Zerstörung und Transformation des Gemeinwesens*

Die nunmehr mehrere Jahrzehnte währende neoliberale Dominanz hat deutliche Spuren in der Verfasstheit des Gemeinwesens, der Res Publicae, hinterlassen. Ideologisch hat sich Thatchers Losung, wonach es keine Gesellschaften, sondern nur (noch) Individuen gebe, als Leitbild eines Individualismus egoistischer Subjekte verankert. Dies ging in vielen Ländern Hand in Hand mit einer höchst realen Erosion des Gemeinwesens: Privatisierungen öffentlicher Dienste, Deregulierungen und dem Abbau sozialer Sicherungssysteme.

Doch nicht erst mit der Finanzkrise 2008 dämmerte es auch jenseits der Linken immer mehr Menschen, dass diese neoliberale Zersetzung des Öffentlichen nicht nur soziale Verwerfungen nach sich zieht, sondern auch die Funktionsfähigkeit der modernen Gesellschaften und damit letztlich auch der Kapitalverwertung selbst in Frage stellt.

Wie präsentiert sich diese Gemengelage heute? Deregulierung, Privatisierung, Kommodifizierung und Liberalisierung ohne Grenzen? Hat der Neoliberalismus die Tendenz, die Res Publicae in einem Mass zu zersetzen, mit dem selbst die Macht des Kapitals untergraben wird, wie dies Beat Ringger in einer grundlegenden Analyse darlegt? Res Publicae wird dabei grundsätzlich nicht mit dem Staat als solchem gleichgesetzt, obgleich auch der Staat teil der Res Publicae sein kann.

Bernhard Walpen schaut sich die diesbezüglichen Konzepte neoliberaler und neokonservativer Strategen an und sieht von dieser Seite nichts, was der prognostizierten Entwicklung entgegenwirken könnte. Verschwindet also gar der Staat, wie dies Pit Wuhrer am Beispiel der Privatisierungen öffentlicher Güter Grossbritanniens darlegt? Endet der Neoliberalismus gar im Totalanarchismus und „schafft die Demokratie ab“, wie dies Stefan Giger mit Blick auf die Folgen der neuen Handelsverträge TISA, TTIP prognostiziert?

Von einem Rückzug des Staates im Zuge der neoliberalen Dominanz könne allerdings überhaupt nicht die Rede sein, so die theoretisch an Poulantzas angelehnte Diagnose von John Kannankulam. Der Staat habe einen Formwandel vollzogen und ermögliche als autoritärer Staat überhaupt erst die neoliberale Mobilmachung. Auch Bernhard Walpen und Beat Ringger sehen staatliche Institutionen nicht in der Auflösung begriffen. Allerdings verkämen sie im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Verwaltung, Kontroll- und Evaluierungsprämissen zu gigantischen, intransparenten Bürokratien, die ihrerseits die Zersetzung des Demokratischen forcieren.

Welche Kräfte und Tendenzen stehen diesem Zerfall der Demokratie, für die oftmals der Begriff Postdemokratie verwendet wird, entgegen? Auf welchen Bedingungen beruht ein freies Gemeinwesen, welches mehr oder weniger für die Freiheit der Einzelnen Voraussetzung ist? Kann eine „Erneuerung des demokratischen Prozesses“ gelingen, wie ihn Chantal Mouffe in ihrer Kritik am Verschwinden einer sozialdemokratischen Systemalternative einfordert? Mehr Demokratie fordert auch Pascal Zwicky, der allerdings die Notwendigkeit sieht das Leiden der Menschen nicht nur in traditionellen Kategorien sozialer Ungleichheit, sondern auch in den vielfachen Entfremdungserfahrungen erschöpfter Individuen zu erkennen. Kann aber Demokratie überhaupt (noch) ein linkes Projekt sein, selbst wenn es in einem internationalistischen Kontext – etwa im Rahmen des von Roland Herzog vorgeschlagenen Konzepts der Föderalen Republik Europa – entwickelt würde? Oder ist Demokratie strukturell mit (Klassen-)Herrschaft verwoben?

David Salomon zeigt in seiner historischen Darstellung auf, dass Demokratie immer von einem Doppelcharakter gekennzeichnet war. Einerseits diente sie der Konsolidierung bürgerlichen Klassenherrschaft, andererseits behielt sie das Momentum der Subversion in sich. Demokratiekritik war dabei stets Kritik des „uneingelösten Versprechens“ einer bloss formal definierten Demokratie freier und gleicher Rechtssubjekte, so Urs Marti-Brandner.

Ohne eine inhaltliche Fundierung als wirtschaftliche und soziale Demokratie bleibe Demokratie stets unvollendet. Dieses strukturelle Defizit bildet den Kern einer Demokratiekritik, die letztlich auf eine Verwirklichung des Demokratieversprechens durch die Überwindung jener Schranken abzielt, die bestimmten Gruppen die volle Ausübung der Freiheits- und Mitbestimmungsversprechen der Moderne bislang verwehrten. Die feministische Demokratiekritik – siehe hierzu die die Beiträge von Birgit Sauer und Stefanie Wöhl – zeigt, weshalb ohne diese Transformationen Demokratie auch heute noch ein androzentrisches Konzept ist.

Lorenz Glatz kritisiert jedoch diese Argumentation. Das Ausspielen des Ideals gegenüber einer schlechten Wirklichkeit der Demokratie sei Ideologie. Demokratie sei „die Einbeziehung des ganzen Volks als eines von Politik und Ökonomie durchorganisierten Haufens in Organisation, Betrieb und Leitung der Staaten und der Wirtschaft“ und deshalb untrennbar mit der Konkurrenz verbunden. Die Suche nach einer neuen Form der Gestaltung und Mitwirkung könne nur zusammen mit der Überwindung der existierenden sozioökonomischen Formen – Demokratie inbegriffen – gelingen.

Ganz anders argumentieren demgegenüber die Autoren Roland Herzog, Beat Ringger und Pascal Zwicky, die trotz der mit Klassenherrschaft verbundenen Geschichte der Demokratie an dessen subversiven Potential festhalten wollen. Es zeige sich heute gar immer mehr, wie eine umfassend verstandene Demokratie in unversöhnlichen Widerspruch zur Kapitalverwertung gerate und auf eine Überwindung des Kapitalismus dränge.

All diese Widersprüche und Fragen, die sich in den unterschiedlichen Beiträgen und auch den unterschiedlichen Begriffsbildungen widerspiegeln, zeigen, dass das alte Thema der Demokratie gerade aufgrund der komplexen sozioökonomischen Umbrüche unserer Zeit eine Kontroverse benötigt. Dieser Sammelband ist in diesem Sinne einmal mehr als ein Verständigungsprozess zu verstehen. Das Denknetz hat deshalb über diesen Jahrbuchschwerpunkt hinaus die Frage der Demokratie auf die Agenda gesetzt und einen Demokratiezyklus mit Diskussionsbeiträgen, Workshops und Tagungen begonnen. Mehr hierzu unter www.denknetz.ch: „Demokratie als Notwendigkeit und Programm“.

Beiträge von Sarah Schilliger, Marina Richter, Ueli Hostettler, Heinz Gabathuler, Robert Fluder, Oliver Hümbelin, Benn Jahn und Hans Baumann ausserhalb des Schwerpunktes runden das elfte Denknetz-Jahrbuch 2015 ab. Wir danken an dieser Stelle dem Verlag Edition 8 für die gute Zusammenarbeit, insbesondere der Lektorin Jeannine Horni sowie dem Geschäftsführer Heinz Scheidegger.


Hans Baumann, Roland Herzog, Beat Ringger, Holger Schatz (Hg.): Zerstörung und Transformation des Gemeinwesens. Denknetz-Jahrbuch 2015, 216 S. Edition 9, Zürich.


* Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Editorial des Denknetz-Jahrbuchs 2015.


Das Denknetz ist ein Forum für den Austausch zu aktuellen Themen aus Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik. Es ist den Grundwerten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verpflichtet. Das Denknetz konstatiert zunehmende soziale Ungleichheiten und eine Tendenz zur Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Es will die Mechanismen dieser Dynamik besser verstehen und Alternativen erkunden und diskutieren. Jedes Jahr wird ein Jahrbuch mit Texten von AutorInnen aus dem Umfeld des Denknetzes herausgegeben. Die Texte spiegeln die Diskussionsschwerpunkte des Denknetzes im laufenden Jahr wieder.




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