Der hypermoderne Hygienismus und die Linke. Tendenzen eines postideologischen Totalitarismus

Am 28. Nov. 2021 stimmte die Schweizer Bevölkerung über das sog. „Covid-19-Gesetz“ ab, in welchem nachträglich die vom Schweizer Staat ergriffenen Corona-Schutzmaßnahmen vom Volk legitimiert werden sollten.[1] 38 % der Bevölkerung lehnten das Gesetz ab. Trotz dieses Abstimmungsresultats lautet auch in der Schweiz bis heute die offizielle Doktrin, dass die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen vom überwiegenden Teil der Bevölkerung befürwortet wurden und nur eine zu vernachlässigende Minderheit nicht hinter der staatlichen Corona-Politik stand. Knapp 40% der Bevölkerung sind jedoch keine Minderheit. Und es ist anzunehmen, dass wenn die Bevölkerung die Gelegenheit dazu gehabt hätte, das Resultat auch in anderen Ländern ähnlich ausgefallen wäre. Zu keinem Zeitpunkt der letzten zweieinhalb Jahre erhielt dieser Teil der Bevölkerung jedoch den Status einer politischen Opposition. Kritikern wurde vielmehr Irrationalität vorgeworfen und damit pauschal Politikwürdigkeit abgesprochen. Dabei wäre eine gesellschaftliche und damit politische Auseinandersetzung bezüglich der Verhältnismäßigkeit der weltweit ergriffenen Corona-Maßnahmen durchaus adäquat gewesen, zumal nach den Kriterien der WHO für die Definition einer Pandemie vor deren Änderung im Jahr 2009 Sars-CoV-2 nicht in den Rang einer Pandemie gelangt wäre.[1]

Zieht man in Betracht

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, dass seit Beginn der Krise die weltweiten Proteste gegen die Schutzmaßnahmen von den Medien aufs massivste heruntergespielt wurden[2], so ist es nicht ganz falsch zu sagen, wie es im Manifeste Conspirationniste heisst, dass Covid19 die erste Pandemie war, von deren Existenz die Menschen erst überzeugt werden mussten.[3]

Diese Situation ist neu. Und sie hat insbesondere vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte etwas Unverständliches, zeigt doch die Geschichte Deutschlands, wie leicht sich gerade die Medizin dazu missbrauchen lässt, politische Illiberalität in das Gewand von Wissenschaftlichkeit und Fortschritt zu kleiden. In diesem Fall ging die illiberale Tendenz jedoch vor allem von der Linken aus. Dies widerspricht einem breiten Konsens in den Sozialwissenschaften, der seit dem Zweiten Weltkrieg für ungezählte Generationen von Sozialwissenschaftler zur politischen Sozialisation gehörte, illiberale Tendenzen und damit die Gefahr eines neuen Autoritarismus im rechten Spektrum der Gesellschaft zu verorten.

Für politische Beobachter aus einer eher marxistischen Tradition, zu der sich die Autorin zählt, war es deshalb von Anfang an befremdlich, wie sehr weite Teile der Linken die seit Beginn der Corona-Krise erlassenen staatlichen Corona-Maßnahmen nicht nur guthießen, sondern zu deren maßgeblichen Verfechtern wurden. Dabei trug nicht nur die regierungsbeteiligte und damit staatstragende parlamentarische Linke die Maßnahmen mit. Frappierend war insbesondere, dass auch die außerparlamentarische Linke, die bis dato dem Staat gegenüber eher skeptisch eingestellt war, sich vorbehaltslos hinter die Maßnahmen stellte, oder sogar, wie im Falle von „Zero Covid“, noch deren Verschärfung forderte. Es ist präzise jenes urbane, meist von jungen Erwachsenen getragene Milieu, zu dem auch weite Teile der kulturalistisch-linken Academia gehören, das bis vor Kurzem den Staat für jede kleinste Disziplinierung verurteilte und diesen, beispielsweise in der Frage von Geschlecht, der gewaltförmige Normierung bezichtigte, das nun über Nacht dazu überging, staatliche Maßnahmen zu verteidigen, die in ihrer Rigorosität und Einflussnahme auf die intimsten Lebensbereiche präzedenzlos sind. Was sich in dieser Koalition von „linksradikalen“ und „linksliberalen“ Kräften seit längerem abzeichnet, nämlich eine auf individuelle Verzichtleistung gründende Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen, kristallisierte sich während der Corona-Krise zu einem eigentlichen Selbstbezichtigungsdispositiv heraus, worin sich eine nicht weiter begründete Überzeugung artikulierte, an der wie auch immer definierten Misere nicht nur selber beteiligt zu sein (das Virus als Effekt unserer maßlosen Lebensweise bspw.), sondern mit den entsprechend Mitteln der Entsagung dieser auch wirkungsvoll begegnen zu können.

Ich interpretiere diese Bejahung der staatlichen Maßnahmen als Ausdruck einer – m.E. fehlgeleiteten – Hoffnung, die durch die Subjektkritik des 20. Jahrhunderts geleistete Kritik am bürgerlichen Subjekt durch die Drastik der Maßnahmen in die Tat umgesetzt zu sehen, indem dessen Anspruch auf Selbstidentität den Erfordernissen eines gesellschaftlichen Gesamtwohls untergeordnet werden.[4] Fehlgeleitet scheint mir diese Hoffnung deshalb, weil hier das Problem der Selbstidentität lediglich vom individuellen Subjekt auf ein wie auch immer geartetes Gesamtsubjekts (des Volkskörpers: Stichwort Herdenimmunität) übertragen wird, womit in Sachen Dezentrierung des Subjekts nicht wirklich etwas gewonnen ist: Das Individuum scheint nun zwar entmachtet, nicht aber jener Volkskörper, auf den stattdessen das Phantasma der Selbstidentität übertragen wird.

Mir geht es im Folgenden jedoch nicht um die Verteidigung einer wie auch immer gearteten Freiheit gegenüber den Ansprüchen eines wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Kollektivs, womit wir tatsächlich in einem klassischen Links-Rechts-Konflikt wären. Ich glaube vielmehr, dass wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben, insofern nämlich die maßnahmenbefürwortende Linke sich auch dort vehement gegen die Kritik an den Maßnahmen stellte, wo diese eindeutig aus einem linken Hintergrund heraus formuliert wurde.[5] Illiberal ist diese Haltung deshalb, weil sie diese Kritik nicht als eine mögliche linke Position akzeptierte, sondern ohne weiteres postulierte, dass jede Kritik an den Maßnahmen illegitim, rechts oder sogar rechtsextrem sei. Anstatt sich dagegen zur Wehr zu setzten, dass der Abbau von Krankenhausbetten auch und gerade während der Corona-Zeit massiv vorangetrieben wurde;[6] anstatt klarzustellen, dass die Überlastung des Pflegepersonals auf eine systemische Unterfinanzierung und damit auf eine aktiv herbeigeführte Personalschrumpfung zurückzuführen ist;[7] anstatt zu skandalisieren, dass die Lockdownmaßnahmen in erster Linie eine ökonomische Katastrophe für die Länder des Südens bedeuteten, aber auch in den kapitalistischen Zentren einer ökonomischen Kriegserklärung an die ärmeren Bevölkerungsschichten gleichkam[8], lag der Fokus linker Maßnahmenbefürworter einzig und allein auf der Kritik an den Maßnahmenkritikern.[9] Warum wies die Linke nie auf den Klassencharakter der Maßnahmen hin? Und dies selbst dann nicht, als bald einmal klar wurde, dass die anfängliche Euphorie, der wiedererstarkende Staat könnte eine Art Neuauflage des keynesianischen Wohlfahrtstaats bedeuten, sich als illusorisch erwies, da die immensen ökonomischen Schäden durch die Lockdowns insb. für die ärmeren Bevölkerungsschichten kaum jemals durch staatliche Gegenmaßnahmen aufgewogen werden konnten. Doch dies änderte nichts an ihrer Haltung: Der Hauptfokus linker Kritik lag nun nicht länger bei den Klassen, sondern sie diskreditierten paradoxerweise jene als rechts, die den Klassenstandpunkt vertraten. Dies bedarf der Interpretation.

Ein neues Akkumulationsregime

Denn auch die anfängliche Vorstellung, der Staat sei nun endlich dazu übergegangen, den Schutz des Lebens höher zu werten als die Interessen des Kapitals, lässt sich rückblickend so kaum halten. Ohne heute bereits eine vollumfängliche Einordnung vornehmen zu können, kann nach zweieinhalb Jahren Pandemie-Regime doch mit Fug behauptet werden, dass dieses den Kapitalinteressen in keinerlei Weise Abbruch tat. Vielmehr zeichnet sich in der Folge der Corona-Maßnahmen eine, aus kapitalinternen Gründen notwendig gewordene, Neuordnung des Akkumulationsregimes ab.[10] Die seit der großen Wirtschaftskrise der 1970er Jahre offen gebliebene Frage ist nämlich, ob es dem Kapitalismus je gelungen ist, die auf stagnierende Produktivitäts- und in der Folge sinkende Profitraten zurückgehende Krise Mitte der 1970er Jahre zu überwinden und damit die Abwanderung des anlagesuchenden Kapitals in den Finanzsektor zu stoppen, oder ob wir seit da im Modus einer Art permanent verschobenen Krise leben.[11] Mit der Corona-Krise und im Zuge der forcierten Digitalisierung zeichnet sich hier jedoch eine Wende ab. So spricht die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy davon, dass die durch die Maßnahmen erzwungene Digitalisierung einem kybernetischen Kapitalismus den Weg geebnet, wenn nicht gar zum Durchbruch verholfen hat. Diese „kybernetische Wende“ betrifft jedoch nicht länger den Bereich der Produktion, wo die Digitalisierung weitgehend umgesetzt ist. Sie fokussiert vielmehr auf die technisch bereits mögliche Schnittstelle zwischen Mensch und digitalen Netzwerken zum Zwecke einer auf technischen Mitteln basierenden Optimierung des menschlichen Lebens, womit sich ein immenses neues Investitionsfeld eröffnet. Dieses kann damit zum Ausgangpunkt eines neuen Wirtschaftsaufschwungs mit den MANBRIC-Technologien (Grinin & Grinin)[12] als neuer Leittechnologie und einer digitalisierten Gesundheitswirtschaft als dem neuen Leitsektor werden. Vor dem Hintergrund dieser konjunkturtheoretischen Überlegungen bekämen die Corona-Maßnahmen – ob intendiert oder nicht, sei einmal dahingestellt – den Stellenwert jener von Joseph Schumpeter so genannten „kreativen Zerstörung“, die Innovationen als für die Kapitalakkumulation notwendige Erneuerung den Weg bereiten. In eine ähnliche Richtung geht Shosana Zuboff, wenn sie argumentiert, dass die digitalisierte Lebensweise deshalb neue und gigantische Profitmöglichkeiten eröffnet, weil wir darin zu unfreiwilligen Produzenten des wichtigsten Rohstoffes, der Daten, werden, die wir mit unseren Datenspuren hinterlassen und mit denen der deshalb von ihr so bezeichnete „Überwachungskapitalismus“ in einer gänzlich neuen „Produktionsform“ ungeahnt hohe Profite erzielen kann. Einen etwas anderen Gesichtspunkt führt Fabio Vighi ins Feld, wenn er argumentiert, dass im Hintergrund der Corona-Krise eine seit Herbst 2019 im Gang befindliche, gigantische Finanzkrise drohte, die nur mit der Flutung der Finanzmärkte mit Liquidität in einem bisher nie gekannten Ausmaß abzuwenden war und für die die lockdown-bedingte Abkühlung der Wirtschaft eine gewisse Atempause bedeutete.[13] Ohne sagen zu wollen, dass die Maßnahmen eigens dafür erfunden wurden, erwiesen sich diese doch als funktional im Bemühen um die Drosselung noch einer anderen Kurve: der Gefahr einer mit dieser Flutung verbundenen Hyperinflation. Dass sich diese nun in abgeflachter, dafür aber anhaltender Form bemerkbar macht, scheint Vighis These zu bestätigen. Der grosse Kollaps ist damit für die Wirtschaft nicht nur ausgeblieben, sondern diese erfreut sich bereits erneut hoher Rekordgewinne – was jedoch keineswegs bedeutet, dass es deshalb der Bevölkerung besser geht.[14]

Ob beabsichtigt oder nicht: Rückblickend muss festgehalten werden, dass der Staat mit den Corona-Maßnahmen auch der Durchsetzung einer neuen Lebensweise diente, die letztlich dem sich in einer tiefen Verwertungskrise befindlichen Kapitalismus neue Absatzmärkte, wenn nicht sogar die Aussicht auf einen neuen Konjunkturaufschwung bescherte.[15] Vor diesem Hintergrund bekommt der Autoritarismus des Staates, wie er sich in den Maßnahmen manifestierte, eine andere Färbung, insofern damit von staatlicher Seite auch eine Stabilisierung der Kapitalinteressen mit autoritären Mitteln durchgesetzt wurde.

Bereits in den 1960er und 70er Jahren warnten Autoren wie Nicos Pulantzas, Johannes Agnoli und Franz Neumann davor, die Entstehung totalitärer Systeme verkürzend auf die unfreundliche Übernahme des Staates durch diesem gegenüber feindlich eingestellte Gruppierungen zurückzuführen. Vielmehr machten diese Autoren geltend, dass totalitären Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise inhärent und damit im Staat selber, der für diese einsteht, zu lokalisieren sind.[16] Unter dem Stichwort eines „umgekehrten Totalitarismus“ führen Sheldon S. Wolin, und in etwas anderer Form auch Hannes Hofbauer und Giorgio Agamben, diese Überlegung für die Gegenwart fort, indem sie darauf hinweisen, dass sich totalitäre Tendenzen durchaus im Rahmen westlicher Demokratien etablieren können.[17] Dieser Umstand wurde seit den Anfängen des Neoliberalismus in den 1980er Jahren auch immer wieder thematisiert. Während jedoch vor der Krise die zunehmend illiberalen Formen des Neoliberalismus unter dem Stichwort eines „autoritären Neoliberalismus“ einer breiten linken Kritik begegneten[18], fällt diese Kritik seit der Corona-Krise weg. Dies, obwohl der neue Autoritarismus in vielerlei Hinsicht genau diesen autoritativen Charakter des Neoliberalismus beerbt oder sich zumindest problemlos in diesen einfügen kann (wenn Illiberalität nicht überhaupt die Grundform des Neoliberalismus darstellt).

Tatsächlich sind wir damit in einer historisch neuen Situation, insofern die Linke spätestens seit Beginn der Corona-Krise – vermutlich unverstandener Massen – zur entscheidenden Integrationskraft für diesen neuen Illiberalismus geworden ist. Diese Entwicklung wirft zwei verschiedenen Fragen auf resp. bedarf zweier unterschiedlicher Fragerichtungen: Auf Seiten des Kapitals stellt sich die Frage, warum dieses seinen wichtigsten Bündnispartner in der Linken sucht. Auf Seiten der Linken stellt sich die Frage, warum sie auf ihre historische Distanz zum Kapital verzichtet.

Für diese mangelnde Distanz mag zunächst eine historische Verschiebung in den Ideologischen Staatsapparaten maßgeblich sein. Wir haben es nämlich mit dem verwirrenden Umstand zu tun, dass der Staat in seinem autoritären Charakter zwar den Kapitalinteressen dient, womit er streng genommen der Definition eines rechten autoritären Staates entspricht[19], ohne dass er es dabei nötig hat, auf das zurückzugreifen, was wir gemeinhin als rechte Ideologien bezeichnen – offene Rassismen, konservative Werthaltungen und einen dezidierten Anti-Egalitarismus. Im Gegenteil: Dieser Staat kleidet sich in das Gewand der Political Correctness. Seine Exponenten sind keine charismatischen Führerfiguren; sie sind Experten, die sich einer Sache verpflichtet sehen. Dementsprechend ist ihr Sprache nüchtern, Fakten sind ihre Reverenz, Lösungsorientierheit ihre Überzeugung. Ideologien sind ihnen (vermeintlich) fremd. Und genau dies erzeugt ihre Integrationskraft: Sie stehen für eine weltoffene, multikulturalistische Gesellschaft und sie sprechen viel von Inklusion. Dieser Staat – und dieser Kapitalismus – können mit den alten Insignien rechter Ideologien ganz einfach nichts mehr anfangen. Ja, ich würde sogar sagen, diese sind disfunktional zu den Erfordernissen der heutigen Kapitalakkumulation geworden. Der sich mit Hilfe eines autoritativen Staates am Leben erhaltende Kapitalismus sucht heute deshalb seine Bündnispartner nicht mehr in der Rechten – sondern eben in der Linken, die für genau diese Werte, Weltoffenheit und Fortschrittlichkeit, steht.

Damit übernimmt die Linke streng genommen aber die Rolle, die historisch gesehen bisher immer der Rechten vorbehalten war: In den 1920er und 30er Jahren suchte das Kapital ein Bündnis mit der Rechten, um mit ihrer Hilfe, ihrer Ideologie – dem Rassismus und der damit verbundenen Gewaltbereitschaft – die Gefahr einer im Zuge der großen Depression auch im Westen drohenden sozialistischen Revolution abzuwehren.

Heute jedoch haben wir eine andere Situation. Ich glaube, dass die Gefahr heute nicht mehr von rechts ausgeht, sondern von dieser neuartigen Koalition: Es ist immer noch das Kapital, und es ist immer noch der Staat, der ihm mit autoritären Mitteln zu Hilfe eilt, aber sein – faktischer – Autoritarismus erscheinen uns deshalb nicht mehr als solcher, weil er sich in das Gewand linker Welthaltung kleidet. Wenn wir wie gebannt auf die Szenen starren, die sich zuweilen am Rande maßnahmen-kritischer Demonstrationen abspielen, verpassen wir es, dieses Auseinandertreten von rechter Ideologie und rechtem Staat zu verstehen und die neue Gefahr wahrzunehmen, die von letzterem – einem dem Kapital dienenden autoritären Staat in seinem extrem konsensfähigen Bündnis mit der Linken – ausgeht.

Ich werde argumentieren, dass diese neue Koalition nur möglich ist vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die ich mit einer Formulierung des italienischen Psychoanalytikers Massimo Recalcati als „postideologischen Totalitarismus“ oder wenigstens als eine Tendenz zu einem solchen bezeichnen möchte. Es handelt sich hier um eine vollständig neue oder neuartige Form des Totalitären, die weitgehend auf die Kennzeichen seiner Vorläufer des 20. Jahrhunderts verzichten kann.

Der hypermodernen Hygienismus in der postideologischen Konstellation

Massimo Recalcati prägte den Begriff des „postideologischen Totalitarismus“ in einem Aufsatz aus dem Jahr 2007, wo er ihn mit etwas verbindet, was er sprechenderweise einen „hypermoderenen Hygienismus“ nennt.[20] Das Anwendungsfeld dieses hypermodernen Hygienismus sieht Recalcati wenig erstaunlich im Bereich der (öffentlichen) Gesundheit, die damit in seiner Analyse zur entscheidenden Scharnierstelle dieser neuartigen Form des Totalitären wird. Mit dem Begriff des Postideologischen verbindet Recalcati eine ideologische Konstellation, die sich selbst nicht mehr als solche versteht.[21] Totalitär ist diese Konstellation in der Tendenz, weil sie im Verzicht auf ein Ideal kein Außerhalb von sich mehr kennt. „Der postideologische Totalitarismus ist keine Weltanschauung, sondern der Untergang jeder möglichen Weltanschauung.“ (351) Er erdrückt, wie Recalcati schreibt, das Leben unter einer Präsenz, womit er eine Art Immanenz des reinen Lebens meint, das sich in der Folge vorbehaltlos mit dem verbinden kann, was an die Stelle des verschwundenen Ideals getreten ist: ein Szientismus, der angetreten ist, sich um die Verbesserung des Lebens zu kümmern. Diese postideologische Form des Totalitären macht keinen „terrorisierenden oder disziplinären Gebrauch“ von der Macht, sondern stellt in den Worten Recalcatis vielmehr „eine horizontale Regierung des Lebens dar“ (338), die von einem hochspezialisiertes Wissen und den sich daran anschließenden wissenschaftlich-technische Praktiken angeleitet ist:

„Ohne auf barbarische Formen der Gewalt zurückzugreifen, fördert die biopolitische Macht aseptische Evaluations- und andere Auswertungsverfahren und unterstützt so die graue Macht eines hyperspezialisierten Wissens mit dem Ziel, die Führung des Lebens technisch-wissenschaftlichen Praxen zugänglich zu machen. Diese nehmen nicht mehr die brutalen Formen der Zensur oder der repressiven Verbote an, sondern jene der fälschlicherweise als fortschrittlich verstandenen einer allgemeinen Quantifizierung des Lebens.“ (353)

Diese Macht ist auch deshalb kaum als repressiv zu bezeichnen, weil sie sich als Angebot versteht: Die Quantifizierung des Lebens dient in ihrem Drang zur Vermessung lediglich der Erstellung von Parametern, die über das Wohl der Bevölkerung Auskunft zu geben vermögen. Dabei zielt diese „horizontale Regierung des Lebens“ nicht auf die Vertikale eines – über es hinausgehenden – Ideals, sondern auf das immanente Ziel der reinen Optimierbarkeit, die in einer Art kybernetischen Schlaufe auf nichts außerhalb von sich verweist. Das Postideologische erscheint so betrachtet gleichsam als das ideologische Pendent zur kybernetischen Selbststeuerung, es kennt nur das Ideal der permanenten Verbesserung. Genau darin aber liegt auch das Hermetische, weil damit, wie Recalcati formuliert, „die Erfordernisse des Guten in den Rang eines universellen Maßstabes gelangen.“ (337) Die „Ideologie des Wohlbefindens“ (ebd.) reduziert den Menschen zunächst auf seine Gesundheit, um dann ein allgemeingültiges Maß dafür bereitzustellen. Das „hygienische Ideal der Gesundheit“ (333) ist damit vielleicht das einzige noch verbleibende Ideal. Die Kehrseite davon ist, dass diese auch zu einer allesumfassenden Forderung wird:

„Das ist das Paradox des hypermodernen Hygienismus: Die Verteidigung der Gesundheit wird zu einem Protokoll, das sich uns wie eine neue soziale Pflicht auferlegt – als unerhörter Imperativ des Guten.“ (354)

Recalcati macht denn auch in Anlehnung an Jacques Lacan geltend, dass Totalitarismus nicht ausgehend von seinem Verhältnis zum Bösen zu verstehen ist, sondern ausgehend von seinem Verhältnis zum Guten, das in einer inversen Wendung in die Form einer moralischen und sozialen Forderung gelangt. Als Imperativ erhält dieses Gute aber eine Über-Ich-haftigkeit, die, wie bereits Freud feststellte, etwas triebhaftes, ja eine sadistische Komponente enthält: Es muss unter allen Umständen umgesetzt werden.[22] „In dieser Verpflichtung auf den Maßstab des Guten oder, wenn man so will, in dieser moralischen Verwendung des Guten als universellen Maßstab für das Glück“ besteht, so Recalcati, für Lacan die Essenz des Totalitarismus. (338)

Für die Lacanianische Psychoanalytikerin Colette Soler liegt das Hauptproblem dieses von ihr so bezeichneten „generalisierten Hygienismus“ darin, dass er die Seele durch etwas Medizinisches ersetzen will. Das Wissen der Medizin ist, wie sie formuliert, zum „neuen Herrensignifikanten“ geworden, und zwar gerade deshalb, weil es sich dabei „nicht um die reale Wissenschaft mit ihren blinden Flecken und Debatten handelt, sondern um die Vorstellung von der Wissenschaft an sich“.[23] Und dieses Konstrukt „Wissenschaft“ wird, gleichsam als Religionsersatz, zum neuen globalen Subjekt, dem das Wissen unterstellt wird. Insofern wir ihm aber das Wissen unterstellen, kann uns dieses Subjekt kaum als gewalttätig erscheinen:

„Weil wir ihm glauben, diesem Wissenschafts-Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, erscheint uns der Gehorsam gegenüber dem Befehl gerechtfertigt und niemand kommt darauf zu denken, dass er freiwillige Knechtschaft impliziert, die wir im Falle des Gehorsams gegenüber jedem anderen Herrn anprangern, sei es ein Führer, Väterchen Stalin oder Familienvater. Der italienische Philosoph Agamben spricht zurecht von der Medizin als Religion, sie ist das Subjekt der Zeit, dem Wissen unterstellt wird. (…) Ein Wissen, das den politischen Herrn verführt, denn der Staat stellt die Finanzen. Nun sind es Gehirn, Gene, Hormone usw., von denen angenommen wird, dass sie unsere Affekte, Verhaltensweisen oder sogar das beherrschen, was die Psychoanalyse Symptome nennt und was man früher als Seelenqualen bezeichnet hätte. Doch wir haben keine Seele mehr, wir haben ein Gehirn, ein Genom, Neuronen, Hormone usw.“[24]

Wenn die Seele erst einmal diese Form angenommen hat, kann man sie auch problemlos mit allerlei technischen Gerätschaften bearbeiten. Ebenso kann man sie einer Standardisierung unterwerfen. Denn letztlich läuft, wie Recalcati formuliert, der hypermoderne Hygienismus genau darauf hinaus, ein allgemeines „Maß für das Begehren“ zu finden, d.h. anzugeben, „nach Maßgabe einer verrücktgewordenen moralischen Pädagogik“, welches tatsächlich das richtige Verhältnis zum Glück wäre mit dem Ziel zu definieren, „was für alle die Lebensbedingungen des Begehrens sein soll“ (339/337).

Während der alte Hygienismus – eine in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Lebensreformbewegung in Deutschland vergleichbare Bewegung – noch auf die Stärkung des natürlichen Immunsystems setzte, vertraut der hypermoderne Hygienismus genau umgekehrt auf die technischen Errungenschaften der modernen Biowissenschaften, die das Innenleben des Menschen ebenso wie sein Immunsystem durch etwas Artifizielles, das somit besser ist, ersetzen kann.

Es ist dieser auf einen technical solutionism[25] rekurrierende Szientismus in seiner Verknüpfung mit dem sozial Guten, der die heutige ideologische Konstellation kennzeichnet, die in dem Sinn postideologisch zu nennen ist, als sie vorgeben kann, sich ohne weiteren Inhalt in den Dienst der Optimierung des Gemeinwohls zu stellen. Dieser Szientismus ist ebenso anschlussfähig für eine linke Werthaltung, wie er in nahezu wunderbarer Weise gleichzeitig die Verwertungskrisen des Kapitals zu lösen verspricht.

Folgen wir Klaus Schwab, dem Begründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, so setzt das neue Akkumulationsregime auf die Digitalisierung der gesamten Arbeit- und vor allem auch Lebenswelt. An seinem Horizont steht das Projekt des Transhumanismus mit seinen beiden Eckpfeilern: Dem Szientismus, verstanden als einer umfassenden wissenschaftlich angeleitete Lebensführung, und dem Konsum, wobei es sich hierbei vor allem um den Konsum jener technical devices handelt, die eine Synthese von Mensch und Technik anstreben.

Der idealtypische Mensch und Arbeitnehmer hierzu hat möglichst keine Kinder oder andere Care-Verpflichtungen, arbeitet im Homeoffice an einem Bildschirm und ist es gewohnt, alle seine Güter auch daselbst zu beziehen: vom Sex über die Partnerin bis hin zu Gesundheitsdienstleistungen und dem damit verbundenen Landschaftsbesuch. Insbesondere die Vorstellung einer laufend technisch-kybernetischen Verbesserbarkeit der natürlichen Beschaffenheit des Menschen, das transhumanistische Projekt, kann dabei mit konservativen Werthaltungen wie Familienwerten etc. nichts mehr anfangen. Es braucht dazu vielmehr den jungen, männlichen, technikaffinen, aufgeschlossenen und fortschrittlichen Typ, der sich in multikulturellen Teams ebenso wohl fühlt wie in sterilen Flughäfen und der an die technische Zukunftsgestaltung von Mensch, Umwelt und Produktion glaubt. Hierzu passen aufgeschlossene Werte viel besser als Rassismen; gefragt sind Toleranz, Weltoffenheit und Fortschrittsglaube.

Dass dieser technical solutionism gleichzeitig auch das Problem der sinkenden Produktivitätsraten lösen kann, da im Gegensatz zu den wertschöpfungsschwachen Care-Arbeiten für technologische Lösungen Produktivitätszuwächse sehr wohl möglich sind, macht aus diesen sozusagen einen „glückliche Fund“: für den Staat, der sich mit zunehmend „unbezahlbaren“ sozialen Dienstleistungen konfrontiert sieht, und für das Kapital, das diese durch seine technischen Geräte ersetzt und damit einen gigantischen neuen Markt erfunden hat.

 

Literatur:

Agamben, Giorgio (122019/2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Agnoli, Johannes (22004/1967): Die Transformation der Demokratie. In: Ders.: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, hrsg. Görres Agnoli, Barbara. Berlin: Konkret Literatur Verlag, S. 13-93.

Covid-19 Forecastin Team (2022): Variation in the Covid-19 infection-fatality ratio by age, time, and geography during the pre.vaccine era: a systematic analysis. In The Lancet, Vo. 399, April 16, 2022, S. 1469-1488.

Deppe, Frank (2013): Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand. Hamburg: VSA Verlag

Green, Toby (2021): The Covid Consensus. The New Politics of Global Inequality. London: Hurst.

Grinin, Leonid / Grinin, Anton / Korotayev (2017): The MANBRIC-Technologies in the Forthcoming Technological Revolution. In: Devazas, Tessaleno et al. (eds.): Industry 4.0. Entrepreneurship and Structural Change in the New Digital Landscape. Berlin: Springer International Publishing, S. 243-261

Hasler, Martin (2022): Im Hexenkessel der Bundeshaus-Medien. Tagebuch eines Insiders. Bern.

Hofbauer, Hannes (2014): Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter. Wien: Promedia.

Hofbauer, Hannes (2022): Zensur. Publikationsverbot im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung. Wien: Promedia

Kacem, Mehdi Belaj (2022): Mausolée des Intellectuels. Ed. Fiat Lux.

Komlosy, Andrea (2022): Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Wien: Promedia.

Manifest conspirationniste (2022). Paris: Édition du Seuil. Deutsche Übersetzung: Konspirationistisches Manifest (2022). Ohne Verlag.

Navdanya International (2020): Gates to a Global Empire. Over Seed, Food, Health, Knowledge and the Earth.
https://navdanyainternational.org/publications/gates-to-a-global-empire/ (zuletzt eingesehen: 31.1.2023)

Neumann, Franz (32022/1977): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944.

Poulantzas, Nocos (2002/1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA Verlag.

Recalcati, Massimo (2022/ital. Orig. 2007): Das Verschwinden des Begehrens und der postideologische Totalitarismus. In: Soiland, Tove / Frühauf, Marie / Hartmann, Anna (Hrsg.): Postödipale Gesellschaft (Bd. 1). Berlin/Wien: Turia + Kant 2022, S. 331-363.

Shiva, Vandava ed. (2022): Philanthro-Capitalism and the Erosion of Democracy. Synergetic Press (e-book)

Soler, Colette (2022): Psychoanalyse und Politik. Sigmund Freud Vorlesung 2021. Aus dem französischen von Brita Pohl. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Tooze, Adam (2021): Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. München: C.H. Beck

Vighi, Fabio (2021): A Self-Fulfilling Prophecy: Systemic Collaps and Pandemic Simuation. In: The philosophical salon. A Los Angeles review of book Cannel, 16. Aug.
https://thephilosophicalsalon.com/a-self-fulfilling-prophecy-systemic-collapse-and-pandemic-simulation/ (zuletzt abgerufen 31.1.20239.

Wolin, Sheldon S. (2022): Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld. Frankfurt/M: Westend.

 

[1] Bei vorliegendem Beitrag handelt es sich um die deutsche Version eines Aufsatzes, der in leicht veränderter Form im Rahmen des Illiberalism Studies Programm der George Washington University in der Reihe Culture Wars in Europe and Eurasia erscheinen wird.

 

[1] Das Kriterium für eine Pandemie lautete bis 2009, dass ein Influenzavirus sich weltweit ausbreitet und eine grosse Anzahl von Toten und Kranken verursacht. Das Kriterium der grossen Sterblichkeit wurde 2009 aufgehoben und nur die weltweite Verbreitung geltend gelassen. Die Definition bis 2009 lautete: „An influenza pandemic occurs when a new influenza virus appears against which the human population has no immunity, resulting in several, simultaneous epidemics worldwide with enormous numbers of deaths and illness. With the increase in global transport and communications, as well as urbanization and overcrowded conditions, epidemics due the new influenza virus are likely to quickly take hold around the world.” (Hervorhebung T.S.)
http://web.archive.org/web/20061230201645/www.who.int/csr/disease/influenza/pandemic/en/print.html (zuletzt abgerufen 5.1.2023)
Ohne zu bestreiten, dass Covid19 für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine sehr gefährliche Krankheit sein kann, muss doch festgehalten werden, dass das Kriterium der „enormous numbers of deaths“ auf Covid19 nicht zutrifft, da nach heute allgemein anerkanntem Wissensstand die Infection Fataly Rate von Covid19 weltweit (mit grossen regionalen Unterschieden) bei 0.314% liegt (vgl. Covid-19 Forecasting Team 2022) und damit überhaupt nicht mit Pandemien wie bspw. der Spanische Grippe zu vergleichen ist (zum Vergleich: die IFR einer saisonalen Grippe liegt bei ca. 0,1 bis 0,2%).

[2] Vgl. Hofbauer 2022: S. 186-235. Als Beispiel aus der Schweiz zur Bundeshausberichterstattung: Martin Hasler 2022.

[3] Manifeste conspirationniste 2022, p 8/S. 4. Dieses Manifest ist eine 2022 im renommierten Verlag Seuil in Paris erschienen Streitschrift, die später auf Deutsch übersetzt wurde, wobei sich dafür kein Verlag finden liess.

[4] Als Beispiele für eine solche Argumentation vgl. z.B.: Hark, Sabine: Mit dem Virus leben. Politiken der Sorge in der Pandemie. Online: https://geschichtedergegenwart.ch/mit-dem-virus-leben-politiken-der-sorge-in-der-pandemie/ (zuletzt abgerufen 31.1.2023); Habermas, Jürgen (2022): Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Sep. 2022, S.65-78; an.schläge. Das feministische Magazin: https://anschlaege.at/feministische-querfront/ (zuletzt abgerufen 31.1. 2023)

[5] Die Anzahl linker KritikerInnen ist sehr gross. Ich nenne hier nur einige Beispiele: Tobby Green (2021); Komlosy (2022); Hofbauer (2022), Kacem (2022), die Zeitschrift Der Erreger Nr. 1 + 2; als Autoren sind weiter mit Publikationen im Netz zu nenne: Andreas Urban, Joachim Hirsch, Hendrik Wallat, Rudolf Bauer, das Autorenkollektiv: Dark Winter. Analysen zum Corona-Kapitalismus: https://magma-magazin.su/broschueren/dark-winter-analysen-zum-corona-kapitalismus/ (zuletzt abgerufen 31.1.2023).

[6] So stellt der Direktor der Universitätsspitals Gregor Zünd in einem Interview (NZZ 22.5.2021) fest, dass die Lockdown gezeigt hätten, dass es in den Krankenhäusern ein grosses Sparpotential gebe, vgl. https://magazin.nzz.ch/hintergrund/unispital-will-patienten-daheim-behandeln-der-plan-des-direktors-ld.1626596?reduced=true . Als Beispiel für den konkreten Bettenabbau in der Schweiz: https://www.20min.ch/story/baute-die-schweiz-mitten-in-der-krise-intensivplaetze-ab-491605637583 (zuletzt abgerufen 31.1. 2023

[7] Vgl. zur Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die in erster Linie auf das Personal zielt, z.B. Manzei, Alexandra/Schnied Rudi (Hrsg.) (2014): 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheistwesen. Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medinzin und Pflege. Wiesbaden: Springer; Auth, Diana (2017): Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisierung. Wandel von Care-Regimen in Grossbritanien, Schweden und Deutschland. Münster: Westfälisches Dampfboot.

[8] Vgl. dazu z.B. den Berich des UNO-Hilfswerkes Oxfam: https://www.oxfam.org/en/research/hunger-virus-multiplies-deadly-recipe-conflict-covid-19-and-climate-accelerate-world, Juli 2021 (26.02.2022), darin heisst es: „A year and a half since the Covid-19 pandemic began, deaths from hunger are outpacing the virus.” Oxfam rechnet mit 20 Mio. mehr Hungertoten. Der Bericht der Vereinten Nationen vom Juli 2021 und der FAO hält fest, dass es weltweit seit Pandemiebeginn 70-161 Mio. mehr Hungernde gibt (bei insgesamt 720-811 Mio. Hungernden weltweit), vgl.: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-un-ernaehrungsbericht-hunger-100.html (zuletzt abgerufen 31.1. 2023). Zu den Auswirkungen der Massnahmen im globalen Norden vgl. Green 2021, p. 87-128, zum globalen Süden, p. 129-168.

[9] Es hätte sehr wohl andere Möglichkeiten für den Schutz der vom Virus besonders Bedrohten gegeben. So forderte das Kollektiv Feministischer Lookdown, ein Zusammenschluss von Frauen aus Care-Berufen, dem die Autorin selbst angehört (https://www.feministischerlookdown.org/) von Beginn der Krise eine Verdoppelung des Etats für die Pflege, um den Pflegenden eine massive Arbeitszeitreduktion bei gleichem Lohn und gleichzeitig massiver Aufstockung der Pflegekräfte zu ermöglichen. Erkrankte sind oft nicht unmittelbar am Virus selbst, sondern an der in Folge des Pflegenotstandes ungenügenden medizinischen Versorgung gestorben. Dies trifft insb. für die Altenheime zu. 60% der Corona-Toten waren 2020 Insassen von Alten- und Pflegeheime. In der Schweiz verlassen mehr als 60% der ausgebildeten Pflegefachkräfte den Beruf aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen. Diese Arbeitskräfte könnte man mit besseren Bedingungen in ihren gelernten Beruf zurückholen. Diese Politik will aber offensichtlich nicht durchgeführt werden. Daher sprechen wir von einer aktiv vorangetriebenen Pflegeschrumpfung.

[10] Der Begriff Akkumulationsregime stammt ursprünglich aus der Regulationsschule und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kapitalismus in je unterschiedlichen Epochen auch unterschiedliche Weisen der Profitgenerierung kennt.

[11] Vgl. dazu Komlosy 2022, S. 38-42; Hofbauer 2014, S. 159.

[12] Unter MANBRIC-Technologien verstehen Grinin/Grinin/Korotayev die Medizin-, 3-D-Druck-, Nano-, Bio-, Robo-, Informations-, und Kognitionstechnologien, vgl. dies. 2017, p. 243; vgl. auch Komlosy 2022, S. 125.

[13] Vighi (2021) macht folgende Angaben dazu: Zwischen September 2019 und März 202 hat die Fed US-$9 Billionen in den Finanzmarkt gepumpt. Zum Vergleich: Das erste Hilfpacket für Corona-Kredite in den USA betrug 2.2 Billionen, vgl. Tooze 2021, S. 148.

[14] Einen Überblick über diese Gewinne bietet Komlosy 2022, S. 135-143. Komlosy macht zu Recht geltend, dass ein Wirtschaftsaufschwung nicht gleichbedeutend sein muss mit einer Erhöhung des Lebensstandards. Während die für den Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg zutraf, kann davon bei den Konjunkturerholungen in den 1990er Jahren und möglicherweise auch jetzt nicht die Rede sein, vgl. S. 35.

[15] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/222901/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-in-der-europaeischen-union-eu/ „Corona verleiht dem globalen Kapitalismus jene Schubkraft, die für den konjunkturellen wie den evolutionären Übergang zu einem neuen Wachstumszyklus notwendig ist.“ (Komlosy 124)

[16] Vgl. dazu Pulantzas (2002/1978); Agnoli (2004/1967); Neumann (2022/1977).

[17] Vgl. dazu Wolin (2022), Hofbauer (2014, S. 119ff), der von einem „Monopolkapitalismus“ (S. 161-164) spricht; Agamben (2019).

[18] Vgl. z.B. Frank Deppe (2913) mit seinem Begriff des „Autoritärer Kapitalismus“.

[19] Dem gegenüber wäre der Autoritarismus eines Staates, der eine sozialistische Gesellschaft einsetzen will, links zu nennen.

[20] Recalcati 2022, im folgenden Seitenzahlen im Text.

[21] Der Begriff des Postideologischen wurde zunächst von Slavoj Žižek in Umlauf gebracht, allerdings nicht den Begriff im Zusammenhang mit totalitären Tendenzen.

[22] Komlosy beschreibt dieses Gute in ähnlicher Weise: „Durch soviel ideologische Überfrachtung bleibt dem Einzelnen kein Spielraum zur selbständigen Überprüfung der Versprechen. Diese werden in rosigen Farben von Schönheit, Gesundheit, Langlebigkeit, ‚Verteiltheit‘, offenem Zugang, Erneuerbarkeit, Nachhaltigkeit und Egalisierung gemalt, sodass kein vernünftiger Mensch sich diesen universellen Werten entgegenstellen mag.“ (Komlosy 2022, S. 134)

[23] Soler 2022, S. 47/52.

[24] Soler 2022, S. 53.

[25] Vgl. dazu auch Vandava Shiva, die von „technocratic solutionism“ spricht: Shiva (2022); Navdanya International (2020).


Tove Soiland, geb. 1962, Dr. phil., Historikerin und feministische Philosophin. Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten.




2 Comments

  1. franziska

    Soviel Ökonomisches, Politisches, Soziales, Ideologisches.
    Kann es sein, dass etwas bei den PRODUKTIVKRÄFTEN anders geworden? Bei der wichtigsten aller Produktivkräfte nämlich:
    “Die Wissenschaft” rückt in Systembereiche der Wirklichkeit vor – in nicht(re)produzierte, Geo- und Biosphäre; und in produzierte, technologische Systeme (den grossen: Energie, Verkehr, Datenverarbeitung…, den kleinsten…)
    Ihre Resultate nehmen dort die Form an von PROGNOSEN, von Gefahren sowohl als Chancen zu ihrer Abwendung, Milderung usw. Aber Prognosen kann man nicht nutzen wie ein Gerät oder Material: ohne zu wissen, wie und warum das “funktioniert”. Bei Prognosen muss man ansatzweise begreifen, warum sie zutreffen könnten.
    Oder… man muss sie glauben.
    Und DIE LINKE… diejenige zumindest, produktivistisch, szientistisch. ihre Sozial-Utopie immer an eine Technik-Voraussetzung (erstmal zu entwickelnde Produktivkräfte) gebunden hat – die fordert diesen Glauben ein; wer nicht glaubt, ist SCHWURBLER. (Oder UNSOLIDARISCH: wenigstens den Vulnerablen zuliebe könnte man doch glauben…).
    PS: “Für seine (ererbte) Systemrolle kann keiner was (wer was andres sagt, ist strukturell Antisemit), und alle, m, w, d sollen ins System inkludiert sein, nur die reaktionären Exkludierer nicht. Auch die nicht, die mit solchen demonstrieren”: Das soll LINKS sein?

  2. my nano

    Ein wichtiger Artikel, der das zentrale Thema in den Mittelpunkt rückt. Allerdings wäre auch noch mal nachzusehen, wie diese (sagen wir mal: westliche) Linke in diese Position gekommen ist, was sie womöglich von ihrer Seite aus dafür getan hat. Im Rücblick sehen wir, daß spätestens seit Mitte der siebziger Jahre das Thema “Gesundheit als zentrale Kategorie der Kapitalismusrtik” bei zahreichen Organisationen und Theoretikern auf der Tagesordnung stand. Ivan Illichs Buch “Die Enteignung der Gesundheit” sei stellvertretend genannt. IlIich nimmt hier oft die Position eines Betrachters aus dem globalen Süden ein. Von dort kamen dann auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten Beiträge, die die Themen Gesundheitspolitik, Naturzerstörung, Herrschaft globaler Konzerne, Biomedizin und Genetik verbanden bzw. gar nicht trennen konnten. Je deutlicher diese Stimmen wurden, desto mehr kapselte sich die westliche Linke dagegen ab. Sie erging sich in Ökonomismus, Fortschrittshuberei, der Beschränkung auf den Kampf “gegen rechts” und der Verwandlung der genannten Themen, wenn sie sich nun gar nicht vermeiden ließen, in moralische Fragen. Sie hatte keine Zukunftsvision, denn analytisch steckte sie im Fordismus fest, dessen Subjekt-Vorstellung sie insgeheim teilte. War davor irgendwas? Kommt danach noch was? So wurde die westliche Linke zum idealen Übernahme-Kandidaten.
    Die Situation ist hier ausführlicher beschrieben:
    https://www.blautopf.net/index.php/item/366-der-kapitalismus-und-die-enteignung-der-gesundheit
    Zum Thema hygienischer Totalitarismus ist noch zu sagen, dass er auch nur mit Wasser kocht, sprich: das klassische Instrumentarium benutzt. Weiterhin setzt der Staat die Mittel ein, wie sie bei Vergewaltigung, bei Mobbing, Belästigung und Erpressung seit jeher üblich sind. Nur eben unter den Bedingungen einer digitalisierten Welt mit voller Kontrolle über die Indivduen. Das kann man gut nachlesen bei Ariane Bilheran (deren ansonsten eher konservative Anthroplogie man nicht teilen muß):
    https://www.blautopf.net/index.php/item/354-chroniken-des-totalitarismus-wenn-alles-verrueckt-wird
    https://www.blautopf.net/index.php/item/395-chronik-des-totalitarismus-das-perverse-praeludium-ueber-den-koerper
    https://www.blautopf.net/index.php/item/369-die-gesundheitsideologie-ist-ein-vorwand-fuer-eine-totalitaere-fuehrung

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