Regressive Aspekte des Glokalismus*

Vorbemerkung: In diesen Essay fliessen Reflexionen aus meinem Band Im Archipel Coolag, 2006.

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Hyperprovinzialismus der glokalistischen „Urbanität“

Alltagskommunikationsfeindlichkeit; Misstrauen gegenüber Fremden; Humorlosigkeit als Signum von Intelligenz; ausgeprägter Lokalchauvinismus; Projektion eigener Schwächen auf andere Menschen und Territorien; Überidentifikation mit der Unterhaltungsindustrie; Fehlen jeder sprachlichen Kreativität und statische Homogenisierung der Sprache; Gleichsetzung von Design mit Asepsis.

Halten wir ein. Welchen Bewohnern oder Territorien würde man eine solche Charakterisierung am ehesten zuschreiben? Manche der Prädikate sind nicht eindeutig zu verorten, doch bei anderen würden wir einmütig sagen: Es muss sich hier um Kennzeichen von Menschen eines äusserst provinziellen Territoriums handeln, wo Autochthone es am liebsten nur mit ihresgleichen zu tun haben. Einige würden womöglich hinzufügen, dies erinnere sie an das, was ihnen als Mentalität der fünfziger Jahre beschrieben wurde.

Nichts davon trifft zu. Es handelt sich um den Habitus, die Mentalität, die dominierende Alltagskultur, wie ich sie zwischen der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bis zu den frühen nuller Jahren des 21. Jahrhunderts in Zürich erlebt habe. Der Grund für eine solche Beurteilung der grössten Stadt der Schweiz, die vom damaligen PR- und Tourismusbüro als „Downtown Switzerland“ verkauft wurde,1 könnte, so wird man relativierend einwenden, darauf zurückzuführen sein, dass der Autor beispielsweise aus einer mediterranen Stadt oder einer Weltmetropole nach Zürich gezogen sei und deswegen zwangsläufig von gewissen Aspekten des puritanischen Zürich erstaunt sein musste. Leider falsch. Ich bin damals aus der (ultraprotestantischen) südwestaargauischen Region Zofingen nach Zürich gezogen. Es sei vermerkt, dass es sich hier um eine Gegend handelt, die selbst innerhalb des Aargaus als provinziell, und dass der Aargau in der Stadt Zürich (aus unerfindlichen Gründen) seit Jahrzehnten als Schweizer Zentrum des Provinzialismus gilt.2 Insofern ist der Autor gleichermassen aus der Provinz der Provinz kommend nach Zürich gezogen – nicht etwa um dort wieder die Provinz anzutreffen, sondern im Gegenteil: um der Provinz ein für alle Mal zu entkommen. Wie hätte er damals, 1987, ahnen können, dass er nach wenigen Jahren bereits zugeben müsste, dass er in einer Stadt wohnt, die in gewissen Bereichen noch provinzieller als Zofingen ist, und dass der Glokalismus des 21. Jahrhunderts zu einem noch nie dagewesenen, globalen Hyperprovinzialismus führen würde?

Doch der Reihe nach. Die obigen Charakteristika bedürfen einiger Erläuterungen:3

Das „Aargau-Syndrom“: Leben in Zürich bedeutet leben in einer Projektionsmaschine. Es gibt, insbesondere unter den Vertretern des jungen, völlig tertiarisierten Zürich, das den Zwinglianismus konsumistisch angepasst hat (Musse als Freizeit-Arbeit) eine Chiffre für alles Verabscheuungswürdige: den „Aargau“. Bemerkenswert daran ist nun, dass der Aargau, sieht man vom Fehlen eines grossen Zentrums ab, von der Mentalität, dem Lebensstandard, der politischen Auffächerung her dem Kanton Zürich äusserst ähnlich ist.

Auf den ersten Blick geht es bei der Abgrenzung gegen den realen oder imaginären Aargau um eine harmlose Rivalität zwischen Nachbarn. Gehässigkeit, Ernsthaftigkeit, Häufigkeit, Inhalt, Funktion bewusster Diatriben erheischen freilich eine andere Lesart. Das Abkanzeln alles Aargauischen ist ein Hauptbestandteil der Konstitution der Eigenidentität. Der springende Punkt ist vielmehr, dass ausgerechnet ein Gutteil der eigenen Schwächen hinausprojiziert wird. Was misslang beim seit den achtziger Jahren unbändigen Willen, eine Metropole zu haben und zu sein; was relativ zur regulativen Idee von Urbanität, eine „Vermischung kühnster Konstruktionen mit unberechenbaren, kontaminierenden und planungsentzogenen Momenten und Eingriffen“4 als Defizit bestehen blieb oder neu entstand, wird in die „Provinz“ hineingeredet.

Lokalistisch-globalistische Aufspreizung – Zwang des Entweder-Oder: Dem Autor ist es in Zürich tatsächlich passiert, dass er wegen seines Dialektes angemotzt wurde. Hierbei handelt es sich um eine Aargauer Mundart, allerdings um eine, die auch für ein Berner, Solothurner oder Luzerner Idiom gehalten werden könnte. Bewusster Choleriker aber, der doch kein Kind mehr, sondern ein mustergültiger „Szenegänger“ war, empfand die Tatsache, dass jemand in seiner Anwesenheit einige Wörter anders aussprach, als ungeheurliche Provokation – wie wenn Zürichdeutsch ein nationales, standardsetzendes Idiom wäre. So stellen wir uns unliebsame Begegnungen mit Sprachchauvinisten und Glokalisten vor.

Erschreckend ist, dass solches Gebaren Teil städtepatriotischer Selbstvergewisserung ist. Der postfordistische Glokalismus mit seiner scheinmultikulturellen, zur Vereinheitlichung tendierenden Pseudourbanität und der Schwächung des nationalstaatlichen Bezugssystems verstärkt die regionale und lokale Identitätsstiftung, so folkloristisch sie in gewissen Fällen sein mag. In dem Mass, wie genuin schweizerische Koordinaten und die städtische Industrie verschwanden, nahm in manchen Regionen der Wert lokaler und kantonaler Identifizierung zu. Die in kulturellen, sprachlichen oder nationalstaatlichen Grenzstädten wie Basel oder Genf sich ergebenden Effekte interregionaler Zusammenarbeit und interkultureller Koexistenz sind in Binnenstädten wie Zürich nicht zu erzielen.5 Deshalb dividiert sich ihre sprachliche und kulturelle Ausrichtung in das Lokale und das Globale (das heisst, grosso modo, die angelsächsischen Muster) auf. Dies ist der Sinn des Ausdrucks „Glokalismus“.

Urbanität“ als Verhaltenspuritanismus: Obenerwähnte Aversion gegen ein anderes Idiom ist, wie dem Autor sehr viel später bewusst wurde, nicht nur anerzogen oder angelernt. Tatsächlich hat ein Gutteil der sogenannten „Szene“ noch nie wirklich mit einer anderen Sprache als Zürichdeutsch zu tun gehabt.6 Das eifrige Bemühen, unbeschadet der Kleinheit der urbanen Innenstadt eine Weltmetropole sein zu wollen, schlägt sich in einem Coolseinzwang und einer lokalistisch-globalistischen Aufspreizung nieder, die sich an allem, was nicht entweder mit dem lokalistischen oder dem globalistischen Einteilungskatalog vereinbar ist, entlädt.

Wenn pausenlos mit dem regionalen Geist und den Normvorgaben des Neuen Coolen Menschen konformiert werden muss; wenn jede symbolisch-kulturelle Aktivität mit dem unmöglich realisierbaren Fernziel der Gleichwerdung mit der Imago des hippen Londoners oder New Yorkers verbunden ist: Dann verkümmert Urbanität qua dichter, pluraler Eigenmächtigkeit. Dann beginnt das Reich des Hyperprovinzialismus, und es staut sich ein enormes Frustrationspotential an, das sich an allem rächen kann, was sprachlich, mimisch, gestisch, geistig, optisch der regulativen Idee des Glokalismus im Wege steht.

Der urbane Glokalismus scheint sich phasenweise in seinem kulturellen und soziologischen Analphabetismus gegenüber allem, was jenseits der Stadtgrenze geschieht, geradezu zu sonnen. Er enthüllt die ganze Potenz des Hyperprovinzialismus, wenn er diesen Analphabetismus sogar noch zur höheren Existenzform verklärt.

Selten hat der Autor in „zivilgesellschaftlichen“ Institutionen so deutlich erfahren, wie auf Gästen ein kollektives soziokulturelles Über-Ich drücken kann, das die Subjekte an einen strikten Verhaltenscode bindet, wie ausgerechnet an denjenigen Orten Zürichs, die im Zuge von Kämpfen für Freiräume entstanden, also „Autonomie“ auf ihre Fahnen schreiben. Es dünkt einen manchmal, die Vertreibung des Katholizismus aus Zürcher Landen, die Abschaffung der Beichte, sei mit der Etablierung eines allgegenwärtigen, Heiligen Verhaltens-Geistes erkauft worden.

Jenes „Über-Wir“ aber generiert eine Kultur der Alltagskommunikation, die der Autor sonst bisher nirgends kennenlernte – sie trägt selbst im Schweizer Kontext weder eindeutig städtische noch „klassische“ provinzielle Züge, sondern ist wohl nur mit einer lokal-zwinglianischen Verhaltens„überlieferung“ zu erklären. Es lohnte sich, die bewusst akommunikative Härte der Jugendunruhen 1980 / 81 auch einmal unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Gefragt werde müsste, ob der seinerzeit starke, virulent antimodernistische und antibürgerliche, aber wenig artikulierte Strang nicht das Kind mit dem Bad ausschüttete und die zivilisierende Wirkung einer „kosmopolitischen“ Bourgeoisie rückgängig machte.

Eine Grossstadt hat die Funktion, das tägliche Psychodrama als etwas Offenes, und zwar möglichst im öffentlichen Raum, auf der Agora, walten zu lassen. Sie relativiert und verschiebt das kulturell Vorentschiedene und Verhärtete des Provinziellen und Nationalen. Dies geschieht nicht mit vorfabrizierten Multi-Kulti-„Events“, sondern konkret als Milde und Neugier gegenüber normabweichender Gestik und Mimik, neuen Inhalten und Diagnosen, unüblichem Tonfall, Andersheit der Reaktionen und Interpretationen.

Bis zu einem gewissen Grad stehen wir in Zürich also vor einer Art Mentalitätsverdrehung: Was eher dem Provinziellen zuzurechnen wäre, gilt an der Limmat als urban, und umgekehrt. Es ist bezeichnend, dass diese Tendenzen von Einheimischen so gut wie gar nicht bemerkt werden. Es waren immer wieder Auswärtige, insbesondere aber Ausländer, die mit dem Autor in dieser Hinsicht d’accord gingen. Ein in der DDR aufgewachsener Freund meinte gar einmal, Zürich sei altdeutsch.

Weder Laptop noch Lederhose!

Mit anderen Worten: der glokalistische Hyperprovinzialismus der städtischen Agglomeration ist deren medial, politisch und wissenschaftlich tonangebenden Akteuren unbekannt. Sie kennen einzig den „konventionellen“ Provinzialismus der ländlichen Regionen. Das ist, für sich gesehen, keine neue Erkenntnis. Doch der Glokalismus fördert mit seiner Eliminierung der ehemals überstädtisch-überregionalen Horizonte, mit der Aufhebung der nationalen Vermittlungsinstanzen die Zunahme des städtischen / ländlich-regionalistischen Identitywahns.

Es ist also bemerkenswert, dass der urban-lokalistische Hyperprovinzialismus nicht minder „isolationistisch“ ist als der ländliche.7 Dieser Hyperprovinzialismus wird durch den Glokalismus nicht nur forciert und legitimiert, sondern er tritt als stadtstaatlicher Provinzialismus nicht einmal mehr ins Blickfeld der Meinungsmacher. Der Hyperprovinzialismus ist etwas ähnliches wie die „Episteme“ bei Foucault, ein kognitiv nicht mehr hinterfragbarer Erkenntnishorizont, der sich mit der Zunahme des Glokalismus weiter verengt und verschliesst, bis seine Infragestellung dereinst als Signum von „Verrücktheit“, „Devianz“ etc. gelten wird. Es ist keineswegs illegitim, diesen Rückfall ins Stadtstaatentum als einen ins Mittelalter, den Feudalismus und die frühe Neuzeit zu beschreiben. Doch ein Vergleich der glokalistischen Ödnis und Wüste mit dem nicht zu unterschätzenden Pluralismus des Mittelalters, seiner Transnationalität und seines Multikulturalismus wäre eine dreiste Beleidigung des Mittelalters und seiner Menschen.

Fügen wir diesen kritischen Passagen zum urbanen Glokalismus einige Worte zu seinem Komplement, dem regional-regionalistischen Glokalismus hinzu.

Der in den 60er und 70er Jahren entstandene Regionalismus verknüpfte das legitime Aufbegehren gegen den Zentralismus nicht nur mit sprachlich-kulturellen, sondern meist auch mit linken Ideen der Selbstverwaltung und der Ökologie. Der baskische Regionalismus oder Nationalismus verband den Kampf für die Erhaltung der eigenen Sprache und Kultur und gegen die zentralistische Willkür in Madrid und Paris mit sozialistischen Konzepten. Der katalanische Regionalismus profitierte vom Nimbus des Widerstands gegen den Franquismus. Robert Jungk bekundete 1976 die Hoffnung, dass die mit höherer Autonomie ausgestatteten Regionen nicht von kapitalistischem Konkurrenzdenken, sondern von sozialistischer Solidarität bestimmt würden.8

Derartige utopische Ausblicke wirken auf heutige Zeitgenossen, als stünden Äonen zwischen ihnen und uns. Jungk und die von emanzipatorischen Motiven angetriebenen Regionalisten konnten nicht ahnen, dass der Begriff des Sozialismus in den 90er Jahren dem allgemeinen Gelächter anheimfallen würde.

Die Regionalisierung selbst wurde tatsächlich durchgeführt, und der Region als „Brand“ geht es grossartig. Aber sie setzte sich weniger dank der politischen Arbeit von Graswurzelbewegungen durch als aufgrund der „Entelechie“ der EU, die auf die Errichtung eines Europas der Regionen abzielt: „Diejenigen, die diese ‚Dezentralisierung‘ politischer Macht ausschliesslich als einen Beweis für zunehmende Massstabsverkleinerung anführen, übersehen übrigens, wie wir glauben, die Tatsache, dass die Initiative für eine Dezentralisierung in den letzten Jahren gerade häufig von der zentralen Gewalt ausging.“9

Inzwischen fusst selbst der katalanische Regionalismus in erster Linie auf ökonomischem Egoismus, der sich in der Weigerung, für Transferzahlungen zugunsten der ärmeren Regionen aufzukommen, ausdrückt. Das norditalienische „Padanien“ Umberto Bossis und seiner Lega Nord beruhte von Beginn weg auf der Denunziation des „diebischen Roms“ („Roma ladrona“). Dass es nicht selten eher ökonomische als historische und geographische Zusammenhänge, sind, die Regionen konstituieren, zeigt sich etwa daran, dass inzwischen auch Mittelitalien zum Einflussgebiet der Lega Nord gehört:10 „Was hat es mit diesem Begriff der Region auf sich, dessen Bedeutungsgehalt sich innerhalb weniger Jahre derart wandeln kann, dass hinter der regionalen Parole heute eine bunte Versammlung von folkloristischen Heimatschützern, erfolgreichen High-Tech-Unternehmen, dem Ethnopluralismus verschriebenen Neuen Rechten, Europamanagern, mitteleuropäischen Separatisten, grünen Anhängern der Recycling-Wirtschaft und enttäuschten Internationalisten steht?“11

Seinen prototypischen Slogan fand der regionale Glokalismus in der Bemerkung des deutschen Ministerpräsidenten Roman Herzog aus dem Jahre 1998, Bayern sei eine „Symbiose von Lederhose und Laptop“ gelungen. Die Formel wurde in „Laptop und Lederhose“ umgewandelt, insbesondere von Edmund Stoiber gerne eingesetzt und fand rasch grosse Verbreitung.

Dem können wir nur entgegensetzen: Weder Lederhose noch Laptop! Zum einen verweigern wir die dominierende, kommerziell-populistische Verhunzung populärer Kultur und deren Einsperren in die Trachtenbewegung des 19. Und 20. Jahrhunderts. Zum andern können wir uns über den Umstand, dass inzwischen auch noch die unsinnigste App für Computer oder Handys in den Medien ganz ernsthaft besprochen wird, nur noch maliziös lachen.12

Wer in den letzten Jahren das sich kontinuierlich verschlechternde Verhältnis zwischen den Halbkantonen Basel-Stadt und Baselland beobachtet, muss selbst vor dem Hintergrund des exzessiven Föderalismus der Schweiz staunen: Wohl nirgends in diesem Land bekämpfen sich Städter und Landbewohner mit einer solchen Gehässigkeit, die – mit Verlaub – manchmal ans Infantile grenzt.

Es versteht sich von selbst, dass ich als Bewohner Basels und als Linker fast durchwegs auf der Seite der Städter stehe. Doch ich bin ein durch Zürich genug gebranntes Kind, um nicht in die Falle einer Überidentifikation zu tappen. Und dafür gibt es auch handfeste Gründe.

Nehmen wir als Beispiel den Historiker Georg Kreis, Mitglied der wirtschaftsliberalen FDP. Er gehört zu den Historikern, denen es hoch anzurechnen ist, dass sie die mythische Schweizer Geschichtsschreibung, die unsereiner in der Schule noch lernen musste, entmythifiziert hat. Weniger Freude bereitet es, wenn man Kreis’ heutige Stellungnahmen liest, die er fast wöchentlich in der Basler Tageswoche13 publizieren darf: Er will die direkte Demokratie einschränken, sieht die Globalisierung positiv, sieht in der Einwanderung von 80’000 Personen jährlich in die bereits zerbaute Schweiz kein Problem,14 verlangt einen EU-Beitritt der Schweiz, verharmlost Islam und Islamisierung im Stile einer islamischen oder islamistischen Pressure Group und verlangt mit seinem Think Tank Club Hevétique die aktive Schweizer Unterstützung von NATO-Kriegen.15 Georg Kreis vereinigt in einer Person den globalisierungsfreudigen, europhilen und islamophilen Glokalismus.

Stellen wir uns nun einen Arbeiter, Handwerker oder einfachen Angestellten vor, der im ländlichen Oberbaselbiet lebt (die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass es sich um einen Menschen mit Migrationshintergrund handelt). „Globalisierung“ und EU werden bei ihm nicht sehr hoch im Ansehen stehen, denn sie implizieren den freien Handel von Arbeitskraft und mithin die Möglichkeit, von Arbeitern mit tieferem Lohnniveau konkurrenziert zu werden. Dem Islam wird er bestenfalls indifferent gegenüberstehen. Doch angesichts der politischen und ideologischen Signale, die die Stadt aussendet, wird er für sie nicht allzuviel Wohlwollen entwickeln und, was entscheidend ist: Zwischen den dortigen Linken, Linksliberalen und Neoliberalen wird er kaum noch unterscheiden. Was den Support für die NATO anbelangt, enthalten wir uns eines Kommentars …

Der Fortschritt, den der (inter-)nationale Horizont zumindest der Intention nach implizierte, wird im Glokalismus wieder sistiert. Stadt und ländliche Region ziehen sich zurück ins jeweilige, selbstzufriedene „mia san mia“. Der Bundesstaat Schweiz bewegt sich zurück zum hyperprovinziellen Staatenbund.

Es ist medial und politologisch üblich geworden, die rechtspopulistische SVP, stärkste Partei der Schweiz, mit der Bezeichnung „nationalkonservativ“ zu versehen. Lassen wir uns kurz auf eine kleine Analyse ein. Falls mit „national“ hier die Hybris gemeint ist, die darin besteht, zu meinen, Schweizer würden alles überall und immer besser machen, oder die Schweizer seien „freier“ (sic) als andere Nationen, ist der Ausdruck angemessen. Ist damit gemeint, dass die SVP keinen Beitritt zur EU und keine NATOfreundliche Lockerung der Neutralität will, so trifft dies zu – doch wer würde der Partei in dieser Frage ernsthaft einen Vorwurf machen?

Bezieht sich das „national“ hingegen auf Geschichte und Funktion des Schweizer Nationalstaates, wird der Begriff schwammig, wenn nicht irreführend. Ähnlich wie im vorwilhelminischen Deutschland waren es in der Schweiz gerade nicht die konservativen Kreise, die für einen starken Nationalstaat gegenüber der lokalistischen und regionalen Willkür eintraten. Würde die SVP die Geschicke dieses Landes leiten, kann es keinen Zweifel daran geben, dass sie die Schweiz zurück zum Staatenbund des Ancien Régime verwandeln würde. Selbst die Kantone sind dieser Partei zu „gross“ und „zentralistisch“ – alle Macht den Gemeinden und dem Lokalismus! Es ist zudem eine Illusion, zu denken, die SVP würde sich ganz „national“ nur an einheimischen ideologischen Traditionen orientieren – das ist eine Karikatur. Die Bewunderung der SVP-Exponenten etwa für Maggie Thatcher ist grenzenlos, und ihre Politik, hätten sie eine absolute Mehrheit, würde sich an derjenigen der UKIP oder der texanischen Republikaner orientieren. Die meisten SVPler sind anglophil-amerikanolatrische Glokalisten.

Ist die SVP wirklich „konservativ“? Wer noch ernsthaft glaubt, diese Partei sei antihedonistisch oder wertkonservativ, lebt in vorpasolinischen und -foucaultinischen Denkkategorien, die besagen, dass das Regime noch immer auf der Repression von z. B. sexueller „Devianz“ fusst.

Was den allfälligen Kulturkonservatismus anbelangt, so muss über diese Hypothese wohl kaum ein Gedanke verschwendet werden. Diese Leute stehen AC/DC näher als Beethoven (Beethoven ist zu links) und würden nur zu gerne jede öffentliche Unterstützung für „E-Kultur“ abschaffen.

Es ist letztlich nicht so, dass die Verwendung des Begriffs des Nationalkonservatismus in diesem Kontext grundsätzlich stören würde. Störend ist eher, wie inflationär und mit welcher Insistenz er gebraucht wird. Diese Beharrlichkeit ist keineswegs unschuldig. Sie vernebelt nämlich die Sicht auf das eigentliche „Genom“ dieser Partei, d. h. den gnadenlosen Neoliberalismus und Sozialdarwinismus. Die SVP ist Fleisch vom Fleisch der dunklen Geschichte des Liberalismus. Könnte sie widerstandslos regieren, würde der Nationalstaat zum reinen Nachtwächterstaat, und der Sozialstaat würde völlig demontiert und der Willkür von Lokalmatadoren überlassen. Das Existenzminimum würde auf Essen, Trinken und einem Dach über dem Kopf hinunterdefiniert (wobei man sich selbst bei Letzterem nicht mehr ganz sicher ist).

Der Musiker Hanns Eisler befand, wer nur von Musik etwas verstehe, verstehe auch davon nichts. Exakt dies trifft auf den regionalen bzw. urbanen Glokalismus zu. Wer nur von seiner Region etwas versteht, von überregional-nationalen Koordinaten nichts mehr wissen will und sich stattdessen kompensatorisch nur noch an den globalistisch-angelsächsischen Patterns orientiert, wird auch die eigene Region nie wirklich verstehen und demnach auch die Welt nicht. Wer in Imitation der Hyperbourgeoisie nur noch seine Stadt und die behüteten und coolen Teile von Metropolen kennt und jeden Blick über die Stadt hinaus ablehnt, das heisst die regional-nationalen Koordinaten nicht mehr kennt, wird auch die internationalen Koordinaten nie wirklich kennen – er wird demnach auch nur ein Zerrbild seiner Stadt besitzen.


1 Es wird erzählt, ein Tourist habe sich an der Bahnhofstrasse erkundigt, wo denn nun die Downtown sei.

2 Eine mögliche Erklärung hierfür ist Freuds Diagnose des „Narzissmus der kleinsten Differenz“. Freud ist zuzustimmen, wenn er diesen Narzissmus in die Nähe des Antisemitismus rückt. Der dominierende Glokalismus ist insofern eine Vorform des Faschismus, als er den fehlenden Willen ausdrückt, selbst die nächsten Nachbarn zu verstehen. Der Glokalismus fördert systematisch die Stammesidentität.

3 Es sei betont, dass diese Beobachtungen nur für das Zürich der zweiten Hälfte der achtziger bis zu den ersten nuller Jahren gilt. Wie ich höre, hat sich einiges zum Besseren gewandelt.

4 Rudolf M. Lüscher, Einbruch in den gewöhnlichen Ablauf der Ereignisse, Zürich 1984, p. 131

5 „Offenheit“ und „Fortschrittlichkeit“ des Zürcher Freisinns (des politischen Liberalismus) hatten bereits im 19. Jahrhundert (also «binnenliberal») ihre Grenzen: „Auch die Errichtung des Bundesstaates 1848 bedeutete somit nicht, dass Zürich seine regionalen Interessen einfach aufgab. Die Vereinheitlichung von Mass und Gewicht, Währung und Zollwesen, an der zürcherische Staatsmänner in führender Stellung mitgewirkt hatten, schuf zwar den verfassungsrechtlichen Rahmen, in welchem die allmähliche Verschmelzung der einzelnen Landesteile zu einer einheitlichen Vokswirtschaft stattfinden könne. Aber gerade Zürich verwahrte sich mit Entschiedenheit dagegen, dass dieser Prozess durch weitergehende Zentralisation künstlich beschleunigt würde. (…) Während nämlich die Berner Radikalen unter der Führung Stämpflis ein schweizerisches Eisenbahnnetz befürworteten und 1863 sogar auf eigene Faust eine Art zentraler Notenbank mit Zweigniederlassungen in den wichtigsten Schweizerstädten gründeten (die Eidgenössische Bank), lehnte das von Alfred Escher vertretene liberale Zürich es deutlich ab, sich in überstürzte gesamtschweizerische Kombinationen einzulassen.“ Zürich – Stadt und Land (Klaus Sulzer), Zürich 1952, p. 71

6 Das wird dadurch ermöglicht, dass der Raum Zürich, etwa im Vergleich zur „eigentlichen“ östlichen Schweiz oder zur Nordwestschweiz dialektal weitgehend homogenisiert ist.

7 In Frankreich wird den dominierten Schichten Tag für Tag vorgeworfen, sie betrieben einen „repli sur soi“ (Rückzug auf sich selbst). Unerörtert bleibt bei diesen Vorwürfen jeweils, wie es um die Abschottung des Pariser Establishments steht, das radikal dem europhilen und islamophilen Glokalismus frönt und sich seit rund 30 Jahren vom eigenen Land abgrenzt wie wohl keine Elite in ganz Europa. Die Unwissenheit der Pariser Führungsschichten in bezug auf die Vorgänge im eigenen Land sind eklatant und ein typisches Kennzeichen des „urbanen“ Hyperprovinzialismus. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es noch immer keine brauchbaren wissenschaftlichen Analysen der Gründe für die Erfolge des Front National. Dies wird solange so bleiben, als die Wissenschaftler nicht imstande oder schon nur bereit sind, ihre eigene, partikulare Ideologie zu objektivieren. Ein Fortschritt ist in dieser Hinsicht nicht zu erwarten, würde eine solche Objektivierung doch zutage fördern, dass die glokalistische, europhile und islamophile Ideologie und ihre desaströsen Folgen in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zum Aufstieg des Front National stehen.

8 Robert Jungk, in: Tintenfische, Bd. 10, Regionalismus, Berlin 1976

9 Hans van der Loo, Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradoxon, München 1992, p. 246

10 In einem gewissen Sinn gilt dies auch für die Schweiz. Verwirrung stiftet hier die vom Bund vorgenommene Neudefinition des Mittellandes und weiterer Grossregionen. Während die Schulen, ganz der Topographie verpflichtet, das Mittelland als das Flachland zwischen Jura und Alpen definierten, das sich von Genf bis nach Rorschach erstreckt, sieht der Bund das anders. Neu gehören zum Mittelland die Kantone Bern, Freiburg, Solothurn, Neuenburg und Jura. Ein Wirtschaftsverband namens Espace Mittelland, der zum Rohrkrepierer wurde, umfasste neben diesen Kantonen noch die Waadt und das Wallis (sic). Seither haben Meteorologen das Ihrige zur allgemeinen Verwirrung beigetragen. Wenn heute vom Mittelland die Rede ist, ist allenfalls klar, dass grosse Teile der Kantone Aargau, Bern und Solothurn dazugehören. Darüber hinaus weiss allerdings kein Mensch mehr, was das ominöse „Mittelland“ bedeutet.

11 Lothar Baier, Abschied vom Regionalismus,in: Freibeuter 49, Spanien – abseits von innen, Berlin 1991, p.14.

12 Man erinnert sich an das Amüsement über die damaligen Vedia-Kataloge, die nebst viel Kitsch die kuriosesten Gadgets anboten, deren Eigenschaft darin bestand, den Alltag scheinbar zu vereinfachen, ihn aber verkomplizierten. In einer dadaistischen Betrachtungsweise waren einige dieser Gerätschaften allerdings wahre Kunstwerke. Die heutigen Pendants zu diesen Gadgets und Gimmicks sind die Apps, die dafür verantwortlich sind, dass der Handygebrauch in der öffentlichen Sphäre derart invasiv ist. Bemerkenswert bei vielen dieser Apps ist die Verschmelzung von Selbst- und Umgebungskontrolle: Das Subjekt ist permanent daran, sich selbst und die Umgebung abzumessen, zu verrechnen, zu kategorisieren.

13 Bei der Tageswoche handelt es sich um eine Basler Wochenzeitung, die als Reaktion auf die Übernahme der Basler Zeitung durch Rechtspopulisten und Neoliberale lanciert wurde.

14 Zwar hat die Linke völlig recht, wenn sie diese Zersiedelung auf die wirtschaftsliberale Weigerung, eine nationale und rationelle Raumplanung ins Leben zu rufen, zurückführt – eine solche Planung hätte bereits in den Siebzigern greifen müssen. Doch eine Nettozuwanderung von 80’000 Menschen stellt so oder so eine langfristig nicht verkraftbare Herausforderung dar. Zudem vergisst die Linke ihre antimoderne und grüne Vergangenheit. Noch in den neunziger Jahren ist die linksgrüne Zürcher Regierung unter Ursula Koch offensiv gegen höhere Bauten eingetreten. Noch heute gibt es Zürcher Quartiere, die weniger dicht besiedelt sind als gewisse verachtete Agglomerationen.

15 Es ist in einer Stadt wie Basel fast ein Ding der Unmöglichkeit, vernünftig über den Islam zu diskutieren. Die Basler Glokalisten vertreten die irrige Meinung, das Zusammenleben mit dem Islam gestalte sich überall wie in Basel oder den besseren Quartieren von Paris oder London. Besonders dogmatisch verhalten sich Angestellte der Hochschule: Eine Basler Philosophin beschied dem Autor, er habe nicht die Kompetenz, über den Islam zu sprechen. (Vgl. zu diesem Reflex Siegried Kohlhammer, Islam und Toleranz, Springe 2011.) Ein Basler Soziologe brachte dem Autor einmal in einem Wutanfall bei, dass es nirgends in Europa Islamisierungsphänomene gebe – dies im Jahr … 2010! Erneut zeigen sich die fatalen Auswirkungen der urbanen Form des Glokalismus, der nicht mehr über die privilegierten oder „coolen“ Quartiere der Metropolen hinausdenkt. Es enthüllt aber auch die ausgeprägten repressiven und autoritaristischen Züge der kulturrelativistisch-postmodernistisch gewendeten Pseudolinken.


* Die ungekürzte Version dieses Textes, die insbesondere die spezifischen Formen des anglophil-amerikanolatrischen und des europhilen Glokalismus bespricht, ist hier aufzurufen.


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