Postkoloniale Verstrickungen der globalen Schweiz (Editorial zu Widerspruch Nr. 72)

Gibt es eine westeuropäische Nation, die der kolonialen Machtausübung unverdächtiger scheint als die Schweiz? Haben «wir» damit überhaupt etwas zu tun? Dieser Frage geht das aktuelle Widerspruch-Heft nach, indem es zu einer Auseinandersetzung mit der postkolonialen Stellung der Schweiz anregt. Der Begriff Postkolonialismus beschreibt die Auswirkungen von Kolonialismus, Dekolonisierung und neokolonialen Tendenzen auf die heutige globale Situation als verflochtene, reziproke Geschichte des Westens und des Globalen Südens. Auch die Schweiz hat sich nie nur innerhalb ihres Territoriums entwickelt, sondern war immer auf vielfältige Weise in die gewaltvolle europäische Kolonialisierung verstrickt. Schweizer Firmen handelten mit Waren und Geld, im Einzelfall auch mit Sklav *innen, und die Schweizer Politik tolerierte und förderte während Jahrzehnten Sklavenhandel, Aneignung von Land und Kulturgütern sowie wissenschaftliche Klassifizierung und Missionierung. Als Kleinstaat positionierte sich die Schweiz unter dem Deckmantel der «Neutralität» geschickt zwischen den imperialen Mächten und profitiert auch heute von neokolonialen Strukturen. Mit der Aussiedlung von Armen und Hungerleidenden schuf sie in den kolonisierten Ländern «Schweizer Kolonien» und tolerierte oder förderte Schweizer Söldner, die im Dienste imperialer Kolonialherren kämpften. Als Kulturtheorie kritisieren postkoloniale Ansätze auch den Eurozentrismus unserer alltäglichen Anschauungsweisen und Alltagspraxen. Von einem ideologiekritischen Standpunkt zeigen sie auf, wie der Ort der Wissensproduktion auch den Inhalt beeinflusst. So entfalten etwa koloniale Denkmuster, die «den Westen» als vernünftig, zivilisiert oder emanzipiert konstruieren, noch heute eine ungebrochene Wirkung – lange nach dem formalen Ende des Kolonialismus. Diese Muster begegnen uns unter anderem dann, wenn Identitäten über die Abgrenzung zum «Anderen» hergestellt werden und wenn diese «Anderen» dabei abgewertet oder als weniger weit fortgeschritten dargestellt werden. Der dafür in der postkolonialen Theorie etablierte Begriff lautet «Othering». Dieses ist an unzähligen Stellen unseres Alltags zu beobachten, etwa wenn exotische Reisen beworben werden oder wenn in Debatten um Kopftücher und «den Islam» unterschlagen wird, wie schwer es die weibliche Emanzipation gerade hierzulande hatte und noch immer hat. So zeigt beispielsweise die Kritik an der Doppelmoral der Rechtspopulist*innen, die in rassistischem Tonfall Frauenrechte gegen «Ausländer» in Stellung bringen, wie die selbstverständliche Normalität des «Schweizerseins» sowie der Mythos von Nation und Schweizer Volk immer auch durch kolonial geprägte Bilder aufrechterhalten werden. Selbstredend darf diese Kritik nicht mit einer undifferenzierten Affirmation «des Islams» verwechselt werden. Eine wichtige postkoloniale Forderung bezieht sich sodann auf die Art und Weise, wie und von welchen Standpunkten aus Geschichte geschrieben wird.

Die Erfolgserzählung der liberalen Demokratie beispielsweise wird seit den frühen sozialistischen Bewegungen auf ihre blinden Flecken hin befragt. Diese verdecken, dass hinter der vordergründigen Gleichberechtigung in der formalen Demokratie asymmetrische Macht- und Eigentumsverhältnisse bestehen, die im nationalen und internationalen Massstab negativ wirken. Aus einer postkolonialen Perspektive entsteht nun die paradigmatische Forderung, diese Verhältnisse polyzentrisch zu denken. Dies bedeutet, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Zivilisation oder Unterdrückung lediglich von den (westlichen) Zentren in die jeweiligen Peripherien diffundier(t)en. Denn implizit geht eine solche Sicht mit der Annahme einher, dass die Menschen in der Peripherie «unterentwickelt» seien und Geschichte mehr oder weniger passiv über sich ergehen liessen. Stattdessen ist zu fragen, welche Impulse von Kulturen aus der Peripherie in die Zentren kamen, welches Wissen verleugnet und/oder unter neuem Namen europäisiert wurde. Als Beispiele sind etwa die haitianischen Sklav*innen zu nennen, die den modernen Freiheitsbegriff (mit)begründeten oder das Wissen indigener Heilkunst, das der Basler Pharmaziefirma Novartis (damals Ciba) zu ihrem Erfolg verhalf. Dementsprechend erklingen heute aus dem Globalen Süden postkoloniale Stimmen wie die des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty, der fordert, Europa zu «provinzialisieren». Der Westen soll nicht mehr das Zentrum der Geschichte und des Denkens darstellen, stattdessen sollen die peripherisierten «Provinzen» des Globalen Südens ebenfalls zu Zentren des Wissens werden. Was der Postkolonialismus fordert, ist, die Zentralität westlichen Denkens zugunsten einer polyzentrischen Wissensbildung aufzugeben, in der die wissenschaftliche und gesellschaftliche Wahrnehmung der Welt von verschiedenen – auch von subalternen – Regionen aus geleistet und als gleichwertig anerkannt wird. Eine solche Geschichtsschreibung trägt nicht zuletzt dem Umstand Rechnung, dass wir längst in einer globalen, interkulturellen Welt leben, in der Mehr fachzugehörigkeit nicht mehr nur als diskriminiertes Anderssein, sondern auch als Normalität erfahren wird. Dagegen erleben wir zurzeit zwar einen ideologischen Backlash, dessen Vertreter*in nen «westliche», «christliche» und «europäische» Werte aufleben lassen – in alter kolonialer Tradition und Überheblichkeit. Doch können wir diesem Backlash – zumindest auf der diskursiven Ebene – gerade auch mit Erkenntnissen aus der postkolonialen Geschichtsschreibung begegnen. Denn keine Kultur existierte je für sich; nicht einmal die im rückwärtsgewandten Geschwätz herbeibeschworenen Fundamente der «europäischen Zivilisation»: Selbst die griechische und die römische Antike standen im regen Austausch mit afrikanischen und asiatischen Kulturen, wie die Postcolonial Classics zeigen. Da auch wir Teil einer postkolonialen Gesellschaft sind, soll ein weiteres Ziel dieses Heftes eine linke Selbstbefragung sein. Als Linke arbeiten wir zwar an einem Angebot kollektiver Stärke, das nicht auf dem Ausschluss von «Anderen», auf der Verachtung von Schwäche und Verletzbarkeit beruht. Doch bedarf dies auch einer kritischen Selbstreflexion: Wo tragen wir Scheuklappen? Weshalb beziehen wir uns etwa auf die französische oder sowjetische Revolution, nicht aber auf die Sklav*innenrevolution in Haiti? Wo haben wir koloniale Denkweisen verinnerlicht? Welche Bündnisse können wir eingehen, welches Wissen wollen wir teilen und fördern? In diesem Sinn ist linke Politik wesentlich auf eine polyzentrische Geschichtsschreibung angewiesen. Andererseits soll linke Politik über akademische Reflexion hinausgehen, wie dieses Widerspruch-Heft zeigt. Uns interessiert weniger die Auseinandersetzung zwischen postkolonialen und marxistischen Ansätzen; ob nämlich letztere mit ihrer spezifischen Art der Liberalismuskritik Imperialismus (und Patriarchat) reproduzieren oder ob erstere materielle Bedingungen negieren und Klassensolidarität untergraben. Stattdessen wollen wir die jeweils interessanten Aspekte reflektieren und politisch fruchtbar machen, woraus sich die eingangs skizzierte Frage ergibt, wie sich postkoloniales Denken mit einer Kritik an den materiellen, ökonomischen Prozessen einer globalisierten Schweiz verbindet und welche konkreten Gegenbewegungen – in der Geschichtsschreibung, aber auch im politischen Handeln – daraus entstehen können. Gegenbewegungen, die kritische Identifikationsangebote für Menschen mit und ohne Migrationserfahrungen bieten und neue Stimmen zu Wort kommen lassen. Stimmen, die im Kampf um Anerkennung von unterschiedlichen Identitäten, Kulturen und Realitäten dringend nötig sind, gerade wenn wir den Blick auf Fragen der (international) gleichberechtigten Teilhabe öffnen.


Der WIDERSPRUCH ist eine seit 1981 halbjährlich erscheinende Schweizer Zeitschrift. Sie ist politisch unabhängig von Parteien, Organisationen und Institutionen und bietet eine Plattform für offene und kritische Debatten, die von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Arbeits- und Forschungskontexten, aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, aus Politik, Kultur und Wissenschaft im In- und Ausland genutzt wird.




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