Finanzplatz gewinnt, Werkplatz verliert. Interview von Oliver Fahrni mit Ueli Mäder*

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Ihr neues Buch heisst «macht.ch». Erfahren wir in Ihrer Studie, wer die Macht darüber hat, wie wir leben und arbeiten?

Ich hoffe, dass uns das gelingt, wenigstens ein Stück weit. Ich sage ganz bewusst ein Stück weit, weil es auch darum geht, mit der einfachen Vorstellung zu brechen, Macht balle sich in einem einzigen Zentrum, das von oben herab dirigiert und alle Fäden zieht. Es gibt zweifellos Zentren der Macht, doch ein wichtiger Punkt ist: Macht hat auch verschwommene Bereiche. Sie wird nicht nur über Zwang, sondern auch über Haltungen, über Ideologien ausgeübt.


Welches sind diese wichtigsten Zentren der Macht?

Ganz klar liegt sehr viel Macht bei Banken und der Finanzwelt. Mächtig sind auch Grosskonzerne, vor allem die globalisierten. Und die Macht von Finanz und Konzernen wird durch die Gewerbeverbände gestärkt, die einen recht engen Schulterschluss mit dem grossen Kapital praktizieren. Das ist überraschend.


Überraschend, weil die Gewerbler eigentlich ganz andere Interessen als Banken und Grosskonzerne haben?

Wenn ich mit einfachen Gewerbetreibenden rede, kommt von denen früher oder später oft eine erstaunliche Erkenntnis: Eigentlich, sagen sie, müssten wir den Schulterschluss eher näher mit den Gewerkschaften machen.


Sie haben untersucht, wie sich die Macht verschoben hat. Wer gewinnt?

Die finanzgetriebenen Zentren und die globalisierten Unternehmen. Der Werkplatz verliert. Und die Arbeit. Wie sagte ein Manager, den ich schon für die Studie «Wie Reiche denken und lenken» interviewt habe: Wer arbeitet, hat keine Zeit, reich zu werden.


Das zeigt sich dann in der wachsenden Kluft bei der Verteilung der Vermögen?

Seit 1989 haben die reichsten 300 in der Schweiz ihre Vermögen von 82 auf 589 Milliarden Franken versiebenfacht. Heute besitzt 1 Prozent mehr als die übrigen 99 Prozent. Das hat die Credit Suisse schon vor fünf Jahren festgestellt. In den USA, in Russland, in Singapur und Namibia ist das Gefälle sogar noch schlimmer. Das treibt eine Gesellschaft auseinander.


Geld kommt zu Geld. Geld ist Macht?

Macht baut auf Kapital. Wir haben für dieses Buch mit 200 Personen vertiefte Gespräche und Interviews geführt. Auch mit Christoph Blocher. Er schreibt doppeldeutig von «Ver-mögen». Vermögen als Kapital und Ver-mögen als «können», als Verfügungsmacht. Doch ein Soziologe muss genauer hinschauen: Nicht jeder, der reich ist, hat reale Macht. Und mancher, der nicht zu den Reichsten gehört, besitzt ganz beträchtliche Macht.


In Blochers Fall paaren sich Hunderte von Millionen mit noch mehr politischer Macht.

Sicher. Doch wer verstehen will, wie Macht annäherungsweise funktioniert, muss zuerst untersuchen, wie sie gebaut ist. Moderne Macht ist ein engmaschiges Geflecht von Banken, Konzernen, Verbänden wie Economiesuisse oder Gewerbeverband, Verwaltung, Politik, Militär, Denkfabriken, Justiz und Medien.


Geflecht tönt harmlos.

Ist es nicht. Dieses Geflecht ist strukturiert. Viele sind Teil davon und tragen es mit. Teilweise sind auch die SP und die Gewerkschaften eingebunden. Aber nur relativ wenige entscheiden wirklich mit, wie das Geflecht funktioniert. Diese Wenigen setzen ihre Haltungen, ihre Ideologie auch kultürlich durch. Max Weber, einer der Väter der Soziologie definierte: Mächtig ist, wer seinen Willen gegen Widerstreben anderer durchsetzen kann. Aber wie gut das gelingt, hängt von den Mitteln ab: Vom ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital der Mächtigen, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu herausgefunden hat. Macht entfaltet sich hegemonial über soziale Beziehungen und kulturelle Dominanz.


Müssen wir das so verstehen: Banker, um dieses Beispiel zu nehmen, tarnen ihre Interessen als die Interessen aller?

Ja, teilweise schon. Ich will zeigen, wie Macht mehr ist, als Geld und Strukturen. Sie ist die Fähigkeit, das Geflecht für sich zu vereinnahmen. Bis zum eigentlich erfreulichen Fall der Berliner Mauer 1989 dominierte die Vorstellung, es brauche einen gewissen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Seither hat sich ein finanzliberales ökonomisches Denken durchgesetzt. Es durchdringt die Politik, die Medien und alle Lebensbereiche, weit über die Wirtschaft hinaus.


Für Sie ist das ein historischer Bruch?

Ein Soziologe will herausfinden, wie eine Gesellschaft funktioniert und wie sie mit ihren Konflikten umgeht. Als eine Studentin einen alten, blutenden Mann auf der Strasse fand, den Notfall alarmierte und sein Altersheim anrief, war die erste Reaktion der Person vom Altersheim: «Das wird wieder kosten!» Diese Betrachtungsweise greift schier überall. Bei den Löhnen: Arbeit soll nichts mehr kosten und sie wird flexibilisiert. Bei den Sozialwerken: Für sie wird ein schwindender Teil des wachsenden Reichtums aufgewendet. Beim öffentlichen Dienst: Auch was nicht privatisiert wird, muss sich dieser Kapital-Profitlogik unterordnen. Und die wachsende Kluft bei den Vermögen wird kaum mehr skandalisiert, sondern gerechtfertigt. Das ist der neue Geist des Kapitalismus.


Der frühere Novartis-Chef Daniel Vasella hat Ihnen gesagt, Ungleichheit mache die Gesellschaft dynamischer.

Ich beobachte das Gegenteil. Die einseitige Verteilung von Besitz und Macht drängt viele Menschen an den Rand der Gesellschaft. Immer mehr verlieren global ihren Erwerb. Andere haben noch eine bezahlte Arbeit, können aber davon nicht leben. Auch bei frei verfügbaren Einkommen steigt die Ungleichheit. Dabei wissen wir aus Dutzenden von Studien: Je tiefer das Einkommen, desto höher die gesundheitlichen Probleme, von Karies bis Aids. Es geht um das Leiden von Menschen. Ich finde, dass jene Menschen, die benachteiligt sind, am meisten von Produktivitätsgewinnen profitieren sollten. Heute geschieht das Gegenteil.


Doch in den Statistiken lesen wir von einem durchschnittlichen Vermögen der Schweizerinnen und Schweizer von 500’000 Franken?

Besitzen Sie eine halbe Milllion? Eben. Wir haben die Zahlen geprüft. Die Hälfte der Bevölkerung verfügt über keinerlei Reserven bzw. weniger als 50’000 Franken. Das ist fatal, denn es schürt Unsicherheit und Ängste. Das vernichtet Lebenschancen. Und die wachsende Ungleichheit unterläuft demokratische Prozesse. Früher lebten wir in einer Demokratie ohne Frauenstimmrecht. Heute macht die Demokratie vor den Toren der Wirtschaft halt.


In der Schweizer Demokratie liegt die höchste Macht doch beim «Souverän», beim Stimmvolk?

Die Bürgerinnen und Bürger haben den Stimmzettel – die Banken und Konzerne haben viel Macht. Nicht immer gewinnen sie. Aber wenn es um Steuern, Regulierung, Preise, politisches Agendasetting und einiges mehr geht, also um die Interessen ihrer Aktionäre, setzen sie sich weitgehend durch.


Generell scheinen sich Banker und Grossaktionäre immer weniger für die Schweizer Gesellschaft zu interessieren. Ist das noch eine Demokratie oder schon eine Oligarchie, die Herrschaft der Wenigen?

Das ginge mir zu weit. Aber ich sehe starke oligarchische Tendenzen.


Gehört es zu diesem Trend zur Oligarchie, dass die rechte Mehrheit im Parlament gerade soziale Errungenschaften wie den Arbeitsschutz oder das AHV-Alter 65 über Bord wirft?

Mit solchen politischen Entscheiden wächst die soziale Sprengkraft. Das ist oft widersprüchlich: Für kurzfristige Vorteile werden steigende soziale und gesellschaftliche Kosten in Kauf genommen. Etwa beim Umweltschutz. Oder bei der sozialen Sicherheit. Bei den Chancen für die Jungen.


Die Politik spielt ihre Rolle für den sozialen Ausgleich nicht mehr. Das Parlament macht also Anti-Politik?

Die marktliberale Doktrin, der Markt werde schon alles richtig organisieren, sitzt tief in allen Köpfen. Dabei sind es gerade Manager und Reiche, die in unseren Interviews die Gefahr von Rebellion und Aufständen ansprechen. Wer Alltagssoziologie macht, stellt heute fest, dass verschiedene Formen von Verweigerung zunehmen. Leider wenden sich dabei viele rechtspopulistischen und diskriminierenden Kreisen zu.


In einigen Ländern Osteuropas sind diese rechten Nationalisten schon an der Macht, in Frankreich, Österreich und in der Schweiz sind sie auf dem Vormarsch. Treibt uns die Krise des Kapitalismus in eine autoritäre, antidemokratische Gesellschaft?

Das ist nur eine mögliche Entwicklung. Das Gute an der soziologischen Arbeit ist, dass wir draussen «auf dem Feld» einer vielfältigen Wirklichkeit begegnen. So erleben wir, dass viele Menschen neue Formen von gesellschaftlichem Sinn ausprobieren, in Stadtbewegungen, in der Flüchtlingshilfe oder in Bewegungen wie dem Urban Gardening. Sie entziehen sich klassischer Politik, sind aber durchaus politisch. Wir bekommen auch Diskussionen in Wirtschaftsverbänden wie der Economiesuisse über soziale Kosten des marktliberalen Modells mit. Wir hören in Interviews von der Skepsis und Sorgen von Führungsleuten. Einzelne von ihnen gehen persönlich längst neue Wege. Ich könnte mehrere Beispiele nennen. Doch besonders beeindrucken mich das Engagement und die offenen Diskussionsformen vieler Jugendlichen und der Studierenden hier.


Wohin könnte uns das führen?

In eine vertiefte Demokratie, in der auch Bereiche wie die Wirtschaft für die öffentliche Beteiligung und Mitbestimmung geöffnet werden. In diese Richtung wirken viele der neuen Bewegungen: Sie unterstützen die tägliche Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an sämtlichen Entscheidungsprozessen.


* Zuerst erschienen am 2.6.2016 auf work online. Das Gespräch führte Oliver Fahrni mit dem Soziologie-Professor Ueli Mäder anlässlich seiner Emeritierung.


Oliver Fahrni, geb. 1955, ist Stv. Chefredaktor der Gewerkschaftszeitung work. Der Ökonom und «nomadisierende Sozialwissenschafter» war zuvor unter anderem Auslandchef von Die Woche (Hamburg), Auslandkorrespondent diverser Medien (Paris, Islamische Welt) und Stv. Chefredaktor der alten Weltwoche. Fahrni leitet die europäische Denkfabrik Cargo3.

Ueli Mäder ist Ordinarius für Soziologie an der Uni Basel. Er hat auch eine Professur an der Hochschule für Soziale Arbeit. Seine Schwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und die Konfliktforschung.




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