Finanzmacht – Geldpolitik*

Die «Griechenlandkrise» wirft grelle Schlaglichter auf den Zustand der europäischen Währungsunion, auf die internationale Finanzarchitektur und das neueste Stadium des Finanzkapitalismus. Die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften im Euroraum haben zu chronischen Leistungsbilanzüberschüssen auf der einen und zu gigantischen Defiziten auf der anderen Seite geführt. Die Schuldenwirtschaft gibt den Vollstreckern des Finanzkapitals, der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), EU-Kommission und Europäischer Zentralbank (EZB), die Gelegenheit, die Schuldnerländer «abzuwickeln», sie mit Strukturanpassungen zu disziplinieren, demokratische Institutionen auszuhebeln und breite Bevölkerungskreise ihrer Existenzgrundlagen zu berauben.

Dabei sind die sogenannten Rettungsmilliarden an Griechenland, wie zuvor bei anderen verschuldeten Staaten, hauptsächlich in den Schuldendienst und die Rettung der Privatbanken geflossen, wie es Linken-Politiker Gregor Gysi in seiner Rede zur Euro-Debatte im deutschen Bundestag Anfang Juli auf den Punkt brachte. Die Austeritätsprogramme der Troika haben Griechenlands Krise nur verschärft, und das Land wird die Schulden ohne einen Schuldenschnitt niemals begleichen können. Die Verantwortlichen der Eurogruppe und viele Regierungen, insbesondere die deutsche Koalitionsregierung aus Christ- und SozialdemokratInnen, verschliessen sich dieser Realität.

Es ist höchste Zeit, die Sparprogramme abzubrechen und Schulden zu streichen. Dazu rufen zahlreiche prominente WirtschaftswissenschaftlerInnen und selbst ehemalige Mitglieder der EU-Kommission nachdrücklich auf. Linke PolitikerInnen und Europaabgeordnete fordern ein Ende der gewalttätigen Einschüchterungspolitik gegenüber verschuldeten Staaten. Für die regierenden Machteliten – gleich welcher politischen Richtung – scheint es heute weitaus akzeptabler zu sein, massenhaft Verarmte in Suppenküchen abzuspeisen als etwa den Schuldendienst infrage zu stellen. Ein demokratisches Referendum gegen das Spardiktat, wie von der griechischen Linksregierung Anfang Juli 2015 eingeleitet, kommt für sie einer Kriegserklärung gleich. Dabei sind sie es, die über Jahrzehnte mit griechischen Regierungen und Oligarchen problemlos zusammengearbeitet und toleriert hatten, dass Korruption, Steuerhinterziehung und Kapitalflucht den öffentlichen Dienst aushöhlten und die Schulden anschwellen liessen.

Das deutliche «Oxi» (61 Prozent Nein) der griechischen Bevölkerung vom Juli 2015 ist als Antwort auf das neoliberale «There is no alternative» zu verstehen: als Votum, sich eine europäische Alternative zur Austerität vorzustellen. Dass die Troika den Austeritätskurs ohne Schuldenschnitt dennoch fortsetzen will, zeigt, mit welcher Macht ein Wirtschaftsmodell verteidigt wird, das die Krise erst herbeigeführt hat. Mit den Worten Heiner Flassbecks: «Da sind politische Mechanismen am Werke, die mit der ökonomischen Vernunft schon lange nichts mehr zu tun haben.» (Schweiz am Sonntag, 15.7.2015)

Umso dringlicher wird es, dem Durchmarsch des global agierenden Finanzkapitals, der EU-Bürokratie und der regierenden Machteliten demokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Die griechische Linke wird das allein nicht schaffen, genauso wenig wie die Linke eines anderen Landes, es braucht die solidarische Unterstützung aller fortschrittlichen Kräfte. Und es braucht die Debatte über eine europäische Alternative, die sich nicht durch nationale Interessen und finanztechnische Sachzwänge lähmen lässt.

Auch in der Schweiz sind Währung und Geldpolitik stärker ins Zentrum politischer Debatten gerückt. Der finanzpolitische Autoritarismus, der vorgeblich neutrale technische Mechanismen ausserhalb von demokratischen Prozessen und gegen die Interessen der Bevölkerung durchsetzt, ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 auch hierzulande deutlicher spürbar geworden. Mit ihrem Entscheid vom 15. Januar 2015, den Frankenkurs im Verhältnis zum Euro freizugeben, versetzt die Schweizerische Nationalbank (SNB) der wirtschaftlichen Basis der exportierenden Industrie und des Tourismus einen Schlag – und liefert vielen Unternehmen den Vorwand, Arbeitsplätze abzubauen und die Arbeitspensen zu erhöhen. Das nun absehbare rezessive Wirtschaftsszenario hat einen bürgerlichen Schulterschluss zwischen Politik und Wirtschaft begünstigt. Ziel ist, die aktuelle Unsicherheit zu nutzen, Beschäftigungsverhältnisse wie Sozialstaat umzubauen und Kosten auf private Care-Arbeit abzuwälzen. Die Ereignisse machen deutlich, welche Macht die Geld- und die Finanzpolitik besitzen und welche Effekte sie auslösen. Dies weckt Erinnerungen an frühere handstreichartige Aktionen von Finanzbürokratie und Finanzindustrie, etwa an die Dutzende Milliarden schwere «Rettung» der Grossbank UBS, die im Jahr 2008 an Parlament und politischer Öffentlichkeit vorbei beschlossen und eingeleitet wurde. Klar wird ausserdem, dass sich weder eine «nationale» Geld- und Bankenpolitik noch eine wirtschaftspolitische Abschottung der Operationsweise des globalen Finanzkapitals entziehen kann.

Das Widerspruch-Heft 66 nimmt die Zuspitzung der finanzwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen zum Anlass, Fragen der Geld-, Währungs- und Finanzpolitik zu diskutieren: ihre Verflechtung mit Machtstrukturen, ihre theoretischen Grundlagen, ihre institutionellen Formen und ihre Folgen für die wirtschaftliche Existenz. Gute Gründe sprechen für diesen Themenschwerpunkt. Zum einen werden Debatten über Geld- und Währungspolitik in der Linken nicht systematisch geführt; Geldwirtschaft gilt vielfach noch als Nebenaspekt der Realwirtschaft, mit dem man sich nur befasst, wenn akute Finanzmarktexzesse und -krisen dazu nötigen. Also ist intensiver Austausch über Finanzmärkte, über ihre Crashtendenzen, über internationale Finanzinstitutionen, über Währungssysteme und über die politisch-ideologischen Grundlagen der Zentralbanktätigkeit vonnöten. Undurchsichtige Strukturen und Schockwirkungen machen es selbst für ExpertInnen zeitweise unmöglich, den Überblick zu behalten. Zum anderen sind bei aller Kritik an der Finanztechnokratie fundierte Einschätzungen dazu gefragt, wofür Geldpolitik verantwortlich zu machen ist und wofür nicht, und was alternative Ansätze zu Geldtheorie und Geldpolitik aus linker Sicht überhaupt bewirken könnten. Die monetaristischen Lehrgebäude, auf die sich AkteurInnen der Geldpolitik berufen, sind dabei Teil des Problems, aber ihre Bekämpfung allein wird es nicht lösen. Auch Zentralbanken sind gezwungen, in der Finanzkrise ihr monetaristisches Lehrbuch zur Seite zu legen und zu improvisieren, weil ihre Modelle nicht mehr greifen.

Eine erste Gruppe von Beiträgen befasst sich mit internationalen Finanzmärkten, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Währungsunion. Mascha Madörin rekonstruiert die unterschiedlichen Positionen, die zwei Exponenten der griechischen Syriza zur Währungsunion und zum möglichen Austritt Griechenlands vertreten. Sie gibt damit Impulse für einen «linken makroökonomischen Dialog» zur Zentralbankpolitik und zur Währungsunion. Dem Beitrag folgt ein kurzer Kommentar von Elmar Altvater zu den Ereignissen in der «Griechenlandkrise» Anfang Juli. In einer Momentaufnahme des Krisenverlaufs zeigt er, wie die Staatsschulden für die Erpressung Griechenlands instrumentalisiert wurden und welche Rolle die Geldpolitik der EZB in diesem Machtkampf spielte. Er macht die EU-Führung und die deutsche Regierung dafür verantwortlich, das Projekt eines demokratischen und sozialen Europas zu zerstören. Hans-Jürgen Bieling und Mathis Heinrich zeigen für die Periode seit Ausbruch der Finanzkrise 2007, wie die EZB an Macht gewinnt, wie sie ihre neue Rolle wahrnimmt und welche wirtschaftlichen und politischen Folgen heute absehbar sind. Für Frank Bsirske und Klaus Busch mehren sich die Anzeichen, dass sich an den internationalen Finanzmärkten neue Ungleichgewichte aufbauen und die Gefahr eines neuen Zusammenbruchs droht.

Die aktuelle Praxis der SNB steht im Fokus einer zweiten Gruppe von Beiträgen. Hintergründe und Folgen des Wechselkursentscheids werden kontrovers diskutiert. Daniel Lampart analysiert die Währungs- und Zinspolitik der SNB über die letzten Jahrzehnte, attestiert ihr eine relative Stabilität und plädiert für die Rückkehr zu einer klaren Wechselkurssteuerung, damit volkswirtschaftliche Schäden vermieden werden. Werner Vontobel benennt ebenfalls die ruinösen Folgen der SNB-Politik; er plädiert jedoch für wirtschaftspolitische Strukturreformen, die aus der aktuellen Fixierung auf die schweizerische Exportindustrie herausführen und einen alternativen Wachstumspfad ermöglichen. Corrado Pardini übt scharfe Kritik am Entscheid der SNB, der die Deindustrialisierung der Schweiz beschleunige; er fragt nach der «heimlichen Agenda» der Bürgerlichen und schlägt eine neue Industriepolitik vor, die auf den sozialen und ökologischen Umbau des Sektors zielt. Regula Rytz schliesslich rückt die Währungspolitik der SNB in den Zusammenhang politischer Offensiven von rechten Parteien und Wirtschaftsverbänden; sie zeigt aber auch die Risse und Brüche des angekündigten Schulterschlusses, die linke Interventionen ermöglichen.

Weitere Beiträge fragen nach der Funktion von Kreditgeld, nach dem Einfluss des Monetarismus und nach Geldreformen. Peter Streckeisen untersucht die Rolle der Zentralbanken und die Karrieremuster von SNB-Direktoriumsmitgliedern; er zeigt, dass ihre geldpolitische Praxis sich nach Bedarf von monetaristischen Theoriedogmen entfernt und die Monetarismuskritik deshalb zu kurz greift. Aaron Sahr erläutert, wie das private Kreditgeldsystem wirtschaftliches Wachstum ermöglicht und welche Risiken die ungebremste Geldschöpfung an den Finanzmärkten bringt; er diskutiert Ansätze einer politisch gesteuerten Geldschöpfung, so die Vollgeld-Theorie und die Modern Monetary Theory. Philipp Löpfe blickt zurück auf die grossen Bankenkrisen der letzten Jahrzehnte, sieht grosse Gefahren in der aufgeblähten Geldmenge und der lockeren Geldpolitik der Zentralbanken und diskutiert die Chancen einer Geldreform nach dem Vollgeld-Ansatz.

Der Diskussionsteil vereinigt Reflexionen zum Rechtspopulismus, zum Verhältnis von Gleichstellung und Wirtschaftszielen, zur Care-Arbeit und zur soziologischen Biografieforschung. Guido Hischier fragt nach der gesellschaftlichen Basis des Rechtspopulismus und sieht in seinem Aufschwung eine bedrohliche Herausforderung für Demokratie und Rechtsstaat in der Schweiz. Für Simona Isler und Anja Peter gerät Frauenarbeit zunehmend unter wirtschaftlichen Druck; sie skizzieren die Besonderheiten und die existenzielle Unabdingbarkeit der Sorge- und Versorgungsarbeit, die daher der kapitalistischen Logik zu entziehen sei. Lucia M. Lanfranconi konstatiert, dass Gleichstellung der Geschlechter in der Wirtschaft nur noch unter Nutzenaspekten eine Chance zu haben scheint, und sie sieht darin eine Gefährdung der Gleichstellungspolitik insgesamt. Saskia Jaeggi und Ueli Mäder zeigen am Beispiel ausgewählter Gefängnisbriefe von Antonio Gramsci, wie mit Methoden der soziologischen Biografieforschung über das Individuelle hinaus gesellschaftliche Konventionen und Machtstrukturen sichtbar gemacht werden. Ein Rezensionsessay zu Louis Althussers Das Kapital lesen, ein Tagungsbericht zum Thema Lohn für Hausarbeit und verschiedene Besprechungen zu Geldpolitik und weiteren Themen runden das Heft ab.

Die Tausenden von Toten im Mittelmeer und die teilweise zynische Antwort der europäischen Regierungen haben die Redaktion veranlasst, das Heft mit einem Text aus dem politischen Cabaret zu beginnen, der sich gegen die menschenverachtende Migrationspolitik in Europa und der Schweiz wendet.


* Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Editorial der 66. Ausgabe der Zeitschrift WIDERSPRUCH.


Der WIDERSPRUCH ist eine seit 1981 halbjährlich erscheinende Schweizer Zeitschrift. Sie ist politisch unabhängig von Parteien, Organisationen und Institutionen und bietet eine Plattform für offene und kritische Debatten, die von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Arbeits- und Forschungskontexten, aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, aus Politik, Kultur und Wissenschaft im In- und Ausland genutzt wird.




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