern, dass dieses durch eine mögliche Wiederwahl Trumps im Herbst gekippt würde, soll es noch im Mai verabschiedet werden. Der multilaterale Vertrag könnte jedoch bereits jetzt am Streit über die „Access & Benefit Sharing“-Forderung der Länder des globalen Südens scheitern, welche sich für das globale Teilen von Forschungsergebnissen und Impfstoffen im Ausbruchsfall einsetzen. Dagegen wehren sich die von ihren Regierungen gestützten Impfstoffproduzenten, welche geistige Eigentumsrechte protegieren. Kein Zufall ist es, dass die Idee eines Abkommens genau zu Beginn der TRIPS-Waiver-Kampagne formuliert wurde, die sowohl ein Aussetzen der Patente als auch eine globale Umverteilung der Impfstoffe einforderte. Doch die EU und insbesondere Deutschland haben geistiges Eigentum trotz verheerender Gesundheitsfolgen stets verteidigt. Der Ethnonationalismus der radikalen Rechten, welche mit der fake news einer im Abkommen verbrieften Übertragung « sämtlicher Machtbefugnisse » an die WHO im Pandemiefalle den Vertrag zu torpedieren sucht, läuft hier mit dem « Nationalismus des Wissens und der Ressourcen » liberaler Regierungen zusammen, die ihre pharmazeutischen Kapitalfraktionen schützen wollen. Gesundheitsminister Lauterbauch bringt diesen Sachverhalt wiefolgt auf den Punkt: « For countries like Germany and most European countries, it is clear that such an agreement will not fly if there is a major limitation on intellectual property rights »[2].

Die umsichgreifende Entwicklung des Revisionismus soll Anlass genug sein, um auf einer der versiertesten deutschsprachigen Analysen der Pandemie zurückzublicken. Im April 2023 hat der freie Autor und Philosoph Maximilian Hauer mit dem Buch Seuchenjahre eine sechs Texte umfassende Essaysammlung vorgelegt, welche mit bestechender Wortgewandtheit und analytischer Schärfe die durch die Pandemie hervorgebrachte Infragestellung von Staat und Individuum, Politik und Ökonomie, Natur und Gesellschaft nachzeichnet[3].

Hauer verhandelt zunächst die Bewusstseinsformen, Verarbeitungsstrategien und ideologischen Deutungsangebote der Pandemie, welche von der Kriegsmetaphorik über Verschwörungsmythen bis zu deren szientistischen Pendants reichten.

Einerseits entlarvt der Autor die Rhetorik des « Pflegekrieges », der die « Supermarktkassiererinnen und Pflegekräfte im Krankenhaus » als « neue ‚Heldinnen‘ » lobpreist, als virilen Mythos, welcher die « hergebrachte geschlechtliche Teilung der Arbeit intakt » lässt: « Die Heroisierung zwingt die Heldinnen somit in ein Schuldverhältnis ».

Andererseits kritisiert Hauer in wissenschaftskritischer Absicht, ohne dabei jedoch der agambenianischen Ineinssetzung[4] von Wissenschaft und Religion auf den Leim zu gehen, ein « szientistisch verengte[s] Pandemie-Narrativ ». Er bezieht sich hierbei auf die Kritik des « molekularen Narrativs » des marxistischen Evolutionsbiologen Robert Wallace, welcher seit der Veröffentlichung der Notes on a novel coronavirus im Januar 2020 zu einem der prominentesten marxistischen Kommentatoren der Pandemie avancierte[5]. Das Problem der « virologischen Weltanschauung » läge darin, dass das « Infektionsgeschehen unmittelbar anschaulich [wird] als biomedizinischer Vorgang, der nur von natürlichen Einflussfaktoren abhängt: von der Position der Körper im Raum, der Viruslast ihres Atems, der Ausbreitung der Luftströme ». Gegen die verdinglichungstheoretisch kritisierte Trennung von Natur- und Sozialwissenschaften hebt Hauer hervor: « Vom Raubbau an der Natur, der in Form von Entwaldung und Agrarindustrie zur Übertragung von Viruskrankheiten von Tieren auf Menschen beiträgt, über den politischen Druck des Kapitals, der die Schließung von Ansteckungsorten verhindert, bis zum desolaten Zustand des Gesundheitssystems – überall schafft die ‚Plusmacherei‘ (Karl Marx) den fruchtbaren Nährboden für die Katastrophe. »

Der längste und originellste Aufsatz beschäftigt sich mit der Widersprüchlichkeit kapitalistischen Staatshandelns in der Pandemie. Im Rückgriff auf die Staatskritik von Johannes Agnoli, Engels Begriff des ideellen Gesamtkapitalisten und marxistische Analysen des neoliberalen Formwandels des kapitalistischen Staates nimmt Hauer folgendes Paradox zum Ausgangspunkt: Die Zentralität des Staatshandelns in der Seuche hat sein adäquates Verständnis nicht befördert. Hauer demaskiert den scheinbaren Gegensatz von Etatisten, die « den Staat als sorgende, schützende und strafende Autorität bejahen » und Libertären, die « sich in Rebellion gegen den bevormundenden Nanny State [üben] » als ein « Spiegelspiel der Politik »: « Beide Parteien überschätzen [die] Autonomie [des Staates], sei es zum Guten oder zum Schlechten ». Gegen « die Ablösung des Staates von seiner Grundlage » stellt Hauer die « wechselseitige Bedingtheit von Staat und bürgerlicher Gesellschaft » ins Zentrum. Engels Einsicht folgend gilt es den pandemischen Staat also vor dem Hintergrund seiner Rolle in der Aufrechterhaltung der « äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise » zu analysieren, die der Staat « gegen die Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten » gewährleisten muss. Im Anschluss an Agnoli konstatiert Hauer eine Gleichzeitigkeit von formaler Selbständigkeit des Staates gegenüber dem Kapital einerseits und materieller Abhängigkeit andererseits. Seine relative Autonomie befähigt ihn, dem « doppelten Konflikt der Kapitale und der Klassen » (Agnoli) zum Trotz die Bedingungen der Produktionsweise aufrechtzuerhalten. Vor dem Hintergrund der « selbstzerstörerischen » Kapitalbewegung, wo « die kurzfristigen Interessen die langfristigen torpedieren », muss der Staat intervenieren. Die scheinbare Zusammenhangslosigkeit der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen lässt sich somit in ein analytisches Kontinuum einordnen: Korrespondierte der frühe Lockdown der Wirtschaft mit dem Vorrang der Langzeitinteressen der Aufrechterhaltung einer im Rahmen der Ausbeutbarkeit gesunden Arbeitskraft und dem Ziel, eine politische Legitimitätskrise abzuwenden, trat im weiteren Verlauf der Seuche das Kurzzeitinteresse der Profitabilität immer stärker in den Vordergrund. Diese Überlegungen befähigen Hauer eine Konvergenz des Staatshandelns von liberal-technokratischen und rechtspopulistischen Regierungen, die er als « feindliche Zwillinge » entlarvt, zu analysieren. Beide mussten widersprüchlichen Anforderungen genügen: « Einerseits muss die Regierung die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in einem gewissen Maße garantieren; andererseits muss sie die Kapitalakkumulation so weit wie möglich in Gang halten. Die Regierungen können weder eine ungebremste Eskalation der Gesundheitskrise noch den wirtschaftlichen Kollaps riskieren, ohne ihre Legitimität und den sozialen Frieden zu gefährden. » Waren die ersten Monate der Pandemie vom Gegensatz rechtspopulistischer Leugnung und liberal-technokratischer Anrufung der individuellen Bürgerverantwortung gekennzeichnet, so hat sich im weiteren Verlauf der Pandemie ein neuer Modus Vivendi herauskristallisiert, bei dem es sich nicht um eine « nachhaltige Eindämmungsstrategie » handelte, sondern um ein « ein ständiges Nachjustieren, im Hin und Her von Maßnahmen und Lockerungen », eine Art « Stop-and-go-Strategie », welche zur Verhinderung der Implosion des Gesundheitssystems die Infektionen zeitlich zu strecken suchte.

Analytisch bedeutsam ist darüber hinaus Hauers sozial-ökologische Krisentheorie. Im Rückgriff auf Studien des ökologischen Marxismus, u.a. Andreas Malms dialektischer Katastrophentheorie, sucht Hauer die Pandemie vermittels des Begriffs der « gesellschaftlich koproduzierten Naturkatastrophe » zu fassen. Eine Leerstelle von Hauers Analyse betrifft jedoch den Zusammenhang von Pandemierisiko und Klimawandel, die Malm als Gleichzeitigkeit von globaler Erwärmung (global warming) und globaler Erkrankung (global sickening) umreißt. Denn das überlebenswichtige Ziel einer Doppelbekämpfung von Klimawandel und emergenten Seuchen ist mit folgendem Paradox konfrontiert. Eine kürzlich in Nature[6] erschienene Modellierung prognostiziert, dass sich im Jahr 2070 durch die Erhöhung der Durchschnittstemperaturen « wilde Arten in neuen Kombinationen an Brennpunkten der Artenvielfalt und in Gebieten mit hoher menschlicher Bevölkerungsdichte in Asien und Afrika zusammenfinden werden, wodurch sich die Übertragung ihrer Viren um das Viertausendfache erhöhen wird ». Während die meisten Studien übereinstimmend davon ausgehen, dass eine Abschwächung des Klimawandels durch eine Verringerung der Treibhausgasemissionen das Aussterben von Arten verhindern und schädliche Auswirkungen auf das Ökosystem minimieren wird, deutet diese Studie daraufhin, dass Emissionsverringerung allein die Wahrscheinlichkeit einer klimabedingten viralen Verbreitung nicht senkt. Stattdessen scheinen die mildesten Erwärmungsszenarien mindestens genauso viele, wenn nicht sogar mehr artenübergreifende Virusübertragungen zu bewirken. Wenn die Erwärmung langsamer verläuft, können die Arten die sich verändernden Klimaoptima erfolgreich verfolgen, was zu einer größeren Ausdehnung des Verbreitungsgebiets und mehr Erstbegegnungen führt. Im Falle eines desaströsen rapiden Klimawandels verringern sich paradoxerweise die Möglichkeiten von Zoonosen, da viele Arten durch Hitzetod ausgelöscht werden. Die Wissenschaftler weisen ausdrücklich daraufhin, dass dies keine « Rechtfertigung für Tatenlosigkeit » sein kann und benennen die massiven Folgen einer ungebremsten Erwärmung: Massenartensterben, verheerende Krankheiten und nie dagewesene Formen menschlicher Vertreibung. Ihre Ergebnisse unterstreichen vielmehr die Dringlichkeit, selbst im Falle einer erfolgreichen Eindämmung des Klimawandels unter +2°C über dem vorindustriellen Niveau, der Verbesserung der Überwachungssysteme für Wildtierkrankheiten und des öffentlichen Gesundheitswesens, welche sie als notwendige Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel darstellen. Ein zweiter Vektor kommender Seuchen ist das Schmelzen von Gletschern und Permafrost. Die Ergebnisse einer Studie von 2022[7] deuten darauf hin, dass mit dem globalen Temperaturanstieg infolge des Klimawandels die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Viren und Bakterien, die in Gletschern und Permafrostböden eingeschlossen sind, wieder auftauchen und einheimische Wildtiere infizieren könnten, zumal sich ihr Verbreitungsgebiet auch näher an die Pole verlagert.

Es handelt sich um ein holistisches Problem, da die Gefahr neuer Seuchen nicht bloß durch den Kampf gegen den kapitalistisch induzierten Klimawandel zu bändigen sein wird. Exzessiver Klimazentrismus würde den sozialökologischen Blick auf notwendige Formen von Seuchenprävention im Bereich von Landwirtschaft und Städtebau, aber auch im Bereich der Erforschung neuer Übertragungsketten (viral surveillance) verstellen. Diese können wiederum nur erfolgreich sein, wenn sie mit einer praktischen Infragestellung der kapitalistischen Produktionsweise und herrschender Profitinteressen einhergehen.

Ungeachtet dessen eignet sich die Lektüre von Hauers Pandemiebuch gerade jetzt als Antidot gegen die vorherrschenden Tendenzen des Revisionismus. Seine Einsichten in die strukturellen Triebfedern der Seuche sowie deren Folgen auf Staat, Subjekte und gesellschaftliche Naturverhältnisse werden angesichts heraufziehender Katastrophen wohl kaum an Aktualität einbüßen.

 

[1] https://www.nytimes.com/2023/08/29/opinion/ezra-klein-podcast-katelyn-jetelina.html

[2] https://www.medico.de/blog/unheilvolle-allianz-19440?mtm_campaign=nl_19441

[3] https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=1140. Siehe auch folgende Besprechungen in der AK, im Neuen Deutschland und in der Wildcat (Nr. 111, Frühjahr 2023): https://www.akweb.de/gesellschaft/maximilian-hauer-seuchenjahre-der-naehrboden-der-katastrophe/; https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175960.post-pandemie-corona-kapitalistischer-albtraum.html

[4]https://itself.blog/2020/05/02/giorgio-agamben-medicine-as-religion/

[5]https://mronline.org/2020/01/29/notes-on-a-novel-coronavirus/

[6]https://www.nature.com/articles/s41586-022-04788-w

[7]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspb.2022.1073 ; siehe auch: https://www.theguardian.com/science/2022/oct/19/next-pandemic-may-come-from-melting-glaciers-new-data-shows


Marius Bickhardt: Ph.D. Candidate in Political Theory | Doctorant en Théorie politique Centre Marc Bloch Berlin | Sciences Po Paris


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