Die drei Wege der chinesischsprachigen Forschung zum Marx-Hegel-Verhältnis – und ein neuer Vorschlag

Der folgende Artikel gibt einen Überblick, wie gegenwärtige chinesische Philosophen über die intellektuelle Beziehung von Hegel und Marx forschen – und möchte damit einen Eindruck vermitteln, in welcher Weise in China über die denkerischen Ursprünge des geistigen Vaters der eigenen sozialistischen Ideologie nachgedacht wird.

Die intellektuelle Beziehung zwischen Karl Marx und G. W. F. Hegel ist seit langem ein Schlüsselthema auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie. Dabei geht es um das Verständnis der Quelle von Marx’ Denken, sowie der Art und Weise, wie er seine eigene Theorie auf der Grundlage der Hegelschen Philosophie entwickelte. Diese Verhältnisbestimmung berührt wichtige Strömungen sowohl der Hegelschen als auch der marxistischen Studien. Die Wiederbelebung der Hegelforschung und der Bedeutungszuwachs der Marxforschung im zwanzigsten Jahrhundert drängen dazu, die intellektuellen Ursprünge dieser beiden Denker neu zu fassen.

Die chinesischsprachige Forschung zur Marx-Hegel-Beziehung basiert auf der Grundidee, das Denken von Marx durch das Denken von Hegel zu verstehen (“von Hegel zu Marx”). Dabei lassen sich drei Ansätze identifizieren: den Weg über die Phänomenologie des Geistes, den Weg über die Wissenschaft der Logik und den Weg über die Grundlinien der Philosophie des Rechts. Streng genommen ließe sich auch der Ansatz der “Ent-Hegelisierung” von Marx[1], einschließlich der Versuche, Kant als seine entscheidende Inspirationsquelle zu positionieren[2], als eine Spielform der Marx-Hegel-Beziehung betrachten und als weiterer wichtiger Forschungsweg nennen. Jedem dieser Wege entspricht eine relativ fixe Gruppe an Texten von Marx und Hegel. Entwicklungsgeschichtlich fand Marx‘ erste Auseinandersetzung mit Hegel in der Philosophie des Rechts statt. Rezeptionsgeschichtlich wurde diese Auseinandersetzung in China jedoch als letzte diskutiert, was vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen ist: Zum einen wurde die moderne politische Philosophie in China erst in den 1990er Jahren als Disziplin eingeführt. Zum anderen haben chinesische Wissenschaftler erst allmählich die Bedeutung und vielfältigen Dimensionen von Marx’ frühem Denken erkannt und näher zu erforschen begonnen.

 

  1. Der Weg über die Phänomenologie des Geistes[3]

Der Weg über die Phänomenologie des Geistes untersucht primär, wie Marx Hegels Theorien über die Identität von Subjekt und Objekt[4], Arbeit[5], Entfremdung[6], sowie Selbstbewusstsein[7] kritisch übernommen hat. Dieser Forschungsweg betont die Bedeutung der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844 und hebt die Einflüsse von Engels, Hess und Proudhon auf Marx bei der Entwicklung seiner Position eines humanistischen Materialismus hervor. Inhaltlich rücken somit die Kritik entfremdeter Arbeit und die Kritik der politischen Ökonomie in den Vordergrund, wobei letztere als theoretischer Ausdruck der ersteren betrachtet wird. Marx’ Konzept des Kommunismus wird als die Entwicklungsrichtung einer zukünftigen menschlichen Gesellschaft aufgefasst, die das Privateigentum überwunden hat. Mit Blick auf Hegel wird das Denken von Marx in erster Linie als Kritik an der Methodologie der Hegelschen Theorie betrachtet, die als intellektuelle Mutter der Junghegelianer, insbesondere Bruno Bauers, gilt.

Der Begriff des Menschen, den Marx in dieser Zeit hervorhebt, entspricht dem Wesen des absoluten Geistes in Hegels Theorie und folglich auch dem Wesen der Geschichte. Erst mit der Einsicht in die konkrete und praktische Wirklichkeit des Menschen und des materiellen Produktionsprozesses, wie er sie in den mit Engels gemeinsam verfassten Manuskripten zu Die Deutsche Ideologie darlegte, konnte Marx diesen abstrakten und ahistorischen Begriff des Menschen hinter sich lassen.

 

  1. Der Weg über die Wissenschaft der Logik[8]

Der Weg über die Wissenschaft der Logik konzentriert sich auf Marx’ Ökonomische Manuskripte 1857/58 und Das Kapital. Erörtert wird dabei vor allem Marx’ Aufhebung der Hegelschen Dialektik, die sich paradigmatisch in der Gegenüberstellung der Kapitellogik von Das Kapital und Hegels Wissenschaft der Logik zeigt.[9] Marx‘ Methode wird als Umkehrung der Hegelschen Dialektik gesehen.[10]

Dieser Forschungsansatz über die Wissenschaft der Logik verortet den Schwerpunkt in Marx‘ Denken auf seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, der er sich nach der Begründung des historischen Materialismus und der eingehenden Befassung mit der politischen Ökonomie widmete. So stellt sich Marx‘ Theorie als die materialistische Anpassung und Anwendung der Hegelschen Dialektik und als Kritik des widersprüchlichen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise einerseits und der Produktions- und Tauschverhältnisse andererseits dar. Chinesische Gelehrte, die diesen Forschungsweg verfolgen, gehen davon aus, dass Marx mit dieser dialektischen Analyse vorrangig das Ziel verfolgte, die Geschichtlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und ihren vorübergehenden Charakter zu behaupten.

 

  1. Der Weg über die Grundlinien der Philosophie des Rechts[11]

Der Weg über die Grundlinien der Philosophie des Rechts befasst sich mit Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und dem Aufsatz Zur Judenfrage. Anhand dieser Texte wird Marx’ Aufhebung einiger Schlüsselbegriffe der Hegelschen Theorie erörtert, aus der sich die politische Philosophie von Marx, seine sozialkritische Theorie[12] und damit zusammenhängende Fragen der philosophischen Revolution[13] ableiten: der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft[14] und des Staates[15], sowie das Verhältnis von Wirklichkeit und Idee[16].

Die chinesischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Marx’ Begegnung mit Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts hervorheben, betrachten diese Periode als den Beginn von Marx‘ kritischer Auseinandersetzung mit Hegel, vor allem mit dessen Konzept des rationalen Staates und des dahinterstehenden spekulativen Idealismus‘. Die Bedeutung Feuerbachs für Marx sehen sie hauptsächlich darin, Marx den natürlichen Materialismus als Mittel der Kritik an Hegel zu liefern. In seiner historischen Forschung, wie sie sich in den Kreuznacher Heften niederschlägt, entlarvt Marx das Privateigentum als treibende Kraft des politischen Staates und wendet sich der Zivilgesellschaft, d.h. der Untersuchung der konkreten bürgerlichen Gesellschaft zu.

 

  1. Ein neuer Weg: Von Marx zu Hegel

Wir schlagen vor, die Forschungsrichtung umzukehren, d.h. also Hegel aus der Perspektive von Marx zu verstehen (“von Marx zu Hegel”). Ein solcher Forschungsweg konzentriert sich auf die Geschichtsphilosophie von Marx und Hegel als demjenigen philosophischen Bereich, in dem Marx versuchte, das Hegelsche System als Ganzes zu überwinden. Die Erörterung des Verhältnisses zwischen Marx und Hegel im Sinne eines Weges “von Marx zu Hegel” mit seiner geschichtsphilosophischen Perspektive bietet einen neuen Ansatz, Marx’ Sublimierung der Hegelschen Geschichtstheorie zu untersuchen, vertieft das Verständnis von Marx‘ historischem Materialismus, stellt die Bedeutung und Wirkung der Marx’schen philosophischen Revolution dar und fördert nicht zuletzt die Erforschung des intellektuellen Verhältnisses zwischen Marx und Hegel auf eine neue Weise.

 

[1]Beispielhaft im Westen: Galvano Della Volpe, Rousseau and Marx, Lucio Colletti, Marxism and Hegel.

[2]Beispielhaft in der chinesischsprachigen Forschung: Wang Nanshi 王南湜. Im Westen: Kojin Karatani und Sabu Kohso, Transcritique: On Kant and Marx. In den Fußnoten werden aus der chinesischsprachigen Wissenschaft lediglich die Namen der führenden Marxismusforschenden genannt, nicht aber deren institutionelle Zugehörigkeit oder Hauptwerke. Der Autor ist bei Interesse zu ausführlicherer Auskunft selbstverständlich bereit.

[3]Im Westen: Georg Lukács,History and Class Consciousness und Ontology of Social Being; Theodor Adorno

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, Negative Dialectics; Martin Heidegger, Holzwege;Alexandre Kojève, Introduction to the Reading of Hegel: Lectures on the Phenomenology of Spirit; Hyppolite, Studies on Hegel and Marx.

[4]Zhang Dun 张盾.

[5]Wang Jinlin 王金林; Wang Daiyue 王代月.

[6]Zhang Yibin 张一兵; Yang Haifeng 仰海峰.

[7]Han Lixin 韩立新.

[8]Im Westen: Christopher J. Arthur, The New Dialectic and Marx’s ‘Capital’ and Dialectics of Labour: Marx and His Relation to Hegel, Tony Smith, The Logic of Marx’s Capital and Dialectical Social Theory and Its Critics, Louis Althusser, For Marx and Reading Capital.

[9]Tang Zhengdong 唐正东.

[10]Zhang Wu 张梧; Sun Leqiang 孙乐强; Wang Nanshi 王南湜.

[11]Im Westen:Berki R. N., Perspectives in the Marxian Critique of Hegel’s Philosophy of Right, Ilting K. -H., Hegel on State and Marx’s Early Critique, Domenico Losurdo, Hegel and the Freedom of Moderns, Herbert Marcuse, Reason and Revolution, Jürgen Habermas,The Philosophy Discourse of Modernity.

[12] Zhao Dunhua 赵敦华; Li Shumei 李淑梅.

[13] Han Lixin 韩立新; Zou Shipeng 邹诗鹏.

[14] Zhang Shuangli 张双利; Chen Hao 陈浩.

[15] Wang Daiyue 王代月; Long Xia 龙霞.

[16] Zhao Dunhua 赵敦华; Wu Xiaoming 吴晓明.


Tao TAN, geb. 1998, Studium der Marxistischen Theorie, Doktorand der Tsinghua Universität, Peking, China. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Hegel-Marx-Beziehung und die Philosophie der Geschichte.


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