Zur Sozialen Frage heute (3): Vom Schein persönlicher Unabhängigkeit bei sachlicher Abhängigkeit

Die sogenannte Soziale Frage entstand als Folge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der spannungs- und konfliktreiche Übergang von der Agrar- zur Fabrikarbeitsgesellschaft führte rasch zu sozialen Verwerfungen innerhalb des Kapitalismus und markierte gleichzeitig den Ausgangspunkt Sozialer Bewegungen sowie der Sozialen Arbeit. Das Departement Soziale Arbeit der Ostschweizer Fachhochschule (OST) lenkt mit dieser Beitragsreihe den Blick auf die Gegenwart: Wie stellt sich die Soziale Frage heute? Und wer macht sie sich zu eigen? Die unter dem Übertitel Zur sozialen Frage heute in loser Folge erscheinenden Beiträge untersuchen deren Folgen für die einzelnen Menschen wie auch für die Gesellschaft.

***

I

Die Frage nach Genesis und Geltung Sozialer Arbeit in gesellschaftlichen Verhältnissen und Kontexten zu stellen, bedeutet auch immer, sich darin eingeschlossenen, historisch-gesellschaftlich wechselnden Problemstellungen, Problembearbeitungsstrategien im Umgang mit Formulierungen der ‚sozialen Frage‘ in Bezug auf hegemonial verfasste Formulierungen sozialer Probleme wie „Lösungen“ durch sozialpolitische Inanspruchnahmen zu widmen.[1]  Ein entscheidender Bezugspunkt ergibt sich dabei aus der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nach den in dieses Verhältnis eingebundenen Lebensrisiken, die vor allem als „Reproduktionsrisiken“ sich ergeben. Maßgeblich ist für alle bisherigen Gesellschaftsformationen die Einsicht, die Horkheimer (o. J.: 254) treffend so formuliert hat: „Es gibt keine Sicherheit auf den Verkehrsstraßen der Gesellschaft“.

Strukturell wird dies in wesentlicher Weise eingeholt, wenn man ernst nimmt, was Wehler als entscheidendes Prinzip einer gesellschaftsgeschichtlichen Vorgehensweise herausstellt – und was noch früher in der Geschichte zu verorten ist: „Die Entwicklung auch der deutschen Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrhunderten ist durch die Dauerhaftigkeit struktureller sozialer Ungleichheit grundlegend bestimmt. Sie ist vielleicht die Hauptfrage jeder historischen Sozialforschung, jeder Stratifikationsanalyse, jeder Sozialgeschichte – nicht zuletzt auch deshalb, weil damit die Lebenschancen der vielen Individuen notwendig in den Blick kommen“ (1987: 16). Für die analytische Verortung bedeutet dies in der Einschätzung Wehlers, der systematisch erzeugten sozialen Ungleichheit komme in jeder Gesellschaft eine herausragende Bedeutung zu, so dass es berechtigt erscheine, dieses Phänomen als eine der zentralen Achsen von Gesellschaftsanalyse zu behandeln. „Man muss sich jedoch klarmachen oder dessen bewusst bleiben, dass soziale Ungleichheit – … – streng genommen ein Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung darstellt. Deshalb bleibt sie ein Resultat der Überschneidung der drei systematisch vorgeordneten Dimensionen (Wirtschaft, Herrschaft und Kultur, HS)“ (1987: 11). Eingebunden in die Analyse sozialer Ungleichheit ist zugleich die Frage nach Prozessen der Klassenbildung, die es jeweils historisch-systematisch zu entziffern gilt (vergleiche Kocka 1990a und 1990b; Thompson 1987; Engels 1845/1957).[2]

Dies hat es Lenhardt und Offe (1977) erlaubt, bezogen auf Sozialpolitik ihre bis heute wesentliche „Proletarisierungsthese“ zu formulieren, in der es um „die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“ (1977: 101) geht und die daher unmittelbar relevant für Soziale Arbeit ist.

Auch in einer der neuesten Studien zum Thema, der Analyse der Sozialen Frage im Kontext eben dieser „Arbeitsfrage“ und ihrer Rekonstruktion von M. van der Linden, lautet der Befund:

„From the final decades of the nineteenth century until the 1950s or 1960s, an often cumulative but planless process of reforms and changes resulted in a relatively wide spreading of the so-called stand employment relationship. These reforms and changes pertain to seven policy areas: (1) protective labor legislation, including the prohibition of child labor, safety rules at work, the prohibition of night work for women, and similar rules; (2) legalization of worker’s coalitions, with the founding of employer’s associations as a (delayed) response; (3) regulation of labor time through the shortening of the working day, shortening of the working week, and introduction of paid holidays; (4) introduction of obligatory insurances, such as sickness insurance, old-age pensions, invalidity insurance, and unemployment insurance (which implies the ‘discovery’ of unemployment as a social phenomenon); (5) institutionalization of collective bargaining; (6) spread of labor contracts with unlimited duration; and (7) arrival of full employment and a high-wage economy” (van der Linden 2019: 29).

II

In einer rekonstruktiven Betrachtung zeigt sich, dass die Entwicklung einer Verberuflichung von Armenpflege in deutschen Ländern wie im europäischen Raum insgesamt mit der Geschichte von Armenfürsorge und deren Institutionalisierung beginnt. In den spätmittelalterlichen Städten (in Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts) bildeten sich schon früh zwei elementare Institutionen heraus, das Hospital und die städtischen Bettel-, Armen- und Almosenordnungen, die als Strategien zur Bearbeitung sozialer Notlagen sowie der sozialen Kontrolle der Armen entwickelt und eingesetzt wurden. Jedoch folgte bis weit ins 16. Jahrhundert hinein in vielen ländlichen Gebieten die Mittelvergabe an alle Mitglieder weder einer gesellschaftlichen Logik noch unterlag sie dem Primat der Rationalität: Dieses Geben war entscheidend an der Norm religiöser Nächstenliebe/Mildtätigkeit im Rahmen von mehrheitlich face to face-Beziehungen orientiert (vgl. Mollat 1987). Die wesentliche Begründung lag allerdings darin, dass sich reiche bzw. vermögende Spender durch mildtätige Gaben an Arme eine Verbesserung ihres „Seelenheils“ versprachen bzw. auch zu erkaufen hofften.[3]

Vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen, die mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus[4] – um hier zunächst nur allgemein bestimmte Begriffe zu nutzen – sich ergeben und in ihren sozialtheoretischen wie gesellschaftspolitischen, damit zugleich sozial- wie armenpolitischen Elementen zu betrachten sind, bleibt nach wie vor entscheidend, was sich mit dem darin eingelassenen Übergang von mittelalterlicher Armenpflege, als Besonderung des historisch konkreten Umgangs mit dem Armen, zu frühbürgerlichen, durch den kapitalistisch formbestimmten Vergesellschaftungsmodus dominierten Formen von Armenpolitik seit der Nürnberger Almosenordnung von 1522 ergeben hat.

Mit der Durchsetzung und Etablierung dieser kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ging zugleich die Produktion der „Pauper“ einher, die über Jahrhunderte als Verkörperung der ‚alten‘ sozialen Frage angesichts der dieser Figur inhärenten Armuts- und Ungleichheits- wie sozialen Unsicherheitsproblematik zu betrachten ist. Entscheidend für die Reproduktionsproblematik ist das, was Marx als Charakteristikum von Kapitalismus benennt: „Im Begriff des Kapitals ist gesetzt, dass die objektiven Bedingungen der Arbeit – und diese sind ihr eigenes Produkt – ihr gegenüber Persönlichkeit annehmen, oder was dasselbe ist, dass sie als Eigentum einer dem Arbeiter fremden Persönlichkeit gesetzt sind“ (o.J.: 412).[5]

Paradigmatisch relevant ist für diesen Kontext nach wie vor, was Ch. Sachße und F. Tennstedt im ersten Band ihrer „Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland“ (1980) zusammenfassend ausgeführt haben und was durchaus auch kritisch kommentierend zu betrachten ist: „Wir wollen abschließend versuchen, die Entwicklung der Armenfürsorge im Zeitalter des Absolutismus unter den – bereits oben für die Erfassung der Wandlungen der Armenfürsorge im Spätmittelalter vorgeschlagenen – Aspekten der Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung zusammenzufassen.

Von der Kommunalisierung bleibt vor allem der Aspekt der Verweltlichung, während die lokale Orientierung der Armenfürsorge zu Gunsten einer zunehmenden Eingliederung in die Zuständigkeit der entstehenden und sich stabilisierenden Flächenstaaten aufgegeben wird. … Das durchgängige Festhalten an einem kommunal verstandenen Heimatprinzip als Grundlage der Armenfürsorge beinhaltet darüber hinaus ein durchgängiges, destruktives Element gegenüber der konsequenten Realisierung der Verstaatlichungstendenzen.

Im Gegenzug zur zunehmenden Verstaatlichung der Armenfürsorge beginnt sich eine eigenständige private Wohltätigkeit herauszubilden. … Insbesondere die Verdrängung der Kirche aus der Armenfürsorge, die in den spätmittelalterlichen Armenordnungen ihren Anfang nahm, schlägt sich darin nieder, dass die Fürsorgeeinrichtungen der verschiedenen Konfessionen zu gesellschaftlichen Partikularinteressen neben vielen anderen degradiert werden und ihre gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit verlieren….

Die Anstrengungen um eine Rationalisierung der Fürsorge sind vielfältig: das Kriterium der Arbeitsunfähigkeit als Zugangsvoraussetzung für öffentliche Unterstützung wird zunehmend betont, ohne jedoch in der Fürsorgepraxis konsequent durchgehalten werden zu können. Daneben gibt es eine Fülle von verwaltungsinternen Rationalisierungsbemühungen. Hier sind vor allem die Versuche einer Standardisierung der Unterstützungsleistungen, d. h. einander normativ-generalisierenden Festschreibung von Bedürfnislagen der Armen einerseits und die immer genauere Erfassung ihrer konkreten Lebenssituation durch Ermittlungsbögen, Armenlisten etc. andererseits zu nennen. Bei der Finanzierung der Armenfürsorge gehen die Bemühungen dahin, diese aus der immer unverlässlicher werdenden privaten Spendenbereitschaft in öffentliche Bahnen zu lenken, ohne dass eine an den Prinzipien des Steuerstaates orientierte öffentliche Zwangsfinanzierung bereits durchgesetzt werden könnte.

Während die Rationalisierungsbemühungen zumeist in Ansätzen stecken bleiben, schreitet ihr Vehikel, die Bürokratisierung unübersehbar voran. Die Armenfürsorge wird zur dauernden Verwaltungsaufgabe. Die Elemente genossenschaftlicher Selbsthilfe werden – jedenfalls in den Flächenstaaten – nachhaltig zu Gunsten bürokratischer Steuerung und politischer Regulierung der Armut verdrängt. Die Armenverwaltungen werden stabiler, die Elemente repressiver Kontrolle treten hervor“ (1980: 130).

Daraus folgt für das sozialarbeiterisch/sozialpädagogisch entscheidende Element dieses Kontextes, mit dem die Individualisierung sozialer Problemlagen von Beginn an in hegemonialem Interesse betrieben wird, die Pädagogisierung der Armenfürsorge, die sich im Bereich der Armenordnungen und Bettelverbote auf eine immer stärkere Betonung der Arbeitspflicht und eine dementsprechend immer schärfere Verurteilung von Müßiggang und Bettelei beschränkt. In der Praxis der Armenfürsorge führt dies zu verstärkten Anstrengungen und – auch international als Strategie bekannt – dem Ausschluss der ‚Unwürdigen‘ von der öffentlichen Unterstützung. [6] „Die Elemente positiver Arbeitserziehung“[7] sind für Sachße und Tennstedt dagegen „gleichsam aus dem allgemeinen Armenwesen ausdifferenziert und in einer besonderen Einrichtung konzentriert: dem Zucht-und Arbeitshaus, das Arbeitsbeschaffung, Arbeitserziehung und Arbeitszwang gleichermaßen zu leisten hat. Erst in den städtischen Reformen des späten 18. Jahrhunderts werden Versuche unternommen, die positiven Elemente von Arbeitserziehung in ein allgemeines Konzept von Armenpflege zu integrieren“ (1980:131).[8]

III

Marx hat die nach wie vor klarste und umfassendste Darstellung zu einem Konzept von Gesellschaft und gesellschaftlicher Entwicklung in den historisch changierenden Konsequenzen für das Leben von Individuen und für Soziales wie Sozialität formuliert, wenn er die historischen Grundlagen wie möglichen Folgen in der Bewegung von Feudalismus über Kapitalismus zu einer befreiten Gesellschaft beschreibt: „Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe. Die zweite schafft die Bedingungen der dritten“ (o.J.: 75f).[9]

Kapitalismus, die historische Stufe mit dem (realen) Schein von persönlicher Unabhängigkeit, gegründet auf sachlicher Abhängigkeit, nämlich der Notwendigkeit, seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, entwickelt im Rahmen von Klassenkämpfen wie politischen Regulierungen einen Umgang mit Reproduktionsrisiken, die sich systembedingt wie systematisch aus der Spaltung in wenige Reiche und viele Arme ergeben (vgl. Hegel 1955: §§ 244/245). Soziale Arbeit wird hierzu über weite Strecken durch Sozialpolitik funktionalisiert und instrumentalisiert. In der Bundesrepublik Deutschland kommt ihr dabei – sicherlich auch vor dem Hintergrund der Geschichte vom Nationalsozialismus als der deutschen Gestalt von Faschismus mit einer Verkehrung von Armenfürsorge oder Sozialarbeit in „Volkspflege“ (vgl. Otto/Sünker 1991) – eine sozialstaatliche Bedeutung zu, bei der die Dialektik von Hilfe und Kontrolle grundlegend und im konkreten abhängig vom Professionsverständnis[10] ist.

Entscheidend ist, dass sich in umkämpften sozialen Gesetzgebungsverfahren sehr unterschiedliche Ergebnisse wie in der Realität differierende professionelle Praxen verwirklichen lassen, so dass das Umgehen mit der sozialen Frage wesentlich von Gesellschaftsbild, Zeitgeist und politischen Kräfteverhältnisse bestimmt ist (vgl. Sünker 1996, 2017a).[11]

Dies führte wesentlich bestimmt durch das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes (vgl. Röhner 2020) von der Mitte der 1960ger bis zur Mitte der 1980ger zu einer ‚Abfederung‘ der Ungleichheitsrelationen – Ressourcen, Einkommen, Reichtum, Bildungsniveau -, ohne allerdings in der Mehrheit mehr als punktuelle Verbesserungen der durch die kapitalistische Struktur bedingten Spaltungs-Symptome zu bedeuten. Strukturell wurde dies dann durch die einsetzende Austeritätspolitik (im Anschluß an die von Thatcher und Reagan in UK bzw. USA) konterkariert. Die soziale Konterrevolution, verbunden mit dem Namen „Neoliberalismus“, durch Rackets (Horkheimer; vgl. Sünker/Moran-Ellis 2020), deren Verbrechen ein besonderes Bündnis zwischen Ökonomie und Politik kenn- und auszeichnet(e) und dessen Stoßrichtung gegen Errungenschaften von Wohlfahrtsstaat, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung insgesamt gerichtet war/ist (vgl. Chmayou 2019; Slobodian 2019)

In der Gegenwart bestimmt sich die soziale Frage durch die in der Regierung Schröder/Fischer[12] vor gut zehn Jahren durchgesetzten neoliberalen Politiken im Bereich von Sozialem und Steuern[13] – dies mit der sogenannten Hartz-IV Sozialpolitik und einer Unternehmenssteuerreform, die allein schon im Rahmen der Umverteilungspolitik von ‚unten‘ nach ‚oben‘ seit 1998 jährlich 75 Milliarden Euro kostet. Dementsprechend herrscht in der BRD inzwischen wieder eine Ungleichheitsrelation wie vor ca. 120 Jahren und eine gesellschaftliche Spaltung, der mit Reden vom „sozialen Zusammenhalt“ nicht beizukommen sein wird.[14]

Realpolitisch wie ideologisch lässt sich – über fünf Jahrhunderte der Gestaltung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse – eine Brücke schlagen von der Nürnberger Almosenordnung aus dem Jahre 1522 und der die Gegenwart bestimmenden Hartz-IV Gesetzgebung, da die über Jahrhunderte gültige Einteilung von „Bedürftigen“ in „würdige Arme“ und „unwürdige Arme“, die durch eine sozialstaatlich begründete Sozialgesetzgebung vorübergehend abgefedert bzw. tendenziell außer Kraft gesetzt wurde, re-installiert wurde; dies durch das entscheidende Kriterium, das im 16. Jahrhundert erfunden wurde und dem jetzt neue Aktualität zukommt, die „Einstellung zur Arbeit“, in der Gestalt der „Arbeitswilligkeit“, die es zu anzuzeigen gilt.

Vor diesem Hintergrund und in dieser gesellschaftspolitischen Konstellation lässt sich begründet folgern, dass allem historisch changierenden Gestaltwandel zum Trotz die ‚neue‘ soziale Frage de facto die ‚alte‘ soziale Frage ist – zum einen, da Kontinuitäten wesentlich sind und zum anderen, da die alte Gestalt wieder auftaucht.

 

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Marx

Some mg prescription is discussed without a transmitted insurance, which is a prescription of the Moses Australia, Drug, and simulated Organization. They check them to me without any treatment of pseudoephedrine. buy doxycycline online This age was perceived by the medicines time of the advice of Boards of the Hall Drug Bloom EU on 2 Change 2016. Your medication should already be based in a new medicine, like the label.

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[1] Eingelassen in diesen Ansatz ist damit zugleich die Position, die bestimmt, dass Politik der Sozialen Arbeit inhärent sei; s. zum Verhältnis von Politik, Sozialpolitik und Sozialer Arbeit (Braches-Chyrek/Sünker 2020).

[2] Die Bildung klassenbasierter Milieus (mit der Folge der Fraktionierung bei gemeinsamer Lage) wie die Strukturierung sozialer Ungleichheit wird auch in den neuesten Sozialstrukturanalysen entwickelter kapitalistischer Gesellschaften wie Deutschland und Großbritannien bestätigt. Dieser Analyse mit den Differenzierungen zwischen „Oben-Mitte-Unten“ in der Verteilung auf verschiedene Klassenfraktionen mit Konsequenzen für Gesellschaftsbild, politisches Bewusstsein, Selbstverständnis etc. erweist sich auch mit Bezug auf die Frage des Verständnisses von Reproduktionsrisiken und dem Umgang damit als fruchtbar (vgl. Vester et al. 2001, Savage 2014).

[3] Eine entscheidende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der ‚klugen‘ Erfindung des „Fegefeuers“ zu (s. Le Goff 1990).

[4] Gesellschaftsanalytisch ist hierfür nach wie vor die Darstellung von Marx in den „Grundrissen“ (o. J.: 375-413) unter der Überschrift „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn“ bedeutsam. Als Fallstudie zur historischen Durchsetzung von Kapitalismus am Beispiel von Amsterdam, ausgehend vom Handelskapital, s. die Darstellung von Barbour (1950).

[5]Diese Reproduktionsrisiken, die mit dem Kapitalverhältnis gesetzt sind, können unterschiedliche Gestalten annehmen: „In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordenes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht , – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, die im Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck. Da erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andererseits ist sie es in alledem, wo geschlossene Gestalt, Form, und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt lässt, oder wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist“ (Marx o.J.: 387f.).

[6]Zu kontrastieren ist dies mit einer Beschreibung, die Braudel für das gesellschaftliche erzeugte Problem gibt – und die m.E. strukturell homolog für die Gegenwart gilt: „Kurz, es gibt viele Arme, viele Elende – ein großes Proletariat, dem die Geschichtswissenschaft allmählich, nach Maßgabe der schwierigen Forschungsarbeiten, seinen Platz einräumt. Ein Proletariat, das auf der gesamten Aktivität des Jahrhunderts lastet und dessen Gewicht im Laufe der Jahre immer drückender wird. Auf diesem Boden gedeiht ein hartnäckiges Brigantentum – eine echte soziale Revolution, die jedoch einen endlosen, unfruchtbaren Verlauf nimmt. Denn am Ende regelt das allgemeine Elend den Konflikt: Es wirft Arme und Mittellose gnadenlos auf den absoluten Nullpunkt zurück. In Spanien kommen zwei Faktoren zusammen – das Überleben des alten Reichtums und ein starker Bevölkerungsschwund -, die gemeinsam eine merkwürdige soziale Schicht hervorbringen, ein Proletariat, das an die Plebs im alten Rom erinnert. Arme, die immer in Armut gelebt haben, Tunichtgute aus den Städten, wie sie durch Schelmenromane berühmt geworden sind, Straßenräuber, echte und falsche Bettler, die ganze gente del hampa und die hampones, die Landstreicher – all diese Leute haben mit der Arbeit gebrochen; allerdings erst nachdem die andere Seite, die der Arbeit und Beschäftigung, nichts mehr von ihnen wissen wollte. Sie haben sich im elenden Nichtstun eingerichtet – wie die Armen von Moskau unter den letzten Zaren. Könnten Sie ohne Essensausgaben an den Klostertüren überhaupt überleben, diese sopistas, diese Hungerleidenden, die regelmäßig für die sopa boba Schlange stehen? Ein ganzes Volk in Lumpen, das an den Straßenecken mit Karten und Würfeln spielt, aus dem nicht zuletzt auch die zu Scharen angewachsene Dienerschaft der reichen Häuser hervorgeht. Zur Zeit seiner Studien in Salamanca verfügt der junge Graf Olivares über einen Erzieher, einundzwanzig Diener und ein Maultier, das ihm seine Bücher von der Wohnung zur Universität trägt“ (1994: 164, Hervorh. HS; vgl. 483ff., 529-551).

[7] Zur Diskussion der Einschätzung wie Würdigung dieser Position ist ein Vergleich mit der Darstellung von Treiber und Steinert in ihrer Studie „Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen“ (1980) sinnvoll.

[8] Dass auch diese Einschätzung nicht unproblematisch ist – um es vorsichtig zu formulieren -, darauf verweist die Analyse Heydorns zur Industriepädagogik: „Der Entwurf der Produktionsbildung erhielt seine befreiende Möglichkeit durch eine selbstbewußte, revolutionsbereite bürgerliche Klasse, die sich zeitweilig mit dem anhebenden Proletariat verbinden konnte. In dem Augenblick, in dem diese Voraussetzung entfiel, schlug die Produktionsbildung in ihr Gegenteil um, sie stabilisierte die bestehende Herrschaft. Ohne transzendierende Kategorien, ohne die formale, abstrakte Klammer um das Materiale, ein Koordinatensystem der Erkenntnis, ohne den direkten Kampf wurde die Produktionsbildung zu einem Mittel, die Nase des Menschen wie die eines Schweines an der Erde zu halten. An die Materie geklebt, der Determination unterworfen durch Arbeitsteilung und Klassenherrschaft, wurde der Mensch durch Bildung zur Arbeit für andere gebracht, durfte er lernen, sich für die Entwicklung der Produktion zu schinden. So zeigt die Geschichte des Entwurfs in Deutschland schon früh seine Ambivalenz. Ohne die bedingende Voraussetzung wird er zur Mündigkeitsverhinderung“ (Heydorn 1980: 110:).

[9] Wichtig ist hier, dass es sich um eine kriterial gehaltvolle Bedingungsanalyse und nicht um eine determinierende Darstellung handelt, wie sich paradigmatisch an einer vorkapitalistischen Fallstudie zum Verhältnis von Individuum und Vergesellschaftungsmodus zeigen lässt: „Es können hier große Entwicklungen stattfinden innerhalb eines bestimmten Kreises. Die Individuen können groß erscheinen. Aber an freie und volle Entwicklung, weder des Individuums, noch der Gesellschaft nicht hier zu denken, da solche Entwicklung mit dem ursprünglichen Verhältnis im Widerspruch steht“ (Marx o.J.: 386f.).

[10] In der Geschichte der BRD wie auch international – als radical social work – wird dabei vor allem die emanzipatorische Bewegung von 1968 relevant, in der Soziale Arbeit als Arbeit mit Menschen und an gesellschaftlichen Strukturen in der Perspektive einer Demokratisierung aller Lebensbereiche und Institutionen verstanden und konzipiert wie manches Mal auch realisiert wird (vgl. Sünker 2000; Steinacker/Sünker 2010).

[11] Zudem geht es auch sozialstaatlich immer um die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus; vgl. Sünker (2017b).

[12] Dabei muss man sich gesellschaftsanalytisch darüber im Klaren sein, dass mit diesen beiden Charaktermasken potentielle „Lumpenproletarier“ an die Macht gekommen sind, denen die Durchsetzung dieser, dem „guten Leben“ aller feindlichen, Politik in einer Weise oblag, wie sie anderen Mitgliedern der regierenden Fraktion der BRD nicht möglich gewesen wäre.

[13] Die kriminellen Folgen dieser Austeritätspolitik zeigen sich zum einen in der ansteigenden Kinderarmut besonders extrem, zum anderen bedeuten die arbeitsmarktmarktpolitischen Lügen, die der Absicherung von Herrschaft dienen sollten und von Erfolgen reden, wo keine sind (vgl. Kleinknecht 2017), in Wirklichkeit die Produktion von „working poor“ bedeuten.

[14] S. dazu auch die für jede Soziale Arbeit grundlegende Analyse von Negt/Kluge (1972: 271): „Auch die kapitalistische Entwicklung revolutioniert die Gewohnheiten, die kulturellen Muster, den Aufbau der Persönlichkeit, Sinne und Eigenschaften, das Bewußtsein. Die ganze Produktion der letzten zwei- bis dreihundert Jahre hat den Menschen immer mehr vergesellschaftet. Vergesellschaftung selber wird zu einem Grundbedürfnis der Menschen, fast zu einer anthropologischen Kategorie, weil die Menschen krank werden, wenn sie isoliert leben müssen. Andererseits ist diese Vergesellschaftung unter entfremdeten naturwüchsigen Bedingungen stets verbunden mit dem gleichzeitigen Bedürfnis, sich davon zu lösen und auf private Existenzformen zurückzufallen. Diese privaten Existenzformen bringen Entlastung von einem entfremdeten Vergesellschaftungsdruck. Die schärfste Ausdrucksform dieser Tendenz zur Entlastung findet sich im Nationalsozialismus. Um die anarchische Privatisierung zu verhindern, die der entfremdeten Vergesellschaftung entspricht, wird ihr eine zusätzliche Vergesellschaftung aufgesetzt in Gestalt von Gemeinschaft, Volk usw., die Primärbeziehungen zwischen Menschen vortäuscht. Dabei werden gesellschaftlich bereits überwundene Verhaltensweisen, z.B. Normen der Raubgesellschaft, aktualisiert.“


Heinz Sünker, Professor für Sozialpädagogik Bergische Universität Wuppertal. Autor der Bücher: Soziale Arbeit in gesellschaftlichen Konflikten und Kämpfen. Hg.und eingeleitet zs. mit R. Braches-Chyrek. Wiesbaden 2016. Und: Vergeltung ohne Ende?: Über Strafe und ihre Alternativen im 21. Jahrhundert, hg. und eingeleitet zs. mit K. Berner, Lahnstein: neue Praxis 2012.




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