Wie subversiv ist Spinoza? Eine marxistische Kontroverse, Teil 2

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2. Die Anrufung durch das Gesetz: Gehorsam oder Widerstand?

Um die jetzt zu diskutierende Kontroverse einzuführen, können wir uns nochmals auf das Begriffspaar sui juris esse („unter eingenem Recht stehen“) und juris alterius esse („unter dem Recht eines anderen stehen“) beziehen, das am Ende des vorigen Teils eingeführt wurde. Spinozas Behandlung von diesen Konzepten hängt eng mit seiner Kritik an Hobbes’ Theorie vom Gesellschaftsvertrag zusammen. Für Hobbes veräußern und übertragen die Individuen, die den Vertrag eingehen, all die natürlichen Rechte, die sie im Naturzustand uneingeschränkt ausüben konnten, an den Souverän. Zugespitzt könnte man sagen, dass für Hobbes der Gesellschaftsvertrag eine restlose Transition vom Naturzustand der rechtlichen Autonomie (sui juris esse) zum staatlichen Zustand der rechtlichen Heteronomie gegenüber dem Souverän (alterius juris esse) bedeutet.

Die Möglichkeit selbst einer solchen restlosen Transition ist nun gerade das, was Spinoza an Hobbes hauptsächlich kritisiert. Spinoza legt den Hauptpunkt, der ihn von Hobbes unterscheidet, in einem Brief an Jarig Jelles vom 2. Juni 1674 folgendermaßen dar:

Der Unterschied zwischen mir und Hobbes [besteht] darin, dass ich das Naturrecht [naturale Jus] immer unangetastet lasse und dass ich der höchsten Obrigkeit in einer jeden Stadt nur so viel Recht den Untertanen gegenüber zuerkenne, als dem Maß von Macht [mensuram potestatis] entspricht, um das sie den Untertanen überragt, als welches immer im Naturzustand der Fall ist. (Ep.50)

Was bedeutet aber, dass Spinoza das Naturrecht „unangetastet“ lässt? Denn wir haben gesehen, dass für Spinoza ein hypothetischer Zustand, wo Menschen ihre possessiven Affekte individualistisch verfolgen würden, dermaßen instabil wäre, dass es sich kaum noch von einem „natürlichen Recht“ auf individuellen Besitz von Dingen sprechen ließe. Im Naturzustand kann es kaum die Rede von „rechtlicher Autonomie“ sein, da Menschen sich wechselseitig bekämpfen und die Stärksten die Schwächeren gewaltsam unterdrücken würden. Paradoxerweise kommt das „Recht der Natur“ für Spinoza erst im staatlichen Zustand zur Geltung, wenn Menschen ihre potentia kollektiv organisieren:

Da […] im natürlichen Zustand jeder nur so lange unter eigenem Recht [sui juris] steht, wie er sich vor der Unterdrückung durch einen anderen schützen kann, einer jedoch vergeblich sich vor allen anderen zu schützen suchte, ist das natürliche Recht des Menschen, solange es von der Macht eines einzelnen her bestimmt wird und dieser ein auf sich gestellter einzelner ist, folgerichtig so gut wie nichts […]. Daraus schließen wir, dass von einem Recht der Natur [jus naturae], das dem Menschengeschlecht eigen ist [humani generis proprium], kaum anders als dort gesprochen werden kann, wo die Menschen gemeinsame Rechtsgesetze [jura communia] haben. (TP2.15)

Der Unterschied zwischen Spinoza und Hobbes ist somit ein doppelter. Erstens entlarvt Spinoza die „Naturrechte“, die Individuen in einem hypothetischen vorpolitischen Zustand genießen würden, als höchst instabil. Im Naturzustand wären die meisten Menschen eher alterius juris, da sie unter der Gewalt der Stärksten stehen würden. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber zweitens, dass Menschen erst dort, wo sie ihre potentia kollektiv organisieren, in den Genuss ihrer natürlichen Rechte kommen und somit Autonomie erlangen. Träger(in) von Naturrechten können nie vereinzelte Individuen sein, sondern nur eine kollektiv organisierte multitudo. Das Naturrecht bleibt in der civitas „unangetastet“.

Bedeutet dies nun, dass im staatlichen Zustand Individuen rechtlich vollkommen autonom wären? Nein: Denn die politische Konstituierung einer multitudo nimmt die Form der staatlich institutionalisierten Gewalt (potestas) an, die von den Untertanen Gehorsam verlangt. Obwohl Menschen erst in der civitas rechtlich autonom werden (sui juris), sind sie als Untertanen (subditi) zugleich der Gewalt des Staates unterworfen und somit alterius juris. Die Mittel, die dem Staat zur Verfügung stehen, um die rechtliche Heteronomie der Untertanen zu garantieren, sind einerseits der physische Zwang auf den Körper, andererseits die ideologische Zustimmung des Geistes:

Derjenige hat einen anderen in seiner Gewalt [alterum sub potestate habet], der ihn gefesselt hält, ihm die Waffen und die Mittel, sich selbst zu verteidigen oder auch zu fliehen, genommen hat, ihm Furcht eingeflößt hat oder ihn durch Begünstigung so für sich gewonnen hat, dass er lieber ihm als sich selbst willfahren, d.h. lieber nach dessen als nach der eigenen Ansicht leben will. Wer nach der ersten oder zweiten Art einen anderen in seiner Gewalt hat [alterum in potestate habet], beherrscht nur dessen Körper, nicht dessen Geist. Nach der dritten und vierten Art hat er sowohl den Geist wie den Körper des anderen seinem Recht unterworfen [sui juris fecit], freilich nur so lange, wie die Furcht oder die Hoffnung andauern; verschwinden diese Affekte, bleibt der andere wie zuvor unter eigenem Recht [sui juris]. (TP2.10)

Die Kontroverse, die wir in dieser Sektion behandeln, betrifft gerade die Wirksamkeit der soeben beschriebenen Mittel, insbesondere der ideologischen Mittel (Drohungen und Belohnungen), durch welche der Staat seine potestas ausübt. Denn aus der zitierten Passage so wie aus dem Brief an Jarig Jelles sehen wir, dass es nach Spinoza letztendlich eine Frage des Kräfteverhältnisses ist, ob der Staat die multitudo unter seine (auch ideologische) Gewalt bringen kann oder ob die multutudo nicht eher die natürliche Autonomie ihrer kollektiv organisierten potentia geltend macht, indem sie dem Staat ihre Zustimmung verweigert.

Wir erinnern uns, dass Deleuze und Guattari in Spinozas Frage „Warum kämpfen die Menschen um ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?“ die „grundlegende Frage der politischen Philosophie“ erblickten. Spinoza schreibt in der Vorrede zum TTP tatsächlich, dass „das letzte Geheimnis einer monarchistischen Regierung“ darin liegt, „die Menschen zu hintergehen und die Furcht, mit der sie im Zaum zu halten sind, mit dem schönen Namen Religion zu verbrämen, damit sie für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil [ut pro servitio, tanquam pro salute pugnent].“ (S. 6) Mit anderen Worten: Spinoza zeigt hier skizzenhaft, dass das arcanum eines monarchistischen Regimes darin besteht, die Untertanen durch ideologische Manipulation zu betrügen, damit sie ihrer eigenen Unterdrückung zustimmen. Erschöpft sich Spinozas Antwort auf die „grundlegende Frage der politischen Philosophie“ nun in diesem Hinweis auf den ideologischen Betrug als arcanum imperii? Oder ist dieser Hinweis in einer komplexeren Argumentation eingebettet?

Spinozas „grundlegende Frage“ scheint eine Anspielung auf Etienne de la Boéties Discours de la servitude volontaire zu sein. Dieser Text, der schon 1548 verfasst worden war, wurde in den Jahren nach dem Massaker der französischen Protestanten in der Bartholomäusnacht vom 24. zum 25. August 1572 zu einer Art Manifest der Monarchomachen. Als Monarchomachen (Tyrannenbekämpfer) bezeichnet man jene Kräfte, die aus unterschiedlichen Gründen Widerstand gegen den königlichen Absolutismus leisteten und sich eine Sphäre der politischen Autonomie erkämpfen wollten. Erst die französischen Hugenotten, dann auch die Katholiken sowie die Aufständischen, die in den niederländischen Provinzen gegen die spanische Vorherrschaft rebellierten, vertraten monarchomachische Ideen. Deren Kern bestand in der These, dass die Ansprüche des Absolutismus angesichts des ursprünglichen Gesellschaftsvertrags, aus dem die Legitimität der königlichen Macht herrührt, illegitim sind. Jeder Anspruch auf Absolutheit, den die königliche Macht erhebt, kommt einem Vertragsbruch gleich, und das Volk ist dementsprechend berechtigt, sein Widerstandsrecht auszuüben. Wenn es es nicht ausübt, dann begibt es sich nach La Boétie freiwillig in die Knechtschaft, in der es durch Gewohnheit, ideologische Manipulation und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse gehalten wird.

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Kann man nun sagen, dass Spinoza La Boéties Theorie der freiwilligen Knechtschaft aufgreift und weiterentwickelt? Einerseits ist Spinoza sicherlich auch ein Kritiker des Absolutismus, und insofern macht er mit den Monarchomachen gemeinsame Front gegen Hobbes’ Versuch, die Absolutheit der Macht des Souveräns zu legitimieren. Worin sich aber Spinoza von La Boétie und den anderen Monarchomachen unterscheidet, ist die Zurückweisung jedweder Vorstellung einer transzendentalen Freiwilligkeit menschlicher Handlungen, durch welche die Einhaltung der im Vertrag festgelegten Verpflichtungen normativ garantiert wäre. Die Vorstellungen von Freiwilligkeit, Pflicht und transzendenten Normen sind alle Ausdruck der Illusion der Objektivität der Werte, die am Anfang der vorigen Sektion skizziert wurde. Für Spinoza gibt es kein „Naturgesetz der Vernunft“, das uns verpflichten würde, einen freiwillig eingegangenen Vertrag einzuhalten. Eingegangene Verträge können immer gebrochen werden, wenn die materiellen Bedingungen für die Einhaltung derselben sich als ungünstig erweisen:

Ein Vertrag […] wird so lange in Kraft bleiben, wie seine Grundlage, der Gesichtspunkt von Gefährdung oder Nützlichkeit, bestehen bleibt; denn niemand geht einen Vertrag ein, noch ist er gehalten ihn zu respektieren, wenn nicht in der Hoffnung auf ein Gut oder aus Furcht vor einem Schaden. Entfällt diese Grundlage, ist die Übereinkunft ganz von selbst hinfällig, was auch die Erfahrung zur Genüge lehrt. (TTP16, S. 248; vgl. TP2.12)

Angesichts dieser Kritik an den normativen Grundlagen des Kontraktualismus ist es klar, dass die Berufung auf den Vertrag weder den Absolutismus noch den Widerstand gegen denselben (im Fall eines Vertragsbruchs) legitimieren kann. Spinozas „grundlegende Frage der politischen Philosophie“ ist nicht die normative Frage, ob die kollektiv organisierte multitudo gegenüber der institutionalisierten Staatsgewalt Gehorsam erweisen soll oder nicht. Die Frage nach der Legitimität von Gehorsam oder Ungehorsam ist für Spinoza eine „ideologische“ Frage. Spinoza stellt eher die faktische Frage, unter welchen materiellen Bedingungen die multitudo gehorsam ist und unter welchen Bedingungen sie der potestas des Staates eher Widerstand leistet.

Der knackige Punkt ist, dass die normative „Ideologie“ der Objektivität der Werte selbst eines der Mittel ist, das der Staatsgewalt zur Verfügung stehen, um sich die Zustimmung der Untertanen zu garantieren. Und diese Ideologie ist an sich nicht das Produkt einer bewussten Manipulation durch die Herrschenden. Sie findet ihre Quelle eher in der epistemisch inadäquaten Vorstellung, unsere Handlungen seien nicht durch unbewusste Triebe verursacht, sondern Ergebnis einer bewussten Wahl. Diese Vorstellung scheint zunächst auf der Ebene der individuellen Anthropologie verortet zu sein. Da aber individuelle Menschen sich in ihren Präferenzen stark voneinander unterscheiden können, generiert die epistemisch inadäquate Vorstellung, dass unsere Wertungen eine objektive Grundlage haben, unvermeidlich einen sozialen Konflikt bezüglich des „besten“ Wertesystems, an das sich auch alle anderen Menschen halten sollten (E3p31s). Sozial anerkannte Wertesysteme verstärken und stabilisieren die Illusion der „Objektivität“ der Werte.

Sie verstärken und stabilisieren dadurch auch die ideologische Illusion der Willensfreiheit und der moralischen und rechtlichen „Autonomie“ des Individuums. Diese „Autonomie“ ist nicht mit der naturrechtlichen Autonomie der kollektiv organisierten potentia der multitudo zu verwechseln, die Spinoza mit dem Begriff des sui juris esse bezeichnet. Sie ist ein ideologischer Effekt, der untrennbar verbunden ist mit der faktischen Heteronomie (juris alterius esse) gegenüber einem sozial anerkannten Wertesystem, das als etwas objektiv Gültiges erscheint. Spinoza bezeichnet diese ideologische Form der moralischen und rechtlichen „Autonomie“ mit der Wendung ex proprio suo consilio deliberare („sich nach eigenem Ermessen entschließen“). Diese Wendung findet man z.B. in einer Passage aus Kap. 17 vom TTP, wo Spinoza die ideologische Gewalt des Staates so charakterisiert, dass sie die Illusion, Individuen würden sich freiwillig für ihre Handlungen entscheiden, zugunsten der Stabilisierung der staatlichen Rechtsordnung auffängt und kanalisiert:

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Um richtig zu verstehen, wie weit das Recht und die Gewalt des Staates sich erstreckt, ist indessen zu bemerken, dass diese Gewalt nicht in der Fähigkeit aufgeht, die Menschen durch Furcht zu zwingen, sondern uneingeschränkt alle Mittel erfasst, mit denen sie dazu gebracht werden können, seinen Anordnungen zu gehorchen; nicht weshalb man gehorcht, sondern dass man gehorcht, macht nämlich einen zum Untertanen [obtemperantia subditum facit]. Denn aus welchem Grund ein Mensch sich entschließt, die Anordnungen des Souveränen auszuführen, ob aus Furcht vor Strafe, aus Hoffnung vor Profit, aus Liebe zum Vaterland oder aus einem anderen affektiven Antrieb heraus, er handelt auf Anordnung des Souveränen [ex summae potestatis imperio agit], auch wenn er sich dazu nach eigenem Ermessen entschließt [ex proprio suo consilio deliberat]. Der Tatbestand, dass der Mensch etwas nach eigenem Ermessen tut, erlaubt also nicht schon den Schluss, dass er dabei nach eigenem Recht und nicht nach dem des Staates handelt [ex suo, et non imperii jure agere]. Weil er in der Tat, ob durch Liebe verpflichtet oder von Furcht vor einem Übel gezwungen, immer nach eigenem Ermessen und aus eigener Entscheidung [ex proprio consilio, et decreto] handelt, gäbe es entweder überhaupt keine staatliche Autorität und damit überhaupt kein Recht über die Untertanen, oder dieses Recht muss sich auf alles erstrecken, was die Menschen dazu bringen kann, sich ihr unterzuordnen. (TTP17, S. 255)

Nach dieser Passage scheint sich die ideologische potestas des Staates ziemlich weit zu erstrecken. Spinoza ist hier viel radikaler als La Boétie: Die Frage ist bei Spinoza nicht, warum die Menschen sich freiwillig der Staatsgewalt unterwerfen, sondern wie die Illusion der Freiwilligkeit selbst (ex proprio consilio, et decreto) durch das Wertesystem und die Rechtsordnung des Staates ideologisch so konstituiert und stabilisiert wird, dass sich die Menschen der Staatsgewalt unterordnen. Die Wirksamkeit der ideologischen Staatsgewalt, Subjekte zu konstituieren, die ihr freiwillig gehorchen, wird u.a. von Etienne Balibar hervorgehoben.[1] Balibar erblickt die entscheidende Verschiebung Spinozas gegenüber La Boétie darin, dass für Spinoza Heteronomie und Gehorsam untrennbar verbunden sind mit der ideologisch konstituierten Illusion von „Autonomie“ und Freiwilligkeit. Spinoza vertritt die Idee

einer zirkulären Korrelation zwischen der Vorstellung des Gesetzes und derjenigen der Entscheidung, sei sie frei oder gezwungen, ex proprio oder ex alieno decreto. In der Tat, es ist die Struktur selbst des Imaginären, die hier beschrieben wird als die Welt des Guten und des Bösen, des freien Willens und des Gesetzes. Spinoza will also gerade nicht – und es ist hier, dass er die Problematik der „freiwilligen Knechtschaft“ entschieden verschiebt – Autonomie und Heteronomie, Spontaneität und Gehorsam wie zwei getrennte Welte einander entgegensetzen. (S. 360; Übersetzung von G.D.)

Anders gesagt: Menschen werden zu moralisch und rechtlich „autonomen“ Subjekten konstituiert, indem sie die Gesetze und Normen eines als objektiv gültig anerkannten Wertesystems vollkommen verinnerlichen. Schon Althusser hatte in Spinozas Theorie der imaginären Konstitution des freien Willens und der Objektivität der Werte einen theoretischen Angriff auf die „juridische Ideologie des Subjekts“, die der neuzeitlichen Philosophie (Descartes) zugrunde liegt, erblickt.[2] Balibar geht einen Schritt weiter und greift Althussers Theorie der ideologischen Anrufung auf, um zu erklären, wie diese Ideologie greifen kann, wie sie auf die Individuen wirken kann, wie der ideologische Effekt des freien Willens konstituiert wird. Wir gelangen hier ins Herz des „theologisch-politischen“ Komplexes, den Spinoza im TTP analysiert, denn die Wirksamkeit der Ideologie des freien Subjekts beruht darauf, dass das objektive Gesetz die Individuen zu Subjekten anruft. Dadurch wird ein persönliches Verhältnis zwischen dem großen Anderen des Gesetzes (dem Namen Gottes) und dem Subjekt des freiwilligen Gehorsams (Peter, Paul oder Hannah) gestiftet: der Name Gottes würde die „Stimme bezeichnen (vox illa, quam Israelitae audiverunt), die ein direktes Verhältnis der Anrufung zwischen dem Ich, Subjekt des Gehorsams (subditus), und dem universellen Er des Gesetzes stiftet.“ (S. 364; Ü. v. G.D.)

Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach den Grenzen der ideologischen Anrufung durch das als objektiv gültig anerkanntes Gesetz. Denn wenn der Staat die imaginäre und affektive Dynamik der Anrufung durch das große Subjekt des Gesetzes auffangen und kanalisieren kann, dann gelingt es ihm, wirksam darüber zu entscheiden, „was gut und was böse ist“ (quid bonum et quid malum sit) (TP2.19). Die Unterwerfung unter das Urteil eines anderen (nämlich des Staates), die die rechtliche Heteronomie beinhaltet, könnte aber als etwas unvernünftiges erscheinen. Spinoza stellt in diesem Zusammenhang eine anarchistisch klingende Frage:

Aber ist es nicht, so kann man einwenden, dem Gebot der Vernunft zuwider, sich dem Urteil eines anderen gänzlich zu unterwerfen [se alterius judicio omnino subjicere], und widerstreitet deshalb nicht der staatliche Zustand der Vernunft? (TP3.6)

Spinozas Antwort auf diese Frage ist komplex. Einerseits kann er auf das verweisen, was er in TP2.15 gesagt hatte: erst im staatlichen Zustand erlangen Menschen ihre naturrechtliche Autonomie und werden somit in die Lage gesetzt, vernunftgeleitet zu leben. Andererseits kann die naturrechtliche Autonomie, die Menschen im staatlichen Zustand erlangen, nicht gänzlich durch die Staatsgewalt selbst institutionalisiert werden. Gerade die Fähigkeit, darüber zu urteilen, was gut und was schlecht ist, lässt sich nicht gänzlich auffangen und kanalisieren durch die ideologische Gewalt des Staates:

Wäre es ebenso leicht, die Gemüter wie die Zungen zu beherrschen, würde jeder Herrscher in Sicherheit regieren, und es gäbe keine Gewaltherrschaft. Denn jeder würde nach dem Sinn der Regierenden leben und hinsichtlich des Wahren und Falschen, des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten sein Urteil bloß nach deren Beschluss richten. Doch ist es […] unmöglich, dass das Gemüt eines Menschen dem Recht eines anderen völlig unterliegt [alterius juris absolute sit]. Niemand kann nämlich sein natürliches Recht, d.h. seine Fähigkeit, die Vernunft frei zu betätigen [facultatem suam libere ratiocinandi] und über alles zu urteilen, einem anderen übertragen; und niemand kann dazu gezwungen werden. (TTP20, S. 306)

Wir erinnern uns, dass die ideologische potestas des Staates sowohl durch Drohungen („Furcht vor Strafe“) als auch durch Belohnungen („Begünstigung“, „Hoffnung auf Profit“) ausgeübt wird. Die Frage nach den Grenzen der ideologischen Anrufung durch das staatliche Wertesystem läuft somit auf die Frage hinaus, wie mächtig die durch Drohungen und Belohnungen erweckten Affekte von Furcht und Hoffnung im Vergleich zu anderen Affekten sind. Und Spinoza ist darin eindeutig, dass es sehr viele Bereiche des menschlichen Lebens gibt, die sich der affektiven Prägung durch die ideologische Gewalt des Staates entziehen und somit der Anrufung durch das objektivierte Wertesystem Widerstand leisten können:

Beispielsweise kann niemand seine Urteilskraft [judicandi facultate] aufgeben; denn welche Belohnungen oder Drohungen können einen Menschen zu dem Glauben bringen, dass das Ganze nicht größer ist als einer seiner Teile […]? Durch welche Belohnungen oder Drohungen sollte ferner ein Mensch dazu gebracht werden, den zu lieben, den er hasst, oder den zu hassen, den er liebt? (TP3.8)

Die Wirksamkeit der ideologischen Anrufung durch die Staatsgewalt findet somit ihre Grenze an der autonomen Urteilskraft des Menschen sowie an den natürlichen Dynamiken seiner Affektivität. Wenn Spinoza sagt, dass im staatlichen Zustand „die Menschen nicht unter eigenem Recht, sondern unter dem des Gemeinwesens stehen [non sui sed civitatis juris esse]“, so meint er dabei nicht,

dass Menschen ihre menschliche Natur aufgeben und eine andere sich zulegen, und auch nicht, dass das Gemeinwesen das Recht habe zu veranlassen, dass Menschen fliegen oder, was gleichermaßen unmöglich ist, mit Ehrfurcht betrachten, was Gelächter hervorruft oder Ekel erregt. (TP4.4)

Die Grenze der ideologischen potestas des Staates liegt in der Menschlichkeit der Bürger und Bürgerinnen, d.h. in der naturrechtlichen Autonomie ihrer körperlichen, affektiven und kognitiven Macht, durch welche sie ihr Leben produzieren und reproduzieren. Da Menschen nur dadurch ihre naturrechtliche Autonomie vollkommen erlangen, dass sie sich kollektiv organisieren, kann der Zweck des Staates nur in der Förderung der menschlichen potentia bestehen, und seine Stabilität wird davon abhängen, ob er die kollektiven Bedingungen dazu garantieren kann oder nicht:

Nicht, sage ich, besteht der Zweck des Staates darin, die Menschen aus vernünftigen Wesen in Tiere oder Automaten zu verwandeln, sondern im Gegenteil darin, sicherzustellen, dass ihr Geist und ihr Körper ihre Funktionen ungefährdet verrichten, sie selbst ihre Vernunft, die frei ist, gebrauchen und sich nicht mit Hass, Zorn und Arglist bekämpfen noch einander feindselig gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist also in Wahrheit die Freiheit. (TTP20, S. 308)

Spinoza erwähnt hier zwei mögliche Formen der Entmenschlichung des politischen Lebens: die Animalisation und die Automatisation desselben. Laurent Bove hat in seinen Studien gezeigt, dass das Modell des animalisierten politischen Lebens vom türkisch-osmanischen Staat exemplifiziert wird („orientalischer Despotismus“), während das Modell des automatisierten politischen Lebens vom hebräisch-theokratischen Staat instanziiert wird.[3] Man könnte sagen, dass im Fall der Animalisation die durch Drohungen erweckte Furcht der politisch bestimmende Affekt wird (vgl. TP5.4-6), während im Fall der Automatisation zwar die durch Belohnungen erweckte Hoffnung überwiegt, aber um den Preis, dass der dadurch hervorgerufene Gehorsam jede Form des autonomen Urteilens durch die Vernunft verhindert („blinder Glaube“).

Solange aber die naturrechtlich autonome Menschlichkeit der kollektiv organisierten multitudo nicht herabgewürdigt wird auf das Niveau von Tieren oder Automaten, wird ihre körperliche, affektive und kognitive Macht eine Quelle des Widerstands gegen die ideologische Anrufung durch die potestas des Staates darstellen. Die Grenzen der Staatsgewalt sind nicht die von deren (normativen) Legitimität. Vom Standpunkt der Legitimität aus lässt sich nach Spinoza sagen, dass ein Staat an keine Gesetze gebunden ist, da er selbst diese Gesetze erlässt (TP4.5). Die naturrechtliche Autonomie der multitudo aber, obwohl sie erst im staatlichen Zustand zur Geltung kommt, lässt sich nicht gänzlich durch die Staatsgesetze institutionalisieren. Die Macht der multitudo stellt die naturgesetzliche Grenze der Wirksamkeit der Staatsgewalt dar. Vom Standpunkt der Naturgesetze aus ist ein Staat sehr wohl an Gesetze gebunden, nämlich an die Naturgesetze der potentia multitudinis. Diese Naturgesetze

gehören nicht zu den vom Staat erlassenen Rechtsgesetzen, sondern in das Feld des natürlichen Rechts [non ad jura civilia sed ad jus naturale spectant], weil sie ja kraft des Rechts des Krieges beansprucht werden können [jure belli vindicare possunt] und nicht kraft staatlichen Rechts. Ein Gemeinwesen ist nur in dem Sinne an sie gebunden, in dem ein Mensch im Naturzustand, um unter eigenem Recht stehen zu können, d.h. um nicht sein eigener Feind zu sein, gehalten ist, Vorsorge gegen den eigenen Untergang zu treffen. Diese Vorsicht [cautio] hat nichts mit Unterwerfung [obsequium] zu tun; sie gehört vielmehr zu der in der menschlichen Natur verankerten Freiheit. (TP4.5)

Die Naturgesetze der autonomen Macht der multitudo können nicht verletzt werden,

ohne dass zugleich die gemeinsame Furcht der Mehrzahl der Bürger in Empörung umschlägt [metus in indignationem vertatur]; dann löst sich, wenn dies geschieht, das Gemeinwesen auf [civitas dissolvitur]; d.h. der Vertrag zerbricht [contractus cessat], der also nur nach dem Recht des Krieges respektiert wird [jure belli vindicatur], nicht aber nach dem staatlichen Recht. (TP4.6)

Der Vertrag zerbricht: Wie Laurent Bove dies klar gezeigt hat,[4] besteht der Unterschied zwischen Spinoza und den Monarchomachen in der unterschiedlichen Auffassung, die sie vom Vertragsbruch haben. Für die Monarchomachen ist jeder Absolutheitsanspruch der königlichen Macht angesichts der vertraglichen Vereinbarungen zwischen Volk und König als illegitim zu erachten. Der Vertragsbruch erfolgt aufgrund einer Verletzung der Ordnung der Legitimität. Für Spinoza hingegen erfolgt der Vertragsbruch aufgrund einer Verletzung der Naturgesetze der Macht. Jeder Versuch seitens des Staates, seine potestas zu verabsolutieren, stößt an die physikalische Grenze der potentia multitudinis. Das Recht auf Widerstand ist für Spinoza eine Art Naturgesetz des Widerstands, den die multitudo auf die Einwirkungen durch die Staatsgewalt leistet. Wenn die (auch ideologische) Unterdrückung durch die potestas des Staates ein bestimmtes Ausmaß übersteigt, zerbricht der Vertrag. Das Kräfteverhältnis zwischen potentia und potestas kann nicht selbst rechtlich geregelt werden durch die vom Staat erlassenen Gesetze. Sein Terrain ist nicht das vom staatlichen Recht, sondern das vom Recht des Krieges (jus belli). Der Umschlag von Furcht in Empörung (indignatio) stellt den kritischen Punkt dar, an dem die Grenze der Geltung des Staatsrechts überschritten wird und das Recht des Krieges in Kraft tritt:

Am wenigsten [gehört] zum Recht des Gemeinwesens [das], was bei den meisten Empörung hervorruft. Denn sicherlich liegt es in der Natur der Menschen, sich konspirativ zusammenzutun [in unum conspirare], sei es aufgrund einer gemeinsamen Furcht, sei es aus dem Verlangen, einen erlittenen Schaden zu rächen; und weil das Recht des Gemeinwesens von der gemeinsamen Macht der Menge her definiert wird, verringert sich sicherlich dessen Recht, d.h. dessen Macht, in dem Maß, in dem es selber Veranlassung gibt, dass viele sich [aus diesen Gründen] zusammenrotten [in unum conspirent]. (TP3.9)

Mit dieser impliziten Bezugnahme auf Machiavellis Theorie der Konspirationen (Discorsi III, 6) betreten wir das Terrain der bewussten politischen Aktion, um ein Regime zu stürzen. Im TTP hatte Spinoza die libertas philosophandi nur auf jene Meinungen einschränken wollen, die nicht aufrührerisch (seditiosae) sind, d.h. die „eine Handlung wie Bruch des Paktes [ruptionem pacti], Rache, Zorn usw. nicht enthalten“ (TTP20, S. 311). Im TP wird nun zwar nicht explizit gesagt, dass die libertas philosophandi auch auf aufrührerische Meinungen ausgedehnt werden soll. Die konspirative Organisation zum Sturz einer Staatsgewalt, die die Menschen unterdrückt, wird aber faktisch anerkannt als notwendige Folge des durch die Unterdrückung hervorgerufenen kollektiven Affekts der Empörung.

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Die Perspektive des Vertragsbruchs und der Auflösung der civitas stellt zugleich den Punkt dar, an dem die subversive Potenz der multitudo neue Regimes der politischen Vermittlung erfinden kann. Auf die Strategien, durch die die Formveränderung von politischen Vermittlungsregimes kollektiv organisiert werden kann, soll in der Konklusion eingegangen werden.

3. Konklusion: Vermittlung oder Subversion?

Wie subversiv ist Spinoza?

Die Verurteilung aufrührerischer Meinung, die Spinoza im TTP formuliert, könnte eine(n) dazu verleiten, die subversive Dimension seines Denkens zu unterschätzen. Im TP wird allerdings die konspirative Organisation zum Sturz unterdrückerischer Regimes als eine notwendige Folge des kollektiven Affekts der Empörung anerkannt, den die politische und ideologische Unterdrückung hervorruft. Die Dynamik, die die kollektive Empörung in die bewusste politische Aktion einer konspirativen Organisation transformiert, ist zugleich ein Prozess, in dem die subversive Potenz der multitudo neue Formen der politischen Vermittlung erfindet. Spinoza ist in dieser Hinsicht klar, wenn er darauf aufmerksam macht, dass die vollkommene Auflösung einer civitas sowohl wie nie stattfindet, da die konstituierende Macht der aufständischen multitudo neue Formen der konstituierten Gewalt entwerfen wird, die ihre kollektive Organisation ermöglichen:

Aus Zwietracht und Aufruhr [ex discordiis … et seditionibus], die in einem Gemeinwesen häufig zum Ausbruch kommen, wird also nie bewirkt, dass die Bürger ihr Gemeinwesen auflösen […], sondern nur, dass sie seine Form in eine andere umwandeln, dann nämlich, wenn sie ihre Streitigkeiten [contentiones] nicht unter Beibehaltung der Gestalt des Gemeinwesens beilegen können. (TP6.2)

Laurent Bove hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie die genaue Dynamik des Widerstandes aus kollektiver Empörung verläuft, und wie sich diese zu dem konstituiert, was Spinoza als politische Vorsicht (cautio oder prudentia) bezeichnet.[5] Denn die indignatio als solche ist zunächst eine Art des Hasses, und als solche eine traurige Leidenschaft. Spinoza definiert sie nämlich als „Hass auf den, der einem anderen Schaden zugefügt hat“ (E3p22s). Wir empören uns, wenn wir beobachten, wie Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden. Wir hassen deren Unterdrücker und Ausbeuterinnen. Allerdings kommt dieser Hass nie allein. Wir müssen erst eine Empathie mit dem Unterdrückten oder der Ausgebeuteten empfinden, die Spinoza als commiseratio bezeichnet (E3p27s): „Mitleid“ im wörtlichen Sinn, dass wir mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten leiden. Aus der traurigen Leidenschaft der commiseratio entspringt aber zugleich die Begierde, die Unterdrückten und die Ausgebeuteten „von ihrem Unglück zu befreien [a miseria … liberare]“ (E3p27c3), d.h. die Ursache ihres Leidens zu zerstören (E3p27c3d). Der Hass gegen Ausbeuter und Unterdrückerinnen, den Spinoza als indignatio bezeichnet, ist eine Begleiterscheinung der Begierde, leidende Menschen von ihren Ketten zu befreien. Diese Begierde der benevolentia, wie Spinoza sie nennt (E3p27c3s), soll also nicht mit einem vagen Philanthropismus verwechselt werden, sondern ist ein aktiver Affekt der kämpferischen Solidarität mit den Unterdrückten und den Ausgebeuteten.

Was passiert nun, wenn der aktive Affekt der kämpferischen Solidarität mit den Unterdrückten und den Ausgebeuteten sich konspirativ organisiert, um das Unterdrückungsregime zu stürzen? Das ist der Punkt, an dem der Vertrag zerbricht und das jus belli in Kraft tritt. Die Naturgesetze der Macht gewinnen hier die Oberhand gegenüber den staatlichen Gesetzen der institutionalisierten Gewalt. Während letztere Gehorsam verlangen, erfordert der Umgang mit den ersteren eben jene cautio (Vorsicht), von der Spinoza sagt, sie hätte „nichts mit Unterwerfung [obsequium] zu tun“ (TP4.5). Prominent figurieren prudentia und cautio dort, wo Spinoza sich auf Machiavelli beruft, um das Recht auf Widerstand gegen die Tyrannen zu vindizieren. Machiavellis Absicht scheint gewesen zu sein zu zeigen, „wie unklug [imprudenter] das Bestreben vieler ist, einen Tyrannen aus dem Weg zu räumen, wenn sie die Ursachen, die aus dem Fürsten einen Tyrannen machen, nicht beseitigen können“ (TP5.7). Mehr noch: „Vielleicht wollte er außerdem zeigen, wie sehr eine freie Menge [libera multitudo] sich davor hüten müsse [cavere debet], das eigene Wohlergehen vollständig einem einzigen Menschen anzuvertrauen“ (TP5.7). Prudentia ist Erkenntnis der Ursachen, die die Unterdrückung generieren, und cautio (Vorsicht, Behutsamkeit) kommt von cavere (sich hüten): Erst die adäquate Erkenntnis der Dynamiken der Macht macht es dem Widerstand möglich, sich erfolgreich zu organisieren, und erst die kollektive Organisation macht es der libera multitudo möglich, sich vor der Gefahr zu hüten, dass ihre potentia gänzlich vereinnahmt wird durch die konstituierte Staatsgewalt. Prudentia und cautio bilden das, was Bove die „Strategie des Conatus“ nennt, durch die das natürliche Begehren der Menschen Widerstand leistet gegen die Versuche der Vereinnahmung und der Kodierung durch die Staatsgewalt. Ohne prudentia und cautio bleibt der Gehorsam gegenüber konstituierten Gewalten blind; die Menschen kämpfen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil.

Prudentia und cautio bedeuten aber auch, dass die kollektiv organisierte potentia der multitudo keine vollkommene Auflösung der civitas bewirken wird, sondern eher eine Veränderung in den Formen der politischen Vermittlung des sozialen Antagonismus. Hier zeigt sich nochmals, wie tief sich die Spannung zwischen Subversion und Vermittlung durch Spinozas politisches Denken hindurchzieht. Die subversive Macht der multitudo bewirkt nicht bloß die Zerstörung aller Formen der institutionalisierten Unterdrückung. Antonio Negri selbst, dessen Interpretation auf der Entgegensetzung von potentia (it. potenza) und potestas (it. potere) beruht, scheint mit dem Begriff des contropotere (Gegengewalt) eine neue Form der Vermittlung einzuführen. Der ontologische Widerstand, den die potentia gegen die konstituierte Gewalt leistet, konkretisiert sich historisch in der Form von konstituierten Gegengewalten (contropoteri), die die Absolutheit eines Regimes (sei es monarchisch oder aristokratisch) nicht normativ-konstitutionell, sondern effektiv-dynamisch einschränken:

Die monarchische Herrschaft (als reine historische Tatsache) wird zum rationalen Element, wenn sie der Abstraktheit der juristischen Definition entzogen wird und in einem Rahmen von Beziehungen zwischen Gewalt und Gegengewalt [potere e contropotere] gesetzt wird: der Absolutismus wird gemäßigt, die Mäßigung ist eine dynamische Beziehung, das Verhältnis bezieht alle Subjekte in die konstitutive Tätigkeit ein. Das konstitutionelle Gleichgewicht ist eine Begegnung-Vermittlung-Auseinandersetzung zwischen Vermögen [potenze]. (S. 332)[6]

Läuft die dynamische Mäßigung (moderazione dinamica), die hier Negri einführt, nicht darauf hinaus, dass die kollektive Macht der Aneignung durch die Produktivkräfte letztendlich doch noch subsumiert wird unter das Kommando von ausbeuterischen Produktionsverhältnissen? Wird die Sprengkraft von Spinozas Denken damit nicht entschärft und die kommunistische Perspektive, die die Idee der potentia multitudinis zu eröffnen schien, aufgegeben zugunsten einer „reformistischen“ Lösung, in deren Rahmen der soziale Antagonismus institutionell kanalisiert und befriedet wird? Der Punkt ist, dass die kommunistische Perspektive, wie sie Negri mit Spinoza denkt, auf keinen Fall im Sinn einer „Dialektik“ von Entfremdung und Versöhnung konzipiert werden kann. Der Kommunismus ist nicht mit der Utopie einer „versöhnten Gesellschaft“ gleichzusetzen. Spinoza überwindet die Krise der humanistischen Utopie mit dem Entwurf einer „Dis-Utopie“, die Negri als „Verflechtung der konstitutiven Tendenz und der bestimmten, kritischen Beschränkung“ charakterisier (S. 246). Mit anderen Worten: Verflechtung von subversiver Potenz und konstituierter Gegengewalt. Die „Des-Utopie“ kann nie hypostasiert werden und die Gestalt eines in der Zukunft zu verwirklichenden idealen Zustands annehmen:

Der emanzipative Schub des Denkens der Des-Utopie setzt sich nämlich nie als hypostasierende Formel: in keinem Fall. Die Emanzipation ist Übergang, nicht weil sie die Zukunft intuitiv erkennt, sondern weil sie der Gegenwart innewohnt und sie durchläuft. (S. 248)

Der Kommunismus ist kein Zustand, der hergestellt werden soll, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt (Marx). Die dynamische Mäßigung von Gewalt und Gegengewalt hebt den Antagonismus nicht auf, sie zähmt oder kanalisiert ihn auch nicht. Sie ist das Terrain, auf dem der Kampf um die Befreiung vom Kommando der Wertform ausgetragen wird, die dynamische Grenze zwischen Staatsgewalt und bewaffnetem Widerstand (jus belli). Spinozas dornige Rose sei uns eine Mahnung, dass ohne politische Vorsicht der Kampf der Menschen für ihre Befreiung sich immer in einen für ihre Knechtschaft umwandeln kann: Caute!

 

[1] Balibar: Jus – Pactum – Lex. Sur la constitution du sujet dans le Traité théologico-politique; in: Ders.: Spinoza politique: le transindividuel, 2018; 337-384.

[2] Althusser: Elemente der Selbstkritik, 1975; 76f..

[3] Bove: Politique: „j’entendes par là und vie humaine“; in: Multitudes 2005/3 (No. 22); 63-76.

[4] Bove: La stratégie du conatus, 1996; 278-291.

[5] Bove: Ebd., 291-301.

[6] Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O.


Gregorio Demarchi, Philosoph, geb. 1984, lebt als Freund von Humanismus und kritischer Vernunft und wirkt zurzeit in Zürich.


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