Gründungszeit ohne Eidgenossen. Eine kritische Betrachtung

Die meisten Teilnehmer haben in ihrer Schulzeit vermutlich ein Bild von der Entstehung der Eidgenossenschaft mitbekommen, das vom Gründungsmythos um die gewaltsame Befreiung der freiheitsdurstigen Tal-Leute der Waldstätte vom drückenden habsburgischen Joch (Gessler!) handelt, der zum Sturm auf die habsburgischen Zwingburgen führte und im Rütlischwur der „Drei Eidgenossen“ kulminierte, dem angeblichen Freiheitsbrief von 1291, der sogenannten Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft. Diese „Urschweizerischen Befreiungstradition“ mit Wilhelm Tell und dem bösen Habsburger Vogt Gessler taucht allerdings erst sehr spät auf – nämlich erstmals im „Weissen Buch“ von Sarnen von 1474 des Obwaldner Landschreibers Hans Schriber. Dieses war obendrein lange verschollen und wurde übrigens erst 1854 wiederentdeckt.

Man beachte: Für fast zwei Jahrhunderte nach den angeblichen Ereignissen von 1291 wusste kein Zeitgenosse von diesen. Inzwischen können wir längst auch erkennen, warum: Es gab sie nämlich gar nicht, ausser dem Brief selber. Insbesondere die Geschichte vom Burgenbruch – einer gleichzeitigen Zerstörungsaktion aller Zwingburgen der habsburgischen Unterdrücker – ist inzwischen widerlegt, durch die Archäologie: Werner Meyer von der Universität Basel hat alle wichtigen Innerschweizer Burgstellen untersuchen lassen und festgestellt, dass sie zu sehr unterschiedlichen Zeiten zerstört oder schlicht aufgeben wurden, teils vor, teils lange nach, nur nie im Jahre 1291. Abgesehen davon handelte es sich meistens um bescheidene Wohntürme, in denen Dienstmannen sassen – und keine Hochadeligen Zwingherren. Genügend Raum für die – zur militärischen Beherrschung einer Bevölkerung notwendigen – Besatzungstruppen war ohnehin keiner vorhanden.

Nicht besser steht es um die angebliche Gründungsurkunde der Schweiz: dem Bundesbrief von 1291. Er ging sofort vergessen und auch die Urkunde selber blieb verschollen. Selbst der Begründer der „Urschweizer Befreiungstradition“, der Chronist des „Weissen Buches“ kennt sie nicht. Erst 1758 wurde sie von einem Gelehrten im Archivturm in Schwyz entdeckt, ohne dass sie aber damals grosses Aufsehen erregte. Es hat auch nur das Schwyzer Exemplar überlebt, und man fragt sich wo die Urner und Unterwaldner Exemplare geblieben sind, falls es sie überhaupt gegeben hat. Auch nehmen alle späteren Bundesbriefe, die sonst stets an ihre Vorgängern anknüpfen, keinen Bezug auf ihn, nicht einmal derjenige mit Zürich, der nur zwei Monate später verfasst wurde (16. Oktober 1291).

Es ist nicht zu übersehen, dass wir uns mitten im grossen eidgenössischen Jubeljahr befinden: Morgarten 1315, Marignano 1515, Wiener Kongress 1815. Ebenso wenig, dass die nationale Rechte um ihre Chefideologen Blocher, Mörgeli und neuerdings auch Köppel diese Jubiläen benutzt, um ihr Geschichtsbild von dem seit Jahrhunderten vorhandenen bedingungslosen Freiheits- und Unabhängigkeitswillen der Schweizer zu propagieren und die quellenkritische Geschichtswissenschaft als heimatmüde, wenn nicht gar als geistigen Landesverrat zu denunzieren.

Nach der Entstehung der modernen Schweiz, dem (höchst progressiven) Bundesstaat von 1848, entwickelte sich im Zeitalter der aufblühenden und konkurrierenden Nationalismen – die kleine demokratische Republik war von mächtigen Monarchien umzingelt – das Bedürfnis nach einem identitätsstiftenden Geschichtsmythos. Im angeblichen Freiheitskampf der innerschweizer Bauern gegen die fremde Übermacht der Habsburger (Ausländer!) wurde er dann auch gefunden. Die zeitgenössische Demokratie wurde – schon im 19. Jhdt., nicht erst heute – in die Vergangenheit zurückprojiziert und freiheitsdürstende Bauern erfunden, die in der Story als die gute In-Group fungierten, während die angeblich sadistischen Handlanger des ausländischen Adels die Rolle der bösen Outgroup übernehmen durften.

Völlig unterging dabei die schlichte Tatsache, dass auch in der Innerschweiz wie überall sonst feudale Verhältnisse herrschten, es keinen adelsfreien Raum gab. Nur wegen der politischen und ökonomischen Bedeutungslosigkeit der Region handelte es sich um Hochadlige mit beschränktem Grundbesitz – wie etwa die von Attinghausen, an deren Burgruine im Reusstal vorbei noch heute jedermann nach Süden fährt. Die literarische Version des Nationaldramas hatte ja bereits ein Deutscher geliefert (Schiller, „Wilhelm Tell“). In diesem Geist wurde dann auch am 1. August 1891 die 600-Jahrfeier der Gründung der Eidgenossenschaft gefeiert, nachdem die vaterländische Geschichtsschreibung den bisher historisch bedeutungslosen Brief endgültig zur Gründungsurkunde erklärt hatte. Zwar schieden Gessler und Tell aus der Geschichtsschreibung bald wieder aus, aber noch während des 2. Weltkrieges unternahm der Zürcher Ordinarius für Schweizer Geschichte Karl Meyer den hoffnungslosen Versuch, sie für die Wissenschaft zu retten.

Im Zeitalter der nationalsozialistischen Bedrohung wurde im Namen der geistigen Landesverteidigung dieses mythologische Geschichtsbild erneut reaktiviert. 1936 wurde dem vermeintlichen Bundesbrief von 1291 ein richtiger Schrein errichtet, das Bundesbriefarchiv, wo er wie auf einem Altar ausgestellt wurde. Inzwischen ist diese Inszenierung einer nüchternen Präsentation gewichen. Gegenwärtig erlebt dieses mythologische Geschichtsbild ein drittes come back durch die nationale Rechte um die SVP, die ihre Vision von einer selbstgenügenden Schweiz, die auf niemanden angewiesen ist – „Der Starke ist am Mächtigsten allein.“ – einfach ins feudale Mittelalter zurückprojiziert. Während die Rolle der bösen Habsburger Schurken im ersten Fall von Hitlers Drittem Reich eingenommen wurde, ist es heute die EU, gegen die die selbsternannten Tellensöhne heroisch antreten. So kann deren Präsident Brunner allen Ernstes den Geist vom 1. August 1291 beschwören, an dem die heimatmüde Schweizer Demokratie der Europaturbos wieder genesen solle. In schöner Unkenntnis dessen, dass es in Wahrheit lokale Kleinadlige waren, darunter brave habsburgische Dienstmannen, die diese Vereinbarung trafen, um angesichts der nicht mehr vorhandenen der Zentralgewalt – der deutsche König war eben gestorben – ein Minimum an öffentlicher Sicherheit zu garantieren. Es ging darum, dass Privatkriege nicht ausufern und nicht alles in Schutt und Asche legen, dass reisende Kaufleute nicht ständig riskieren müssen, auf offener Strasse überfallen zu werden. Dies ist die wirkliche Bedeutung: ein Landfriedensbündnis, wie es damals Dutzende gegeben hat, sonst meistens zwischen Städten geschlossen, die ein besonderes Interesse am Fernhandel besassen. Heute haben wir zur Sicherung des öffentlichen Raumes die Polizei. Speziell ist allein, dass das Landfriedensbündnis von 1291 als einziges bis zum heutigen Tag weiterbesteht, wenn auch in etwas veränderter Form. Eidgenossenschaften gab es vor der schweizerischen ebenfalls einige, z.B. die burgundische von 1243 zwischen den Städten Bern und Freiburg oder der Rheinische Bund von 1254-7, dem auch Basel und Zürich angehörten. Die schweizerische ist auch wieder die einzige, die bis in die Gegenwart überlebt hat, wenigstens im offiziellen Staatsnamen.

Ich werde nun die Geschichte erzählen, wie sie die moderne Geschichtsschreibung, auch die schweizerische, ausnahmslos vertritt.

Voraussetzungen: der äussere Rahmen, der mittelalterliche Feudalismus

Die Entstehungsgeschichte der Schweiz ist nicht verständlich ohne Kenntnis des feudalen Gesellschaftssystems des Mittelalters: des Lehenswesens. Ohne eine Vorstellung von Feudalismus läuft man Gefahr, moderne Begriffe wie Volk, Freiheit und Demokratie zurück ins Mittelalter zu projizieren. Es sei denn, dies sei aus ideologischen Gründen a priori beabsichtigt.

Mit dem Untergang des römischen Reiches ging auch seine hochentwickelte und differenzierte Produktionsweise unter, die eine städtische Güterproduktion und eine in Grossgütern („Latifundien“) organisierte Agrarwirtschaft kannte. Die Wirtschaft fiel zurück auf, was man die Urproduktion nennt: die Bebauung des Bodens. Der Handel ist weitgehend eingeschlafen, mit ihm die Geldwirtschaft, die handwerkliche Produktion reduzierte sich auf die Herstellung elementarer Gebrauchsgegenstände. Durch diese „Verbauerung“ von Wirtschaft und Gesellschaft verschoben sich die Machtzentren von der Stadt aufs Land. Die neuen oder eben: Feudalherren sassen auf sogenannten Herrenhöfen und später auf ihren Adelsburgen. Das Bildungsniveau sank so stark, dass kaum jemand mehr lesen und schreiben konnte – ausser dem Klerus.

Im Zentrum des Feudalismus steht die Verfügungsgewalt über den Boden, die Grundherrschaft. Seine Bebauer, die Menschen sind letztlich blosse Anhängsel – ähnlich wie später Marx den Industriearbeiter als Anhängsel der Maschine gesehen hat. Der Boden ist nicht Privatbesitz – und schon gar nicht Kapital. Insofern hat er auch keinen Preis. Er „gehört“ strenggenommen nicht einmal dem König, der an der Spitze der feudalistischen Gesellschaftspyramide steht, dem Lehensgeber. Er „lehnt“ das Land einzelnen Adligen für die Dienste – meistens Kriegsdienste – die sie ihm erweisen, als Lehen (lateinisch: feudum). Nach ihrem Tod nimmt er es wieder zurück, um es dann wieder weiter zu verleihen. Weil es sich nicht um Grundbesitz im modernen (= bürgerlichen) Sinne handelt, spricht man von Grundherrschaft. Sie umfasst spezifische, komplexe Rechtsformen und Abhängigkeitsverhältnisse, die die Feudalgesellschaft in verschiedene Klassen unterteilen: der grundbesitzende Adel – Hochadel und Dienstadel – und der unterschiedlichen Formen der Unfreiheit, in denen die Bevölkerungsmasse der Bauern gehalten wurde: vom Status der sogenannten Eigenleute bis hin zur Leibeigenschaft. Freie Bauern, die eigenen Boden bewirtschaften, gab es kaum. Das Lehenswesen verdankt sich auch der Tatsache, dass der König über keinen Staatsapparat verfügt. Eine Hauptstadt als Sitz der Verwaltung gibt es auch keine. Er regierte als Halbnomade, indem er mit seiner kleinen Verwaltungsmannschaft von Pfalz zu Pfalz reiste, die dann für kurze Zeit den Regierungssitz bildeten. Dort hielt er Hof und entschied Streithändel. Wer etwas von ihm wollte, der begab sich dorthin und trug sein Anliegen vor.

Bei der Grundherrschaft handelt sich um eine extreme Form von Klassengesellschaft und Ausbeutung, die obendrein durch die christliche Religion als gottgegeben legitimiert wird. Die Obrigkeit war von Gott eingesetzt, und ihr den geschuldeten Gehorsam zu verweigern oder sich gar gegen sie aufzulehnen, war eine Sünde wider Gott.

Das Territorium der heutigen Schweiz gehörte, als alles anfing, zum mittelalterlichen Kaiserreich (Heiliges römisches Reich, seit 1512 mit Zusatz: deutscher Nation), das sich, wie der Name sagt, als Nachfolger des Imperium Romanum verstand. Es war ein sehr heterogenes Gebilde von feudalen Territorien höchst unterschiedlicher Grösse, die das Bild eines Flickenteppichs ergeben, umso mehr als Bodenbesitz und dazugehörige Herrschaftsrechte (Gerichte, Steuern, Zölle, Kirchensätze, Personen) sich längst nicht immer in denselben Händen befanden. An der Spitze stand der Kaiser, der seit Karl dem Grossen vom Papst in Rom gekrönt werden musste, wenn er nicht bloss König bleiben wollte. Er verfügte nominell über das ganze Reichsgebiet und reichte es an seine Vasallen für geleistete Dienste weiter und nahm es nach deren Tod wieder zurück. Soweit die Theorie. Die von ihm Beglückten strebten allerdings schon früh danach, diese blosse Leihgabe definitiv in Besitz zu nehmen, um sie als Eigengut (Allod) ihren Erben hinterlassen zu können. Eine Kompromissbildung war das Erblehen, das vom Vater auf den Sohn weiterging. So entstanden mit der Zeit Dynastien, gräfliche und herzogliche. Sie versuchten, ihre Hausmacht stetig zu erweitern und aus diesen zerstreuten Besitztümern und Herrschaftsrechten ein einheitliches Gebilde zu schaffen – in Richtung eines modernen Territorial- oder Flächenstaates. Lücken schliessen, hiess ihre Parole, der Erwerb von Gerichtsbarkeiten und Vogteirechte dienten dabei als Vehikel.

Gegliedert war das Reich in Herzogtümer. Die Innerschweiz gehörte zum Herzogtum Schwaben, und Zürich galt früh als die vornehmste Stadt Schwabens: „Nobile Turegum multarum copia rerum“ (Otto von Freising) – nicht zuletzt wegen seiner beiden Münster, vor allem des Fraumünsters, einer königlichen Stiftung Ludwig des Deutschen 853 für seine Tochter, und der königlichen Pfalz auf dem Lindenhof.

Begünstigt wurde die Tendenz, Lehen in Eigengüter zu verwandeln, durch das 23jährige Interregnum nach dem Tod Friederich II 1250, des letzten grossen Staufers, der nochmals die Idee eines umfassenden Kaisertums durchzusetzen versuchte, und prompt mit den Herrschaftsansprüchen des Papsttums in Konflikt geriet. Dieser Konflikt zwischen den beiden höchsten Gewalten wird während Jahrhunderten weiterschwelen – in Gestalt einer kaiserlichen (die Ghibellinen) und einer päpstlichen Partei (der Guelfen). Eine gänzlich kaiser- oder königslose Zeit im Wortsinn war es jedoch nicht. Die jeweils Gewählten (Wilhelm von Holland, Richard von Cornwall, Alfons von Kastilien) konnten schlicht ihren Herrschaftsanspruch nicht durchsetzen, was eine Schwächung von Ruhe und Ordnung und ein Erstarken der lokalen Dynastien bedeutete. Erst mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum König (1273) kürte die Versammlung der wahlberechtigten Reichsfürsten schliesslich einen valablen Nachfolger des grossen Staufers, der seiner Rolle gerecht wurde. Er war der erste Habsburger auf dem Thron. Ihm folgten im 14. Jhdt. mehrere andere nach, allerdings unterbrochen durch Könige aus anderen Dynastien (Luxemburger, Bayern). Seit dem Jahr 1438 war der deutsche König/Kaiser jedoch stets ein Habsburger. Die Habsburger betraten die grosse Bühne spät und stiegen rasch zu einer überregionalen Bedeutung auf. Sie waren hauptsächlich im Elsass, wo sie auch herkommen, und im Gebiet ihrer Stammburg begütert, also im heutigen Aargau.

Neben den hochadeligen Grundherren gab es Klöster, denen diese Herren Grundbesitz und Herrschaftsrechte stifteten, um ihr Seelenheil zu befördern. Die Klöster übernahmen damit die Rolle von Feudalherren und übten Herrschaftsgewalt aus, allerdings indirekt durch die dem Rittertum entstammende Verwalter (Meier!) und wurden beschützt durch Vögte (von Lateinisch advocatus), die wiederum denselben adligen Kreisen wie die Stifter entstammten. So sind die Habsburger seit dem Aussterben der Rapperswiler 1283 Kastvögte des Klosters Einsiedeln, aber keineswegs der ganzen Waldstätte, wie die Befreiungstradition und ihre aktuellen Nachbeter suggerieren.

Mit dem allmählichen Niedergang der Grundherrschaft wird sich das wirtschaftliche Schwergewicht wieder zurück in die Städte verschieben: Sobald nicht mehr zur Hauptsache für die Selbstversorgung produziert wird, sondern für den Markt, braucht es Marktorte, dort wo die Konsumenten leben – und beides findet sich in den Städten. Hier werden die wertvollsten Produkte hergestellt, die Münzen für die zunehmende Geldwirtschaft geprägt und der Fernhandel organisiert. Bereits seit dem 12. Jhdt. treten zunehmend Städte als politische Mitspieler auf den Plan, die den Kaiser/König um die Reichsunmittelbarkeit ersuchen und damit als freie Reichsstädte ohne adelige Zwischenherren weitgehend souverän handeln können – wie Zürich seit 1218, als mit dem Aussterben der Zähringer die Reichsvogtei Zürich erlosch. Dieses come back der Städte lässt Handel und Bildungswesen wieder aufblühen, womit auch das Bildungsmonopol der Kirche durchbrochen wird. Den Ausgang genommen hat es in Norditalien, als sich eine Reihe von Städten zu einem Städtebund namens „Lega lombarda“ zusammenschloss.

Der Anfang der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft fällt in diese Übergangszeit, wenn sich die feudale Grundherrschaft wieder aufzulösen beginnt und adelige Dynastien längst eigene Territorien besitzen und sie zu vergrössern trachten – und darin Städte gründen. Mit dem wieder erstarkenden Handel ergibt sich auch ein gesteigertes Interesse an der öffentlichen Sicherheit, oder wie man es damals nannte, des Landfriedens. Der Handel kann nur florieren, wenn die reisenden Kaufleute einigermassen sicher sein können, dass sie unterwegs nicht überfallen werden, sondern ihre Waren unversehrt an den Bestimmungsort bringen – und sie ihr Leben nicht unterwegs verlieren. Eine Rinderherde auf den Rindermarkt nach Zürich zu treiben, bedeutet ein tiefes Reisetempo, das sie zu einer leichten Beute für Wegelagerer macht.

Voraussetzungen: die Innerschweiz im Hochmittelalter

Die Bezeichnung „Waldstätte“ bedeutet schlicht, dass es anfänglich sehr viel Wald in der Innerschweiz gab, und das Siedlungsgebiet diesem zuerst durch mühselige Rodungsarbeit abgerungen werden musste. Seine Böden waren wenig zahlreich und wenig fruchtbar, Strassen fehlten, Städte gab es keine. Kurz: eine abgelegene und wenig attraktive Ecke. Sie liegt teils in der voralpinen, teils aber auch in der alpinen Zone, am Rand des Mittellands, das damals (wie heute) viel dichter besiedelt war und dank besserer Böden eine weit höhere agrarische und sonstige Produktion hervorbrachte. Es konnte daher auch wesentlich mehr Menschen ernähren, insbesondere auch die von Adel. Es war nämlich Heimat und Wirkungsfeld einiger hochadeligen Familien: neben den Habsburgern im Westen die Savoyer, die Zähringer (bis 1218), im Norden und Osten die Frohburger, die Lenzburger (bis 1173), die Kyburger (bis 1264) und die Herren von Rapperswil (bis 1283).

Diese Dynastien, benannt nach ihren Stammburgen, betätigten sich auch als Städtegründer, mit dem grössten Erfolg die Zähringer: als Gründer von Bern und Freiburg (im Uechtland). Aber auch die Kyburger (Winterthur, Aarau, Zug), die Habsburger (Bremgarten, Baden, Brugg, Laufenburg) und die Froburger (Olten, Aarburg, Liestal) reihen sich unter diese Städtegründer ein. Diese Neugründungen liegen fast ausnahmslos im Mittelland und gesellen sich zu den bisherigen, seit Jahrhunderten bestehenden Städte wie Basel oder Zürich, die aus römischen (oder gar keltischen) Gründungen erwuchsen. Sie dokumentieren den langsamen Übergang vom sich in Auflösung begriffenen Grundherrschaft zum Zeitalter der städtischen Bürger, den die Feudalherren selber einleiten. Der Adel verlässt seine Burgen auf dem Land und lässt sich in den Städten nieder, baut sich dort Residenzen wie die Habsburger in Wien, mit der Hofburg.

Dieses come back der Städte als zweite – neue – Zentren der Macht und der Wirtschaft wird bei der Entstehung der Eidgenossenschaft eine wichtige Rolle spielen, denn sie wird ja aus einer Partnerschaft zwischen Ländern und Städten bestehen. In der Schweiz sind dies zur Hauptsache Zürich und Bern.

Die erwähnten Dynastien verfügten auch im Bereich Innerschweiz über Besitz und Rechte, die sie zu vermehren trachten – aber für keine stellte sie den Schwerpunkt ihrer Begehrlichkeiten dar. Wenn der Vorhang über der Entstehungsgeschichte aufgeht, zeigt sich das auch hier das gewohnte Bild eines verwirrlichen Flickenteppichs von Grundbesitz und Herrschaftsrechten. Dominant sind nicht die dynastischen Feudalherren, sondern die klösterlichen. In den Waldstätten besass primär das adelige Fraumünsterstift (Zürich) beträchtliche Güter, vor allem in Uri, ferner das Zisterzienserkloster Wettingen, die Benediktiner von Disentis (deren Einfluss über den Oberalppass nach Ursern reichte), aber vor allem die lokalen Benediktinerklöster Engelberg und Einsiedeln, sowie das Luzerner Kloster im Hof.

Was die Dynastien betrifft, so sind wiederum nicht die Habsburger dominant. Die Lenzburger besassen die Grafschaftsrechte über die drei Waldstätte, machten davon aber keinen Gebrauch. Grundbesitz besassen sie in Obwalden und Schwyz, die Herren von Rapperswil in Uri, die Frohburger in Schwyz und Unterwalden, und die Kyburger an der Grenze zum Talbecken von Schwyz (Arth und die Burg Schwanau im Lauerzersee). Die Habsburger waren ursprünglich hauptsächlich in Unterwalden begütert.

Weil hintereinander alle diese „Schweizer“ Dynastien ausser den fortpflanzungsstarken Habsburger ausstarben, erbten diese praktischerweise deren Territorien und Herrschaftsrechte, im Mittelland wie auch in den Waldstätten. Auch nachdem sie die anderen Dynastien beerbt hatten, bemüssigten sie sich keinen energischen Zugriffs auf die Innerschweiz. Sie errichteten keine militärischen Stützpunkte, von denen aus sie das Gebiet hätten beherrschen können. Sie bauten in Unterwalden keine Burg als landesherrliches Machtzentrum, in Schwyz und Uri erst recht nicht, wo es überhaupt keine habsburgischen Burgengründungen gibt. Ohnehin zerfällt die Dynastie inzwischen in zwei Linien, die alte und Habsburg-Laufenburg. Immerhin erwirbt 1244 ein Laufenburger vom Fraumünster Zürich ein Stück Land bei Meggen und errichtet eine Burg mit dem programmatischen Namen „Neu-Habsburg“. Die Funktion als Verwaltungszentrum für die Waldstätte sollte sie jedoch nie ausüben, und 1351 wurde sie von den Luzernern zerstört.

Neben diesem Grundbesitz des nicht ortsansässigen Hochadels und dem klösterlichen fällt derjenige des lokalen Hochadels wenig ins Gewicht. Als grössere Grundherren sind eigentlich nur die Herren von Attinghausen fassbar. Was daneben an Grundeigentum noch bleibt, wenn überhaupt, sind kleinräumige, zersplitterte Ländereien, die sich auf Dienstadlige und (anfänglich) wenige nichtadlige, aber freie Grossbauern verteilen. Viele von diesen einheimischen Magnatenfamilien sind übrigens in irgendeiner Form mit den Habsburgern verbunden, als Inhaber von Lehen, als Klosterleute unter der habsburgischer Kastvogtei, als Besitzer von Gütern auf habsburgischem Hoheitsgebiet ausserhalb der Waldstätte – und zählen damit zu den Habsburg freundlich Gesinnten.

Ein genauer Überblick über die Besitzverhältnisse um 1300 ist aufgrund des lückenhaften Urkundenmaterials ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Tendenz hingegen ist klar erkennbar: Während sich die Territorien des Hochadels zunehmend verringerten (durch Erbteilungen, Mitgiften für zu verheiratende Töchter, aufwendige standesgemässe Hofhaltung, die zum Verkauf von Eigengütern aus Geldmangel zwingen), vermehrte sich der klösterliche Grundbesitz und bildete zunehmend einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor. Der feudale Kirchenbesitz war auch privilegiert, indem er unter religiösem Schutz stand: Er konnte gegebenenfalls vom Bischof oder sogar Papst mit Hilfe von Exkommunikation und Kirchenbann machtvoll gegen potenzielle Usurpatoren verteidigt werden.

Den weltlichen Feudalherren und auch den nichtadeligen Freien bleibt daher häufig das Nachsehen, was eine Quelle potenzieller Konflikte darstellt. Prototypisch hierfür ist der Marchenstreit um die klösterlichen Alpen Einsiedelns im Quellgebiet der Sihl: Auf der Suche nach zusätzlichen Weidegründen verliessen die Schwyzer Älpler schon früh ihren zu eng gewordenen Talkessel und stiegen über die Mythenpässe (Ibergeregg, Haggenegg, Holzegg), um ihr Vieh auf den klösterlichen Alpen zu sömmern, wobei sie die Klosterleute mit Gewalt vertrieben, manchmal mit Mord und Totschlag. Diese seit Jahrhunderten andauernden Grenzstreitigkeiten oder vielmehr Nutzungskonflikte führten 1311 zu einem Schiedsgerichtsverfahren in Zürich, zu dem der Abt von Einsiedeln eine ellenlange Liste von 131 (!) Klagen beisteuerte („Klagerodel“). Das Schiedsgericht verlangte von den Schwyzern, sich vom Klosterland zurück zu ziehen, was sie jedoch verweigerten. Der Konflikt gipfelte schliesslich im Januar 1314 darin, dass die Schwyzer unter der Führung ihres Landammans Werner Stauffacher das Kloster überfielen, die Mönche malträtierten und gefangen nahmen, sowie auf den Altar schissen. „Es gibt ein Volk, das kein Volk ist, Menschen, die nicht Menschen genannt werden können, sondern wilde Tiere. Es bewohnt das Tal, dessen Namen Schwyz sein soll,“ schreibt eines der Opfer, der Schulmeister des Klosters Rudolf von Radegg (Meyer 1994:82).

Dieser Streit oder vielmehr dessen unrühmliche Krönung, der Überfall auf das Kloster, ist denn auch einer der wichtigen Auslöser der folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen: die Habsburger waren die Klostervögte, die sich dies nicht bieten lassen durften, um ihren Ruf als verlässliche Beschützer nicht zu verspielen. Die unflätigen Schwyzer traf prompt ein solcher Kirchenbann, verfügt vom Bischof von Konstanz. Er beeindruckte sie allerdings wenig.

Allein als armes Opfer kann man die klösterlichen Feudalherren von Einsiedeln nicht sehen, weil sie (wie alle anderen Herren auch) der Vergrösserung ihrer Macht und ihrer finanziellen Einkünfte frönten. Bibelworte wie „selig sind die Armen“ und „eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel“ waren ihrem Bewusstsein fern. Gedanken über die Lebensgrundlagen der einfachen Bauern, die sie mit ihrer expandierenden Viehzucht gefährdeten, machten sie sich kaum, obwohl ja alleweil deren geistliche Hirten waren. Klöster wie Einsiedeln trieben die Umstellung auf Viehzucht und die Käseproduktion voran, wozu viel Weideland benötigt wurde, das sie von Pächtern in sogenannten Schweighöfen bewirtschaften liessen. Gleichzeitig verfügte Einsiedeln über einen Amtshof in der Stadt Zürich (an Stelle des heutigen Zunfthauses zur Meisen), über den sie ihre Produkte leicht auch ausserhalb der Innerschweiz hinaus vermarkten konnten.

Wie erwähnt, waren die drei Waldstätte ein dünnbesiedeltes, städteloses, armes, wenig fruchtbares und gebirgiges Randgebiet. Obendrein lag es verkehrsmässig an einer Sackgasse. Es ist anfänglich allein die Geographie, die sie verbindet: Sie sind allesamt Anrainer an demselben See, der heute noch so heisst, nachdem Luzern als vierte Waldstätte dazu gekommen ist: Vierwaldstättersee. Den Namen haben sie nicht sich selber gegeben, sondern es war die Verfassungspolitik des Reiches, die Uri, Schwyz und Unterwalden 1309 zu einer gemeinsame Verwaltungseinheit zusammenfügte – als sogenannte Reichsvogtei. Ein einheitsstiftendes Moment liegt allenfalls darin, dass sie – wie auch Zürich – zum Bistum Konstanz gehören. Kein einheitsstiftendes Moment besteht hingegen darin, dass sie gemeinsam unter dem habsburgischen Joch ächzten.

In diesem armen Land gibt es für die die sie nominell beherrschenden Feudalgewalten, also die erwähnten Hochadelsdynastien und Klöster, ursprünglich – als vor der Umstellung auf die Viehwirtschaft – nicht viel zu holen. Entsprechend gering ist das hochadlige Interesse der nobiles, sie bleiben auf ihren (relativ) bequemen Burgen im Mittelland sitzen und lassen, wenn überhaupt, durch Mittelsmänner regieren. Diese Dienstleute stellten den sogenannten Ministerialadel dar, der in den bescheidenen Wohntürmen zu Hause ist. Der heutige Tourist erkennt das an der geringen Burgendichte in der Innerschweiz und an deren bescheidenen Dimensionen: Diese vom Gründungsmythos als Zwingburgen titulierten Wohntürme hätten niemals genügend Platz für eine Garnison geboten, wie sie erforderlich wäre, um das Land militärisch zu kontrollieren (wie er es vorgaukelt). Deshalb bleiben Interventionen von aussen weitgehend aus.

Die Tal-Leute dürfen ihr karges Bauernleben ungestört führen. Die meisten von ihnen sind keine Rechtspersonen „freien Standes“, sondern in irgendeiner Rechtsform an ihre feudalen Dienstherren gekettet, als Eigenleute, Hörige oder Leibeigene. Die Landwirtschaft ist wenig produktiv und dient allein der Selbstversorgung, der Getreideanbau liefert aufgrund der wenig fruchtbaren Böden nur karge Ernten. Die Milchwirtschaft stellt nur die Ernährung der lokalen Bevölkerung einigermassen sicher. Marktort fehlen ebenfalls: Die Talbewohner sind auf durchreisende Händler angewiesen oder stellen ihre Gebrauchsgegenstände selber her, wie sie auch ihre bescheidenen Häuser eigenhändig bauen. Einheimisches Handwerk von einiger Kunstfertigkeit entwickelte sich erst im Spätmittelalter in den grösseren Orten wie Altdorf, Schwyz, Einsiedeln. Die materielle und geistige Kultur ist auf einem bescheidenen Niveau, Schriftlichkeit ist fast ausschliesslich in den Klöstern zu Hause. Wenn ein Nicht-Kleriker der Schreibkunst mächtig ist, kann aus dieser Seltenheit der Geschlechtsname Schreiber entspriessen, wie in Uri im 13. Jhdt. (Schreiber von Arth! Vorfahre von Ehefrau Nr 2 des Autors).

Die Bergtäler liegen auch an keinem Durchgangskorridor, die Handelswege über die Alpen verliefen anderswo: Julier, Septimer, San Bernardino, Lukmanier, Grosser St. Bernhard. Über diese Pässe reiste auch der König mit seinem Gefolge, wenn er sich in Rom zum Kaiser krönen lassen wollte. Von dem seit dem 12. Jhdt. zunehmenden Warenverkehr zwischen den beiden wirtschaftlich erfolgreichsten Städtelandschaften Italien und Flandern, die auf einander angewiesen waren (die einen hatten die Farbe, die anderen die Wolle), profitierte die Innerschweiz vorläufig nicht. Im Norden gab es daneben Pelze, Leinen, Metalle, im Süden Pfeffer, Seide, Zucker und Edelsteine. Der Gotthard war noch nicht in Betrieb, weil die Schöllenenschlucht als unüberwindbar galt.

Das änderte sich nach 1200 (vielleicht erst um 1230), womit die kürzeste Nord-Südverbindung zwischen dem Oberrheingebiet und der Lombardei entstand, der Transport von Gütern und Personen über die Alpen wesentlich erleichtert wurde und die Transportkosten entsprechend sanken. Sie verschaffte den Talleuten (primär den Urner, aber nur den Besitzenden unter ihnen) eine neue Einnahmequelle als Säumer. Aber auch eine neue Verantwortung, denn sie mussten jetzt für die Sicherheit der Reisenden und ihrer kostbaren Handelswaren garantieren können. Hier meldet sich das Interesse für eine gemeinsame Sicherung des Landfriedens an, das später den Hintergrund für die Bundesbriefe bildet.

Der neu eröffnete Gotthardweg entwickelt sich allerdings erst gegen das Ende des 13. Jhdts. zu einer Hauptachse des Alpentransits. Es entsteht eine entsprechende Infrastruktur mit Susten, Wechselstationen für die Reit- und Lasttiere, Tavernen und einem Hospiz auf der Passhöhe, aber auch mit Wehrtürmen für die militärische Sicherung. Der Transport ist das Monopol professioneller Säumergenossenschaften (Flüelen, Silenen und Wassen), deren Mitglieder Gemeindegenossen mit Alp- und Allmendanteilen sein müssen. Sie sind jeweils für den Wegabschnitt auf ihrem Gemeindegebiet zuständig. Ein Tragtier meistert eine Last von 150 Kilos. Bereits 1237 sind erstmals entsprechende Statuten in Osco/Leventina nachweisbar. Die Leventina bildet mit dem Bleniotal einen Teil des Herzogtums Mailand, gehört aber dem Domkapitel Mailand, das den Tal-Leuten erstaunlich viele kommunale Freiheiten lässt. Im Jahre 1311 rühmt sich ein lombardischer Kaufmann vom Lago Maggiore, er habe den Gotthard schon weit mehr als hundert Male überquert.

Nachdem die Urner 1331 einen militärischen Feldzug in die Leventina unternommen hatten, einigen sich die Talschaften auf beiden Passseiten, Urner und Ursener mit den Leventinern, auf den regelmässigen Unterhalt der Strassen und Brücken. Ein Säumer aus den südlichen Tälern darf seine Fracht bis Flüelen, ein Urner seine bis Bellinzona begleiten. Dass sich der neue Transitweg etabliert, verdankt sich vor allem der Stadt Mailand unter den Visconti als Herzögen. Die grosse Handelsmetropole nimmt ein lebhaftes Interesse am Gotthard und 1315 schickt eine Delegation, die mit Habsburg und den nordalpinen Städten über die Sicherheit ihrer Kaufleute und über die Höhe der Wegzölle verhandelt. Bereits jetzt erkennt man in den Waldstätten, vor allem bei den Urnern, wie nützlich und profitabel die Kontrolle des Gotthardweges auch auf seiner Südseite wäre. So wird es auch kommen: Die Leventiner werden die Freiheiten, die sie sich gegen die Mailander Feudalherren erkämpf haben, am Ende an die freiheitsliebenden Urner verlieren. Trotzdem darf man die Bedeutung des Gotthards nicht überschätzen, bis zum Ende des 15. Jhdts. wiesen Bündner und die Westalpenpässe weit höhere Frequenzen auf, der Brenner ohnehin, der sich seit der Mitte des 14. Jhdts. unter habsburgischer Kontrolle befindet.

Mit der Eröffnung des Gotthardpasses beginnt auch der Aufstieg Luzerns zur einzigen Stadt der Innerschweiz. Vorläufig befindet sie sich im Besitz des elsässischen Klosters Murbach und, nach dem Verkauf an die Habsburger 1291, unter deren Fuchtel. Wie das grössere und ältere Zürich profitiert Luzern von seiner Lage am Ende eines Sees: Mangels adäquater Strassen verlaufen die Transportwege hauptsächlich auf den Gewässern: Rhein – Aare – Reuss – Vierwaldstättersee – Lago Maggiore oder als Alternative: Rhein – Aare – Limmat – Zugersee—Vierwaldstättersee, wobei die Güter auf den Zwischenräumen zwischen den schiffbaren Gewässern in Susten (Horgen!) auf Packtiere verladen werden müssen. In Flüelen wartet dann der königliche Zoll, der nach der Eröffnung der Gotthard-Route schöne Einkünfte garantiert. Die neue Alpentransversale zwingt die Waldstätte aber auch zu einem guten Einvernehmen mit Habsburg, denn am unteren Seeende liegt die habsburgische Stadt Luzern und könnte den lukrativen Transit jederzeit unterbinden.

Für die Waldleute sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu dieser Stadt ohnehin überlebensnotwenig: als einziger Marktort und Produktionsstätte von Gütern, die sie selber nicht herstellen können (Eisenwaren!). Umgekehrt stellen die Waldstätte für Luzern ein anspruchloses und naheliegendes Absatzgebiet dar. Ebenso verlangt der Wasserweg zwischen Luzern und dem oberen Seeende bei Flüelen nach einer Abstimmung der Zölle, wenn er wirtschaftlich interessant werden oder bleiben soll. Bereits 1332 kam es zu einem Bund mit den Eidgenossen, obwohl es damals rechtlich gesehen noch haburgisch war. In der Urkunde ist ausdrücklich festgehalten, dass dieses Bündnis die Rechte Habsburgs in keiner Weise schmälern solle. Ein Phänomen, dass sich 1352 mit Zug wiederholte, das von den Eidgenossen unter unsanftem Druck zum Beitritt genötigt wurde, und ebenfalls unter österreichischer Herrschaft stand.

Zur selben Zeit wird der wenig ertragreiche Getreideanbau an vielen Orten aufgegeben und durch Viehwirtschaft (Molkereiprodukte, vor allem Käse, Fleisch) ersetzt Dies erhöht den Druck auf die wirtschaftliche Nutzung der Alpen, bedingt auch eine gemeinsame Organisation des Alpwesens. So bildet sich eine Wirtschaft heraus, die nicht mehr allein der Selbstversorgung dient, sondern den Überschuss an tierischen Produkten (Schlachtvieh! Käse!) exportiert und dafür Getreide importiert. Für die Ernährung ihrer Bevölkerung sind die Waldstätte endgültig auf Importe angewiesen und damit vom „Ausland“ abhängig, vor allem wegen des massiv gesteigerten Salzbedarfs, den die Viehwirtschaft und die Produktion von Molkereiprodukten nach sich zieht. Schon damals war die Innerschweiz aus eigener Wirtschaftskraft nicht überlebensfähig. Ein Exportartikel stellen bald einmal auch Menschen dar, genauer: Söldner, die gerade jenseits der Alpen in den italienischen Kriegen leicht Beschäftigung finden.

Damit ist auch die bisherige Isolation der früher so einsamen Täler durchbrochen, und die Aussenwelt gerät zunehmend in den Blick. Fremde Menschen benutzen den neuen Transportweg in zunehmend grösserer Zahl, darunter viele Kaufleute und Rompilger – und mit ihnen zirkulieren Ideen, religiöse und politische. Eine besonders wichtige Idee ist die der Freiheitsbewegung der städtischen Kommunen in Norditalien (die Lega Lombarda), die sich gegen ihren Oberherrn, den Kaiser Friedrich Barbarossa verbündeten und sich sogar erlaubten, ihn in der Schlacht von Legnano zu besiegen, als er sie wieder seiner Botmässigkeit unterwerfen wollte (1176). Auch ihnen geht es um die Reichsunmittelbarkeit, nicht um die Loslösung vom Reich.

Der geistige Einfluss des italienischen Südens auf die komplexe Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft wurde lange unterschätzt. Bereits 1182 schlossen die Tal-Leute von Blenio und Leventina, die beide damals zum Herzogtum Mailand gehörten, den Pakt von Torre. In diesem garantierten sie sich wechselseitig, ihren kaiserlichen Vogt, den adligen Herrn von Torre gewaltsam zu vertreiben, seine Trutzburg in Torre zu schleifen und keinen Neubau von Burgen auf ihrem Territorium zu dulden, lange bevor die Innerschweizer vermeintlich auf die Idee kamen, sich in irgendeiner Form gegen ihre Feudalherren zu wenden. Das wirkt wie eine Vorwegnahme des fiktiven Urschweizer Befreiungskampfes gegen den bösen Habsburger Vogt, nebst Burgenbruch, nur mit italienischem Personal – und diesmal als wirkliche, durch Quellen belegte Geschichte. Der Burgturm von Torre ist tatsächlich restlos verschwunden. Die sogenannte Freiheitliebe ist keine Exklusivität der Innerschweizer, sondern liegt im damaligen Zeitgeist begründet..

Folgeschwer ist auch, dass mit dem sich verstärkenden Handel über den Gotthard das in den lombardischen Städten etwa gleichzeitig erfundene Bankwesen und mit ihm die Frühform des Finanzkapitalismus in die nordalpinen Städte Einzug hält.

Entstehungszeit fast ohne Eidgenossen

Der Wunsch nach möglichst grosser lokaler Selbstverwaltung ist in der Innerschweiz alt und begünstigt durch ihre periphere Lage, weit weg von den Zentren kaiserlicher Macht. Er ist aber keineswegs einzigartig, sondern damals weit verbreitet, vor allem in den Städten, die nach Reichsfreiheit gieren. So wurde z.B. Zürich bereits 1218 reichsfrei. In der Feudalordnung ist dies das Maximum des Denkbaren und Erreichbaren, nur noch von der allerhöchsten – und fernsten – Gewalt abhängig zu sein: dem König/Kaiser. Vor 1291 haben sich schon einzelne Talschaften um die Reichsunmittelbarkeit bemüht– oder genauer: deren führende Familien und Lokaladeligen. Als erste die Urner 1231, dann die Schwyzer. Sie tauchen 1240 im Heerlager des Kaisers Friedrich II in Faenza auf und ergattern sich einen Freibrief, wohl als Gegengeschäft für ihre militärische Unterstützung. Frei sind sie nur von potenziellen gräflichen oder herzoglichen Zwischengewalten, den Dynastien von ausserhalb ihrer Täler. Der Kaiser stirbt 1250. Wenn der Garant ihrer Reichsfreiheit stirbt, erlöscht diese ebenfalls.

Probleme könnten sich theoretisch ergeben, wenn ein Repräsentant einer solchen Zwischengewalt aus der Nachbarschaft nun deutscher König würde. Dies ist bald einmal der Fall– nach all den grossen Dynastien der Karolinger, Salier, Hohenstaufen – wenn Rudolf von Habsburg 1273 gewählt wird, der Emporkömmling. Prompt verweigert er die Bestätigung des kaiserlichen Privilegs der Schwyzer von 1240. Wieder bestätigt, nämlich von einem nicht-habsburgischen König, wurde es erst 1297, von Adolf von Nassau 1297. Das ging weiter: der nächste Habsburger Albrecht, verweigerte die Erneuerung wieder, wurde aber 1308 von seinem eigenen Neffen Johannes aus Rache bei Königsfelden getötet, weil sich dieser übergangen fühlte. 1309 wird ein weiterer Nicht-Habsburger, Heinrich VII von Luxemburg, auf dem Thron folgen, der die Reichfreiheit wieder bestätigte. Die Schwyzer und mit ihnen später die sich herauskristallisierende Eidgenossenschaft treffen damit immer wieder doppelt auf einen Habsburger: einerseits als Oberhaupt des Reiches als auch als Chef einer benachbarten lokalen Dynastie von Lehensträgern, die genauso wie sie machtpolitische Ziele im gleichen Interessenbereich verfolgten. Die eine Erscheinungsform war der potenzielle Spender ihrer Reichsfreiheit/Reichsunmittelbarkeit, den sie deshalb klugerweise umwarben, die andere ein machtpolitischer Konkurrent auf demselben Terrain, den sie fürchten mussten.

Das entscheidende Ereignis für die Entstehung der Eidgenossenschaft spielte sich weit weg von den Waldstätten ab: 1278 besiegte Rudolf von Habsburg seinen Konkurrenten Ottokar von Böhmen in der Schlacht von Dürnkrut bei Wien. Sein Siegespreis war gross: riesige und vor allem wohlhabende Länder im Osten der Schweiz (das österreichische und steirische Herzogtum), neben denen die Innerschweiz nur ein Klacks ist. So wird der Chef des Hauses Habsburg 1282 Herzog von Österreich. Trotzdem war noch nie ein Kaiser/König so präsent im Raum der heutigen Schweiz wie Rudolf – und wird es auch nie mehr einer sein. Nach seinem Tod 1291 werden die Habsburger, ob als Herzöge oder als Könige ihre Expansionspolitik im Territorium der heutigen Schweiz nie mehr mit demselben Elan betreiben.

In diesem historischen Kontext haben sich die Führungsgruppen in den Tälern von Schwyz. Uri und Nidwalden um eine gemeinsame Wahrung ihrer Interessen bemüht. Einen ersten Bund schlossen sie – entweder während des sogenannten Interregnums nach dem Tod Friedrichs II oder nachdem der neue König, der Habsburger Rudolf die Reichsfreiheit der drei Talschaften nicht mehr garantieren wollte – in jedem Fall vor der Schliessung des Bundes von 1291. Dieses vermutlich erste Bündnis ist vielleicht die in diesem Bundesbrief genannte „antiqua confoederationis forma“, von dem wir aber gar nichts wissen – nicht einmal ein Datum, ausser dem, dass der Inhalt weitgehend identisch sein soll. Der Brief von anfangs August 1291 wiederum steht im Zusammenhang mit dem Tod Rudolfs, der am 15. Juli in Speyer verstorben war – als noch offen war, ob es wiederum zu einem Interregnum kommen oder dessen Nachfolger auf dem Thron wieder ein Habsburger sein würde. Ohne eine funktionsfähige Zentralgewalt wäre die öffentliche Sicherheit nicht mehr garantiert, und wenn das Reich wiederum in die Hände eines Habsburgers fallen sollte, würde die Anerkennung der Reichsfreiheit wohl weiter verweigert werden.

Wer waren die Protagonisten dieser Vereinbarungen ? Oder: Versuch einer Soziologie der Innerschweiz um 1300

Um 1300 beginnt die politische und ökonomische Bedeutung des alten Hochadels rasch abzunehmen, in der Innerschweiz ganz besonders, in der sie nie gross war. Über Grundbesitz verfügt er nur noch in geringem Ausmass. Mit der sich entwickelnden Geldwirtschaft gerät ohnehin wirtschaftlich ins Hintertreffen. Die edlen Herren sind pleite und müssen Güter und Rechte verscherbeln. Der Hochadel löst sich als herrschende Klasse auf und geht in der sich neu bildenden Elite aus Teilen seines eigenen Dienstadels (den Rittern), zu Reichtum gekommenen Dienstleuten und nichtadeligen Grossbauern und Amtsleuten („Leute freien Standes“) auf. Historisch belegt sind die Namen Ab Iberg, Stauffacher aus Schwyz, die von Moos aus Unterwalden. Ein Werner von Stauffach ist 1267 urkundlich erwähnt, als Zeuge bei einem Handel. Bereits 1280 hatten die einzigen lokalen Hochadligen von Bedeutung, die von Attinghausen diese vollständig verloren.

Der niedere oder Ritter-Adel war auch in Auflösung begriffen, ausgewandert, verbauert oder in der neuen Führungsschicht aufgegangen. Nicht als böse Tyrannen vertrieben (wie es die Gründungssage will), sondern weil sich ihre materiellen Existenzgrundlagen aufgelöst haben. Ein Indikator ist, dass sich viele von ihnen in Raubritter verwandeln, die als Wegelagerer und Strassenräuber Reisende überfallen und ein Klima von Angst und Unsicherheit schaffen. Der ehemalige Ritteradel, wandert teilweise auch in die Städte ab, ins nahegelegene Luzern, vor allem nach Zürich, lässt sich einbürgern (der Adlige verbürgerlicht) und übernimmt politische Ämter – oder findet ein (ihrem ritterlichen Ursprung) angepasstes Auskommen: als Söldnerführer.

Dieser Prozess wird um 1400 abgeschlossen sein, die letzten Überbleibsel der feudalen Grundherrschaft lösen sich auf, indem deren Inhaber ihre Rechte den Kommunen und den sich bildenden Flächenstaaten überlassen. Die feudale Bindung an einen Schirmherrn bot längst keinen Vorteil mehr, da dieser seine Schutz- und Schirm-Aufgabe nicht mehr zu leisten vermochte – worauf die Tal-Leute diese zunehmend selber in die Hand genommen hatten. Was blieb, waren Abgaben ohne Gegenleistung, und so stellte man ihre Zahlung schliesslich ein. Die Äbtissin des Zürcher Fraumünsters wandte sich deswegen sogar an den Papst, aber die Urner erschienen nicht einmal vor dem Schiedsgericht in Konstanz, sodass sie schliesslich ihren ganzen Besitz um 1420 den Urnern verkaufte. Die Symbole des Feudalismus, die Burgen, wurden zu einem Spottpreis verramscht: der Turm von Hospental wurde für einen Ochsen verkauft.

Mit diesen feudalen Relikten verschwinden auch die unterschiedlichen Formen der Knechtschaft: die landlosen Unfreien und sogenannten Eigenleute, die dem Grundherrn gehören und sozusagen ein Anhängsel des Bodens sind, den sie bestellen müssen, und mit dem sie auch verkauft werden, wenn dieser den Eigentümer wechselt. Auch hier gilt: nicht durch einen Befreiungskampf, sondern durch den Wandel des Gesellschaftssystems! Entstanden ist damit aber nicht eine einheitliche Klasse von freien Bauern, sondern eine grosse soziale Ungleichheit, die auf unterschiedlichem Status, Reichtum und Macht beruht.

Nach 1300 hatte sich die bisherige halbnomadische „Wanderviehhaltung der Armen“ im Berg- und Hochweidegebiet („Transhumanz“) stetig in eine „Grossviehproduktion der Reichen“ verwandelt, die den sozialen und politischen Aufstieg einer reichen Grossviehzüchtergruppe zur Folge hat (Sablonier 2007:192). Grossviehproduktion heisst vor allem Rinderzucht. Diese werden als Schlachtvieh lebend exportiert, d.h. sie gehen auf eigenen Beinen zu den entfernten städtischen Märkten und Konsumenten. Eine Gasse namens Rindermarkt gibt es heute noch in Zürich. Ausser dem Pökeln mit Salz gab es damals noch keine wirksamen Konservierungsmethoden für Fleisch. Grossen Gewinn verspricht die Pferdezucht, ein weitgehend dem Adel vorbehaltenes Luxusprodukt, das vor allem nach Italien exportiert wird und dort auch im Kriegsdienst Verwendung findet. Der ohnehin wenig ertragreiche Ackerbau tritt endgültig in den Hintergrund.

Mit der Umstellung auf die Viehwirtschaft werden die hochgelegenen Viehweiden ökonomisch interessant, die bisher als von geringem Wert und nur schwer erreichbar den kleinen Leuten (den „Bergleuten“) und ihren Ziegenund Schafen überlassen waren. Für sie allein reichte die vorhandene Weidefläche völlig aus, und ihre Organisation blieb ihnen überlassen. Die Amtsleute interessieren sich nicht für sie, und deshalb gibt es auch keine historischen Quellen. Von diesen Bergleuten, den Älplern, Sennen und Hirten der Bergzonen hört man auch nachher nur, wenn Streitereien um Weidegelände aktenkundig werden. Offensichtlich sind sie bald einmal in die wirtschaftliche Abhängigkeit der Tal-Leute und der von ihnen kontrollierten Viehwirtschaft geraten.

Mit der Auflösung der Grundherrschaft übernimmt eine neue Klasse von Viehzüchtern einen Teil des Bodens in Privateigentum, während Wälder und Alpen häufig in genossenschaftlichen Besitz übergehen. Jetzt erst wird der Boden Besitz, privater wie gemeinsamer, statt dass er nur verliehen wäre, und erhält einen in einem Geldbetrag ausdrückbaren Preis. In Obwalden kauft ein gewisser Ulrich Rüdli mit seinen Gewinnen aus dem Viehhandel ein Stück Weideland nach dem anderen zusammen, zum Verdruss des bisher tonangebenden Adelsgeschlechtes, der Herren von Hunwil, die standesgemäss auf ihrer Burg Giswil hausten. Eine Landsgemeinde entschied schliesslich 1382 den Machtkampf zwischen den alten Feudalherren und der neuen, auf Grundbesitz und Unternehmertum fussenden Macht: Die von Hunwil wurden gezwungen, das Land zu verlassen – und liessen sich zum Teil in Luzern nieder, wo sie es zum Schultheissen brachten. Ein schönes Beispiel für die gelungene Adaption eines Feudalherrn an die neuen Verhältnisse – und für die personelle Kontinuität der Machtinhaber unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen.

Daneben bildeten sich Alpgenossenschaften, aus denen sich dann am Ende des Mittelalters die grossen Korporationen (Allmendgenossenschaften) herausbildeten, die zum Teil bis heute bestehen. Es handelt sich ursprünglich um einen rechtlichen und organisatorischen Zusammenschluss von Nutzern der Hochweiden und Alpen in Form eben einer Genossenschaft. Die Bauern unten im Tal können ihre Tiere nicht gleichzeitig selber auf der Alp hüten, sondern müssen dazu Hirten delegieren, die entlöhnt werden. Ebenso ist eine Einigung erforderlich, wann Alpauftrieb und Alpabfahrt stattfinden sollen, und wer wie viele Tiere zur Sömmerung geben darf. Im Falle der Alp Golzern im Maderanertal sind es höchstens 10 Kühe, oder 5 Pferde oder 40 Schafe (1 Kuh = ½ Pferd = 4 Schafe). In Ursern 1 Stier und 6 Stück Rindvieh. Es braucht auch eine Kontrolle, ob diese Beschränkungen eingehalten werden, und Sanktionen, falls nicht. Mit der Sömmerung des Grossviehs der Talleute wird der Platz oben auf den Alpen plötzlich knapp, denn die Kapazität ist beschränkt – durch die erforderliche Futtermenge, d.h. durch das vorhandene Gras oder Heu. Auf der Glarner Alp Mühlebach hat es genau für 544 7/8 Auftriebseinheiten („Stösse“) Platz. Verteilschlüssel kann dann entweder ein altehrwürdiger Rechtstitel oder später zunehmend der private Bodenbesitz sein.

In diesen Nutzungsgemeinschaften von Alpen kann man eine Keimzelle der „kollektiven Selbstregelung“ (Sablonier) und damit der späteren kommunalen Selbstverwaltung der Talgemeinden erblicken. Sie regeln die Nutzung von Gemeindeland oder Allmenden und bilden eine eigene Rechtsform. Jedes Mitglied hat einen Anteil. Die Alpgenossenschaften stellen aber kein Muster demokratischer Gleichberechtigung dar. Wer nämlich viel Vieh auf seinem eigenen Grund und Boden halten kann, der kann auch viel Vieh auf die gemeinsamen Sommerweiden treiben. Die inzwischen entstandene neue Klasse von Grossviehzüchtern will ihrem privaten Gewinnstreben keine Schranken auferlegen lassen, indem sie wie alle anderen Genossenschaftler nur eine beschränkte Anzahl von Tieren auf die Weiden geben dürfte. Wer über keinen eigenen Grundbesitz verfügt und deshalb auch kein Vieh hält, dem nützen die Weiderechte nichts. Das kann ihn dazu verführen, seinen Anteil an die Viehbarone zu verkaufen, die über reichlich Geld verfügen. Mit ihnen hat die Geldwirtschaft Einzug gehalten und die feudalistischen Produktionsverhältnisse abgelöst. Sie produzieren für einen Markt, und Märkte finden in die Städten statt, wo auch die kaufkräftigen Konsumenten wohnen.

So entsteht eine neue Spielart von Klassengesellschaft: Die Mehrheit der Bevölkerung besteht nun erst recht aus Kleinbauern ohne oder mit wenig eigenem Boden, die ein paar Ziegen halten, oder Pächtern, sowie zunehmend aus Hirten und Älplern im Dienst der neuen Viehbarone, wie frei oder unfrei sie in ihrem rechtlichen Status auch sein mögen. Über sie schweigen sich die Quellen weitgehend aus. Man darf annehmen, dass sich an ihrer privaten Lebenshaltung und an den Formen ihrer Arbeit durch die Entwicklung der Grossviehproduktion der Reichen wenig geändert hat.

Der Aufstieg der Viehbarone hat auch politische Konsequenzen: Diese neue ökonomische Klasse bildet bald auch, zusammen mit den alten Eliten die neue politische Führungsgruppe(„die Häupter“). Sie treibt die Loslösung der Talgemeinden aus den alten feudalen Bindungen voran, aus eigenem ökonomischen Interesse. Sie stellen auch einen grossen Teil der Protagonisten, die die Bündnisse schliessen, aus denen sich die Eidgenossenschaft in den nächsten beiden Jahrhunderten entwickeln wird.

1309 bestätigt König Heinrich VII, ein Luxemburger – also ein Nichthabsburger – den drei Waldstätten die Reichsfreiheit und fasst sie erstmals zu einer einheitlichen Reichsvogtei Waldstätte zusammen. Damit werden alle habsburgischen Ansprüche auf einzelne Vogteirechte übertrumpft. Als Reichsvogt ernennt er den Grafen Werner von Homberg aus dem Geschlecht der Frohburger und Erben der sich in Auflösung befindlichen Herrschaft Rapperswil, einer der wenig greifbaren Figuren unserer Geschichte. Er war ein Heerführer, ein condottiere in Italien – und der bedeutendste unter den Minnesängern in der Schweiz. In der manessischen Liederhandschrift existiert ein hübsches Bild von ihm, wie er auf einem reichgeschmückten Kriegsross an der Spitze seiner Schar den Verteidigern einer norditalienischen Stadt entgegen reitet. Offensichtlich hat er seines Amtes zu walten versucht und mit den lokalen Führungsgruppen zusammengearbeitet. 1320 kommt er in Italien ums Leben, ohne dass ein neuer Reichsvogt bestimmt worden wäre, aber auch ohne dass die Reichsvogtei selber aufgelöst worden wäre.

Insbesondere der Talkessel von Schwyz wird so zu einem machtpolitischen Vakuum, obwohl er nach wie vor rechtlich der Feudalgewalt untersteht. Dies begünstigt die Bildung einer gemeindeartigen Organisation, die von lokalen Ammännern angeführt wird und eine Versammlung der „Leute freien Standes“ kennt, die Landsgemeinde. Mit dieser bürgert sich auch erstmals der Begriff „Länder“ für Schwyz, Uri, Nidwalden/Unterwalden ein (1315: Lender). Mit einer Volksversammlung oder einer modernen Basisdemokratie hat dies nichts zu tun, die „Eigenleute“ und Unfreien, die noch längere Zeit die Mehrheit des Volkes bilden, bleiben ausgeschossen. Das mit „ein einig Volk von Brüdern“ bleibt eine schöne historische Wunschphantasie.

Der klare Antagonismus der Gründungslegende – zwischen den freiheitsliebenden Innerschweizer Tal-Leuten und ihren bösen fremden Unterdrückern, den Habsburgern – ist ein blosses Heldenepos und historisch falsch. Um Freiheit und Unabhängigkeit im modernen Sinn ging es nicht, die feudale Herrschaftsordnung wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt – wie gerade das Beispiel der Leventiner zeigt, wo sich die Eidgenossen als Feudalherren aufspielen werden. Es gibt keinen Bund, keine Allianz gegen die bösen Habsburger, und die zu einem bestimmten Zeitpunkt (1. August 1291), an einem bestimmten Ort (Rütli) und von bestimmten Protagonisten (Walter Fürst, Werner Stauffacher, Arnold von Melchthal) beschworen wurde. Weil sie gar nicht notwendig war. Es gab damals keine grundsätzliche Feindschaft zwischen Habsburg und den Eidgenossen – und schon gar keine militärische Besetzung der Waldstätte durch die Habsburger, die ein heimliches Treffen von Verschwörern auf einer für sie ungünstig gelegenen Bergwiese notwendig gemacht hätte. Wenn überhaupt, so richtete sich die habsburgische Erwerbspolitik gegen den lokalen Hochadel, der in der Innerschweiz wenig vertreten war, aber umso mehr im Mittelland – weil er mit seinem verstreuten Grundbesitz ihrem Versuch, einen einheitlichen Flächenstaat zu bilden, im Weg war.

Der Kern dieser Legende ist eine durchaus historische Frontstellung, wenn auch nur im beschränkten Ausmass: zwischen Schwyzer Bergbauern und einem vorerst einzigen Habsburger, dem Vogt der Abtei Einsiedeln. Ihr schamloser Überfall von 1314 auf das Kloster musste die Habsburger als Kastvögte provozieren. Sie konnten dieses Unrecht nicht ungestraft hinnehmen. Mit dieser Provokation setzten die Schwyzer ihre Verbündeten in Uri und Unterwalden mutwillig der Gefahr von Repressalien durch Habsburg aus. Uri und Unterwalden sind nämlich aus unterschiedlichen Gründen keineswegs Habsburg feindlich.

Der Überfall führte schliesslich den Habsburgerprinzen Leopold dazu, in der Rolle des Schirmherrn des Klosters im Sommer 1315 vor Ort militärische Präsenz zu demonstrieren und die Expedition in persona anzuführen. Mittelalterliche Herrschaftsausübung bedingte, dass man auf dem Schauplatz der Ereignisse physisch präsent war, was für lokale Potentaten einfacher war als für die weit entfernten Habsburger. Die Strafexpedition, sofern es überhaupt eine solche war, richtete sich nicht gegen die Eidgenossen als Ganzes– sondern lediglich gegen die Schwyzer Übeltäter. Leopold versammelte sein Heer in Zug, und dass er den Weg über den Aegerisee Richtung Sattel nahm, weist darauf hin, dass er direkt in das von den Schwyzern widerrechtlich okkupierte Klostergebiet vorstossen wollte, um sie von dort ein für allemal zu vertreiben.

Am oberen Seeende bei Morgarten, niemand weiss, wo genau, geriet er in einen Hinterhalt der Schwyzer, die ohne grosse eigene Verluste viele seiner glänzend gerüsteten Ritter erschlugen. Diese waren überhaupt nicht auf eine Schlacht vorbereitet, weil sie auf die Regeln des ritterlichen Kampfes verliessen, deren gemäss einem der Gegner offen und ehrlich in der ritualisierten Schlachtordnung entgegentritt. So wurde es mehr ein Schlachten als eine Schlacht. Auch 50 Bürger der Stadt Zürich liessen ihr Leben für ihren legitimen Herrscher, den Habsburger Leopold, wenn man der Erzählung des Franziskanermönchs Johannes von Winterthur aus dem Jahr 1340 – 25 Jahre nach dem Ereignis! – Glauben schenken will. Seine Schilderung schmückt sich mit Textelementen biblischer Schlachtschilderungen. Genaueres über den Verlauf der Ereignisse liefern die dürftigen und sehr viel später verfassten Quellen nicht.

Es handelt sich also keineswegs um die erste der „eidgenössischen Befreiungsschlachtem“, um einen heldenhaften Kampf für die Freiheit und gegen die habsburgische Unterdrückung. Sondern es handelt sich um die gewalttätige Eskalation eines, des früher erwähnten Nutzungskonfliktes von Viehweiden, zwischen den Älplern aus Schwyz und ihrem rechtmässigen Besitzer, dem Kloster Einsiedeln. Nur indirekt, weil sich der Beschützer, der Schirmherr des Klosters für seinen misshandelten Schutzbefohlenen verantwortlich fühlte, spielt das Thema Feudalismus versus neuer Formen eine Rolle. Das Geschehen ging als die Schlacht am Morgarten in die Annalen ein, allerdings längst nicht in alle. Ausgerechnet das „Weisse Buch von Sarnen“, das die „Urschweizer Befreiungstradition“ begründet hat, kennt sie nicht. So oder so: Erstmals in der Geschichte musste sich ein adeliges, gut gerüstetes Ritterheer einem Gewalthaufen aus Bauern und Hirten geschlagen geben. Seither genossen die Innerschweizer den Ruf, ein „grobes gottloses Bauernvolk“ zu sein. Habsburg konnte sich diesen peinlichen Gesichtsverlust, wenn auch nur auf einem völligen Nebenschauplatz, eigentlich gar nicht leisten, weil damit seine Glaubwürdigkeit als Schirmherr zerstört wäre. Trotzdem unternahm es lange Zeit gar nichts, was eher überrascht.

Die politische Elite der drei Waldstätte erwartete nämlich ganz offensichtlich einen raschen Gegenschlag und wappnete sich sofort dagegen. Sie trifft sich im Dezember 1315 in Brunnen und beschwört einen Bundesbrief, der diesem Namen eher verdient als der von 1291: den sogenannten Morgartenbrief. Die „lantlüte und eidgenoze von Ure, von Szwits und Underwalden“ geloben einander gegenseitige Hilfe, vor allem zur Friedenswahrung, verpflichten sich auf ein gemeinsames Handeln, erlassen Bestimmungen zur Schlichtung von Streitigkeiten und Fehden und formulieren ein rudimentäres Strafgesetzbuch für Delikte wie Raub, Totschlag, Brandstiftung und Ungehorsam. Neu wird die Gehorsamspflicht gegenüber seinem rechtmässigen Herrn relativiert, indem sie solange suspendiert werden soll, wie dieser sich im Konflikt mit einem der drei Länder befinde. Erstmals heissen die Vertragspartner des in Deutsch verfassten Bundesbriefes „Eidgenossen“. Auf ihn bezogen sich in der Folge viele andere Bündnisurkunden. Sein Text wurde immer wieder aktualisiert, vor allem, wenn die Partner wechselten oder neue dazu kamen.

Der brutale Übergriff der Schwyzer Talleute auf die klösterlichen Alpen Einsiedelns löste also, im Nachhinein betrachtet, eine komplexe Kettenreaktion aus, die schrittweise zur Herausbildung der späteren Eidgenossenschaft führte.

Lange hielten die Eidgenossen den Morgartenbrief für die Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft – nämlich bis zum Vorfeld der Jubiläumsfeier von 1891. Dies war sie natürlich ohnehin nicht, weil es gar keine Gründung gibt. Der erste effektive Bund wurde also erst nach der „Schlacht“ von Morgarten beschworen – und erst, nachdem die oberste Reichsgewalt die drei Waldstätte für reichsfrei erklärt und zu einer politischen Einheit (einer Reichsvogtei) zusammengefügt hatte. 1327 wurde die neue Reichsvogtei in den Bund mit Strassburg, Konstanz, anderen Reichsstädten und Zürich und Bern aufgenommen, was bedeutet, dass sie damals weitherum im Reich unter den nicht-feudalen Mächten als gleichberechtigter und handlungsfähiger Partner wahrgenommen wurde. Ein eigener Staat war sie damals trotzdem noch lange nicht.

1332 gehen die drei Waldstätte einen Bund mit dem damals immer noch habsburgischen Luzern ein, womit auch die Streitigkeiten um die Kontrolle des Transportweges über den See ein Ende finden. 1351 stösst die Reichstadt Zürich dazu, die unter habsburgischen Druck geraten war, nachdem es das ihm gehörende Rapperswil zerstört hatte. Dorthin hatte sich die in der Zunftrevolution von 1336 unterlegene Adelspartei geflüchtet. Ihr Putschversuch gegen die Brun’sche Zunftverfassung, die Mordnacht von Zürich 1350, scheiterte kläglich. Mit Zürich hatten Schwyz und Uri bereits am 16. Oktober 1291 (!) ein erstes Bündnis geschlossen – übrigens mit Datum, Ort der Beschwörung und den Namen der Beschwörer. Bündnisse mit Habsburg waren deshalb noch längere Zeit keineswegs ausgeschlossen. So ging die Stadt Zürich bereits fünf Jahre nach ihrem „ewigen Bund“ mit den Waldstätten – nachdem sie gegen das habsburgische Winterthur eine schmähliche Niederlage bezogen hatte – ein Bündnis mit Habsburg ein. Nachdem sie nach der Brunschen Zunftrevolution von 1336 mehrfach durch feudale Kräfte belagert worden war, suchte sie 1355 den Frieden mit Habsburg-Österreich und verpflichtete sich 1356, obwohl sie seit 1351 mit der Waldstätte feierlich verbündet war, dessen Ansprüche gegenüber eben diesen neuen Verbündeten zu unterstützen. 1363 schloss auch Bern, auch es seit 1353 mit den inzwischen fünfortigen Eidgenossenschaft verbunden, ein Bündnis mit Habsburg. Noch 1442 wandte sich die im Konflikt mit seinen Innenschweizer Bundesgenossen befindliche Stadt ein letztes Mal an Habsburg, als es mit Schwyz zu einer Auseinandersetzung um das Erbe der Grafen von Toggenburg gekommen war.

Das an dieser Entwicklung der Eidgenossenschaft Besondere ist, dass sich die Städte nicht – wie sonst überall – die Landschaft unterwerfen, sondern dass diese politisch selbständig und auf Augenhöhe mit den reichsfreien Städten bleiben. Für Zürich wäre es nahegelegen, das Gebiet zwischen sich und dem Gotthard als natürlichen Expansionsraum zu behandeln, ähnlich wie sich Bern ein riesiges Herrschaftsgebiet erobert hat, bis es zur grössten Stadtrepublik nördlich der Alpen geworden ist. Zürich war dazu letztlich zu schwach, oder die Schwyzer zu stark. Längerfristig gesehen wirkte sich diese Unfähigkeit jedoch als Vorteil aus. Bern blieb ein blosser Agrarstaat, in dem die gnädigen Herren aus der Stadt als Grundbesitzer (absentee landlords) eine eher parasitäre Existenz auf Kosten der Landbevölkerung führten, während Zürich eine Handels- und Produktionsstadt wurde. Sie schaffte dann auch den Sprung ins industrielle Zeitalter mühelos – im Unterschied zu Bern.

1370 geben sich die Orte erstmals eine gemeinsame Rechtssatzung, eine embryonale Form von Verfassung, in der sie das Fehdewesen endgültig untersagen, Rechtsverfahren genauer und verbindlich festlegen, ihre Herrschaftsrechte betreffend das Kriegswesen formulieren und ihr Bündnisgeflecht erstmals als „unser Eydgnoschaft“ bezeichnen. Und besonders interessant: Habsburgische Vasallen, die in der Eidgenossenschaft Wohnsitz haben, müssen ihr einen Loyalitätseid schwören, der Vorrang gegenüber allen anderen Loyalitäten besitzt. Diese Satzung segelt, weil sie auch die Kleriker ihrer Gerichtsbarkeit unterwirft, ein Nebenpunkt, unter dem irreführenden Namen Pfaffenbrief.

Dieser Pfaffenbrief verhinderte jedoch nicht, dass noch 1443 ein blutiger Krieg zwischen Zürich und Schwyz ausbrach, das von den anderen Waldstätten unterstützt wurde. Anlass war der Streit um das Toggenburger Erbe. Zürich hatte zuvor ein unbefristetes Bündnis mit Habsburg abgeschlossen – wenn auch unter dem Vorbehalt seines früheren Bundes mit den vier Waldstätten von 1351. Diese trauten der Sache nicht und vermuteten einen Versuch Habsburgs, mit Hilfe Zürichs die Rückgewinnung ihrer verlorenen Stammlande zu planen. Sie wollten die Stadt zuerst vor ein Schiedsgericht zerren, was diese aber verweigerte. So kam es zu einem richtigen und blutigen Krieg unter den lieben Eidgenossen, der unter dem Namen „Alter Zürich-Krieg“ in die Geschichtsbücher einging. Die Frontstellung „ländliches“ Schwyz versus „städtisches“ Zürich ist die wirkliche Konfliktlinie in der Alten Eidgenossenschaft – nicht Eidgenossenschaft (also inklusive Zürich) versus Habsburg. Also ein schlichter Stadt – Landkonflikt (oder Moderne gegen Reaktionkonflikt), der sich später durch die Reformation nur noch verschärfen wird, wenn die Einen dem mittelalterlichen Katholizismus zugunsten einer höheren persönlichen Verantwortung) abschwören und die Anderen weiterhin dem Alten (autoritätsgebundenen) Glauben treu bleiben. Die „Urschweizer Befreiungstradition“ dient auch der Verschleierung der innereidgenössischen Spaltung, die der Ideologie „Ein einzig Volk von Brüdern“ jeden Boden entziehen würde.

Die Zürcher erlitten vor ihren Stadttoren bei St. Jakob an der Sihl eine vernichtende Niederlage. Im Friedenschluss von 1450 musste sich Zürich bereiterklären, sein Bündnis mit Habsburg zu kündigen. Künftig waren ihm – wie allen anderen eidgenössischen Orten – keine Bündnisfreiheit mehr gewährt, keine Freiheit, sich mit Mächten ausserhalb der Eidgenossenschaft zu verbünden. Die alten eidgenössischen Bünde wurden neu beschworen. Damit kam die Zeit der Bündnisfreiheit, der volatilen Allianzen zu ihrem Ende, die keiner übergeordneten gemeinsamen Idee gehorchten, sondern der ziemlich egozentrischen Logik der jeweiligen Machtverhältnisse und Schutzbedürfnisse. Bündnistreue war ein leeres Wort.

Die Entwicklungen sind nicht verständlich ohne den Einbezug des Geschehens im Reich, vor allem der Frage: Wer ist gerade König? Ist es ein Habsburger oder nicht? Wenn nicht, dann wird der Handlungsspielraum der Waldstätte grösser, weil die Nicht-Habsburger keine eigenen territorialen Interessen in ihrer Gegend verfolgen. In der Adelspropaganda erscheinen sie häufig als eine Ansammlung tumber Bauern. Sie waren jedoch gewitzt genug, von den jeweiligen Verhältnissen auf dem Thron einen optimalen Gebrauch zu machen. Als es zum Beispiel nach dem Tod 1314 des Luxemburgers Heinrich VII zu einer Doppelwahl kam – ein Habsburger (Friedrich) und Ludwig der Bayer – unterstützten die Führungskräfte der werdenden Eidgenossenschaft folgerichtig den Bayern.

Ihnen waren ja auch die eklatanten Rechtsbrüche bewusst, die sie sich zuschulden kommen liessen, auch wenn sie diese natürlich für legitim hielten. Deshalb bastelten sie denn auch schon früh an einer Rechtfertigungsideologie, die die Habsburger als grausame Tyrannen porträtierte, gegen die man gar nicht anders konnte, als sich zu erheben. Der Historiker Maissen nennt es: „Die Eidgenossen erfinden ihre Geschichte (2010:73ff).“ Die Gründungslegende liefert diese, indem sie die Rollen vertauscht: Die Aggressiven waren in Wirklichkeit die Innerschweizer, genauer gesagt die Schwyzer, die habsburgische Schutzbefohlene immer wieder drangsaliert, wenn nicht gar getötet haben. Nach Morgarten nahmen die Habsburger Ihre Schutzverpflichtungen kaum mehr wahr, so dass z.B. 1375 ein Heer von arbeits- und führungslosen Söldner (die „Gugler“) ungehindert plündernd und brandschatzend durch das Gebiet der heutigen Schweiz ziehen konnte, was den Hass auf die Habsburger befeuerte. In den Waldstätten wiederum herrschte eine hohe Gewaltbereitschaft, es kommt immer wieder zu Raufhändeln, Zusammenrottungen und feuchtfröhlichen Streifzügen mit Plünderungen, Brandstiftungen und Viehraub. Insbesondere die Schwyzer frönten dem Faustrecht, der Höhepunkt war der frevlerische Überfall auf das Kloster Einsiedeln.

Neben dem, dass die Befreiungstradition die Rolle des Aggressors vertauscht, camoufliert und glorifiziert sie zugleich die Gewalttaten und Rechtsbrüche der innerschweizer Raufbolde. Früh tauchen nämlich in der Geschichte eigentliche Schlägertrupps von Jugendlichen und Jungerwachsenen auf, die sich immer wieder aus unterschiedlichem Anlass zusammenrotteten. In den Quellen werden diese frühen Hooligans „Härster“ genannt (offensichtlich von Harst – wie in Hauptharst – abgeleitet) und erregen Aufsehen mit wilden Aktionen, die oft genug die offizielle Politik der Landammänner sabotieren. Die Autoritäten schafften es nicht, sie unter Kontrolle zu bringen. In diesen Gewalthaufen kann man die Vorläufer der späteren Reisläuferei erkennen. Aber auch ein Symptom dafür, wie sehr rohe Gewalt ein Teil des damaligen Alltags in den Waldstätten war – und wie wenig fortgeschritten sie auf dem Weg zu einem staatlichen Gewaltmonopol gewesen sind, obwohl in all den Bündnissen das ein wiederkehrendes Hauptthema war. In diesem so christlichen Land wurde auch nicht derjenige respektiert, der seinem Angreifer die andere Wange hinhielt, sondern der, der seine Ehre mit der Waffe in der Hand blutig wieder herstellte, auch wenn er und sein Umfeld dabei zu Grunde ging. Michael Kohlhaas hätte gut und gerne ein Innerschweizer sein können.

Die angebliche „Befreiung“ hat nichts Revolutionäres an sich, sondern bleibt im wahrsten Sinne reaktionär: Die vermeintlichen Freiheitshelden wollten nur den rechtmässigen Zustand wiederherstellen, dessen sich ihre Vorväter angeblich erfreut, und den die fremden Unterdrücker aus Habsburg später mit Gewalt zerstört hätten. In ihr Bewusstsein konnte nicht dringen, dass sie so schlicht ihre Utopie rückwärts projizierten, gerade weil sie keine Vorstellung von wirklicher Befreiung entwickeln konnten. Sie blieben Kinder des Mittelalters und haben denen, die sich heute aus der Knechtschaft befreien wollen, letztlich gar nichts zu sagen.

Eine wichtige Ursache für die erstaunliche Passivität der Habsburger ist natürlich, dass sich der Schwerpunkt ihres Besitzes auf einen Schlag weit nach Osten verschoben hatte, und zwar noch vor dem gegen ihre vermeintlichen Expansionsgelüste gerichteten Bundesbrief von 1291. 1283 kamen die riesigen österreichischen Besitztümer hinzu – das Herzogtum Österreich und das steierische Herzogtum,– die für sie in jeder Hinsicht lukrativer und interessanter waren als die armseligen Waldstätte. Seither war auch Wien ihre Residenzstadt – und das lag weit entfernt von ihren alten Stammlanden. 1335 wurde Kärnten habsburgisch, und 1369 auch noch die Grafschaft Tirol. Damit hatten sie mit Ausnahme von Salzburg – ein geistliches Fürstentum mit dem Erzbischof als Landesherrn – das Territorium des heutigen Österreich zusammen. Mit dem Erwerb von Tirol standen ihnen nun zwei weit bequemere und auch wintersicherere Nord-Süd-Verbindungen als der Gotthard zur Verfügung: der Brenner, der eine Passhöhe von nur 1200 Metern aufweist, und der etwas höhere Reschenpass, der aber auch nur 1500 Meter erreicht. Eine Folge war, dass sich der König/Kaiser primär um seine neuen Besitztümer im Osten kümmerte und den herzoglichen Mitgliedern seines Hauses, die näher beim ursprünglichen Besitz im Westen residierten (in Innsbruck), die Aufsicht über diesen – inzwischen nur noch – unbedeutenden Nebenschauplatz überliess. Dieser Zusammenhang wird in der nationalistischen Geschichtsdeutung unterschlagen.

So dauerte es bis 1385, dass Herzog Leopold III beschloss, dass eine militärische Machtdemonstration in der Innerschweiz überfällig sei – angesichts dessen, dass inzwischen ihre gänzliche Loslösung aus dem habsburgischen Einflussbereich drohte, insbesondere diejenige der nach wie vor von Rechts wegen habsburgischen Stadt Luzern. Nachdem Luzerner Gewalthaufen Rotenburg und andere habsburgischen Burgen mutwillig zerstört hatten, liess er ein Ritterheer versammeln, das sich von Zofingen über Willisau in Bewegung setzte. Er wollte primär das unbotmässige Luzern, den einzigen einigermassen interessanten Ort der Innerschweiz wieder unter seine Kontrolle bringen. Eine richtige Schlacht war nicht geplant, eher „shock and awe“, wie es heute die Amerikaner praktizieren. Sie ergab sich bei Sempach trotzdem, aufgrund einer Kette von Missverständnissen, auch von Seiten der Eidgenossen, die als gravierenden taktischen Fehler dem Gegner die Anhöhen überliessen. Sie besiegten das feudale Ritterheer dennoch, mit gütiger Hilfe der brennenden Sonne, die die gepanzerten Ritter in ihren Blechrüstungen weichkochte. Der Herzog verlor sein Leben in der Schlacht. Sempach erregte weitherum Aufsehen, weil da ein Haufen „primitiver Bergbauern“ ein vermeintlich übermächtiges Ritterheer (das Modernste an damaliger Kriegskunst) vernichtend geschlagen hatte, ein grober Frevel an der von Gott eingesetzten Gesellschaftsordnung („in suo, pro suo a suis occisus“). Die Eidgenossen wiederum fühlten sich in ihrer Idee bestätigt, Gottes auserwähltes Volk zu sein, das aufgrund seiner Frömmigkeit und Tugend den hochmütigen Tyrannen habe besiegen können.

Auf einen Schlag hatte Habsburg fast alle seine adligen Gefolgsleute aus der Schweiz verloren, so dass ein Machtvakuum entstand. Wer die Sempacher Schlachtkapelle besucht, erkennt auf der Eingangswand und einem Teil der Südwand die Wappen der gefallenen Ritter. Sie bilden ein fast vollständiges Burgenverzeichnis des Aar- und Thurgaus (nebst einigen süddeutschen Orten). Diesmal wollte Habsburg die Niederlage nicht einfach hinnehmen. Ein zweites Heer 1388, nominell unter Albrecht III sollte sie ausbügeln, aber es wähnte sich zu früh als Sieger und widmete sich dem Plündern und Brandschatzen, worauf es bei Näfels den Glarnern ins Messerlief und vernichtet wurde.

Dieser Doppelsieg bringt die Wende: Er garantiert die Weiterexistenz der jungen Eidgenossenschaft, während im selben Jahr ein anderes Adelsheer dem schwäbischen Städtebund ein jähes und definitives Ende bereitete. Erst damit hatte sich die klare Frontstellung „Habsburg gegen Eidgenossenschaft“ (die inzwischen längst auch Luzern, Zürich, Zug und Bern umfasste) ergeben. Erst dann wurde Habsburg explizit zum offiziellen Staatsfeind der Eidgenossenschaft, aber nicht mehr für lange. Es erwies sich nämlich dieser Zuschreibung nicht würdig, weil es keine militärische Initiative mehr zeigte und keine weiteren Expeditionen in die Innerschweiz mehr unternahm. 1394 schlossen die Eidgenossen einen auf 20 Jahre befristeten Friedensvertrag mit Habsburg, das definitiv auf alle Rechte über Luzern, Zug und Glarus verzichtete. Nach dessen Ablauf überfielen die Eidgenossen 1415 in einer konzertierten Aktion den Aargau, ohne auf grossen Widerstand zu stossen (Kein Wunder, die Verteidiger der habsburgischen Herrschaft waren ja fast alle tot). Die Eroberer setzten dabei die Burg Stein in Baden in Brand, den Verwaltungssitz für die sogenannten Vorderen Lande und schleppten das habsburgische Archiv nach Luzern. So verloren die Habsburger ihr altes Kernland mitsamt der namensgebenden Burg für immer. Mit dem Verlust ihres Kernlandes, den sie ohne entschlossene Gegenwehr hinnahmen, wurden die Habsburger definitiv eine österreichische Dynastie. Allerdings fanden sie sich erst in der „Ewigen Richtung“ von 1474 bereit, den Verlust auch formell anzuerkennen. Sie behielten im Westen allerdings einen Restposten, einen Flickenteppich aus kleineren süddeutschen Territorien (Vorderösterreich genannt), zu dem neben Freiburg im Breisgau und Konstanz auch das Fricktal gehörte, ehe es bei der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress der Schweiz zugesprochen wurde.

Der Griff nach Süden war lange allein das Werk der Urner, gelegentlich noch mit der Unterstützung von Unterwalden. Erst im 15. Jahrhundert konnten sie den alten Wunsch verwirklichen, die Südseite des Gotthards unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach dem Tode des Visconti-Herzogs Gian Galeazzo nützen sie die das entstandene Machtvakuum 1403, um sich die Leventina mit Gewalt anzueignen, vorerst als eine Art Protektorat. 1407 zwingen sie der Festungsstadt der Visconti, Bellinzona eine „comborghesia“ auf, die sie von allen Zöllen befreit , verlieren aber nach der Niederlage von Arbedo 1422 alle südlichen Besitztümer wieder, an den letzten Visconti, ehe der Sieg in der Schlacht von Giornico 1478 die Leventina endgültig den Urnern zuschanzt. Wie die ganze bisherige Geschichte herzlich wenig mit Demokratie und Freiheit zu tun hat, so werden auch die Leventiner, obwohl jahrhundertelang in Selbstverwaltung erprobt, nicht in ein „einig Volk von Brüdern“ willkommen geheissen, sondern sinken zum Untertanengebiet der gnädigen Herren zu Uri herab.

Auch untereinander haben die Eidgenossen grosse Mühe mit der Einigkeit. Der Alte Zürich-Krieg um die Erbschaft der Grafen von Toggenburg, anlässlich dessen die Schwyzer beinahe ihren Bundesgenossen, die Stadt Zürich erobert hätten, der sich in seiner Not an die Habsburger gewandt hatte, endete mit dem Friedensschluss – und damit, dass im August 1450 die alten Bünde in Einsiedeln neu beschworen wurden. Damit bekam das eidgenössische Bündnissystem, das bisher nach aussen offen gewesen war, einen neuen, ausschliesslichen Charakter. In einer Tagsatzung avant la lèttre 1454 in Sarnen beantragten Luzern und Zug, dass in ihren Bundesbriefen der Vorbehalt habsburgischer Ansprüche gestrichen werde, was dazu führte, dass diese – wie derjenige mit Zürich – neu geschrieben und die alten vernichtet wurden. Diese neue Exklusivität führte nicht zu einem neuen gestärkten Gemeinschaftsgefühl.

Nach den erfolgreichen „Burgunderkriegen“ gegen Karl den Kühnen, die den militärischen Ruhm der Eidgenossen ins Unermessliche steigerte, zeigten sich im Gegenteil Zerwürfnisse bezüglich der territorialen Vergrösserung des Bundes. Sie gipfelten im sogenannten „Stanser Verkommnis“ 1481. Die inzwischen achtörtige Eidgenossenschaft brach beinahe auseinander, weil sich die Landorte gegen die Aufnahme neuer Städte – Freiburg und Solothurn – in den Bund wehrten. Sie fürchteten nicht zu Unrecht ein städtisches Übergewicht. Zürich, Bern und Luzern schlossen mit Freiburg und Solothurn 1477 ein Sonderbündnis, das den beteiligte fünf Städten wechselseitig das Bürgerrecht garantierte – was die Landorte wiederum als Vertragsbruch verstanden. Erst die Vermittlung des Eremiten Niklaus von der Flüe führte zu einer momentanen Lösung. Bruchlinie des Konfliktes war der Gegensatz von Stadt und Land, der sich später durch die Reformation noch verstärken sollte. Die Verhandlungen der Tagsatzung in Stans resultierten in einem verfassungsähnlichen Dokument, das u.a. stipuliert, dass kein Ort die Untertanen eines anderen Ortes gegen dessen Obrigkeiten aufhetzen dürfe, und bei einem inneren Aufruhr alle verpflichtet seien, sich wechselseitig zu Hilfe zu eilen.

In den von den Eidgenossen „Schwabenkrieg“ und von den Reichsleuten „Schweizerkrieg“ genannten Auseinandersetzungen behaupten sich diese zusammen mit den Drei Bünden gegen den Schwäbischen Bund, einem neuen Zusammenschluss von Fürsten, Rittern und Städten, und gegen den Habsburger König Maximilian. Dementsprechend fanden alle Scharmützel an der Rheingrenze statt, in Schwaderloh und Dornach, ausser derjenigen an der Calven, am Eingang zum Münstertal, wo die Bündner die Tiroler vernichtend schlugen. Der Friedensschluss von Basel im Jahre 1499 zementiert die de facto Unabhängigkeit vom Reich, die die Eidgenossen gar nicht explizit gesucht hatten, weil sie sich hüteten, offen gegen König und Reich Krieg zu führen. Nun ist Konstanz ganz von seinem Territorium abgeschnitten, und die Landgerichtsbarkeit im Thurgau geht auf die Eidgenossenschaft über, die seit 1460 bereits die Landvogtei besassen hatten. Nun ergibt sich neben dem Aargau definitiv eine zweite „gemeine Herrschaft“, die dritte, die „ennetbirgische“, das Tessin, kommt im Rahmen der italienischen Kriege 1512 hinzu – und geht dank der bewussten Grosszügigkeit des französischen Königs trotz der katastrophalen Niederlage bei Marignano 1515 nicht verloren. Die definitive Loslösung vom Reichsverband erfolgt allerdings erst 1648 im Westfälischen Frieden.

Nach der letzten Beitrittswelle zur Eidgenossenschaft von Freiburg und Solothurn (beide 1481), Schaffhausen und Basel (beide 1501) und 1513 von Appenzell als letzter, sind alle 13 Orte versammelt, die die Alte Eidgenossenschaft ausmachen, bis sie 1798 untergeht – auch wieder unter dem Ansturm der Franzosen. Allerdings nicht mehr der königlichen, sondern der revolutionären, die sich weit mehr in die inneren Verhältnisse einmischen werden, als der Sieger von Marignano – weil sie ihre Revolution exportieren wollen.

Vom Papst und seiner „Heiligen Liga“ in die italienischen Kriege verwickelt, haben die Eidgenossen in Norditalien ihren letzten grossen Auftritt auf der internationalen Bühne. Bereits dem kriegerischen Papst Julius II missfiel die französische Präsenz in Norditalien. Er holte sich 1506 eine Leibgarde von Schweizer Söldnern nach Rom (die heute noch als inzwischen eher folkloristisches Element die Tore zum Vatikan bewachen, in bunten Renaissanceuniformen und mit Hellebarden) Nach 1510 begann er mit gütiger Hilfe des Walliser Kardinals Matthäus Schiner, eines der wenigen politischen Köpfe der Eidgenossenschaft, sich eine Schweizer Söldnertruppe aufzubauen. 1512 besiegen diese dann allerdings auf eigene Rechnung die Franzosen in der Schlacht von Pavia, die sich inzwischen des Herzogtums Mailand bemächtigt hatten. Sie vertrieben diese fürs Erste ohne grosse Anstrengung aus Norditalien, das den Zankapfel zwischen den europäischen Grossmächten (Habsburg, Frankreich, Spanien, dem Papst) bildete. Diesen Sieg bestätigten sie gegenüber Frankreich in der blutigen Schlacht von Novara ein Jahr später, obwohl sie ungewohnt hohe Verlust hinnehmen mussten. Es war ihr grösster und, wie sich bald zeigen sollte, ihr letzter militärischer Triumph. Für kurze Zeit kontrollieren sie das ganze riesige Herzogtum Mailand militärisch, eine der reichsten Landschaftenn in ganz Europa- Eine der grössten Städte der damaligen Welt – sie war 20mal grösser als Bern oder Zürich – fiel der Eidgenossenschaft wie eine reife Frucht in den Schoss. Unter der glanzvollen Hofhaltung der Sforza war sie neben Rom und Florenz eines der Zentren der humanistischen Bildung und der Renaissancekunst. Einige Jahre zuvor hatte Leonardo da Vinci sein berühmtes Abendmahl an die Refektoriumswand des Klosters S. Maria delle Grazie gemalt. Die Eidgenossen setzten aus eigener Machtvollkommenheit Massimiliano Sforza als Herzog ein, eine blosse Marionette von ihren Gnaden.

Ihre gar nicht bewusst gewählten Hochrisikostrategie, sich mit den damaligen Grossmächten anzulegen, hatte einen unerwarteten Erfolg gebracht. Die Freude darüber teilten jedoch nicht alle Alten Orte. Insbesondere nicht die eher nach Westen als nach Süden ausgerichteten Bern, Freiburg und Solothurn, die sich nie an der von den Gotthardorten Uri und Luzern betriebenen Expansion in Richtung Lombardei beteiligt hatten. Sie hielten sich auch jetzt zurück. Eine Integration der Riesenstadt als 14. Ort der Eidgenossenschaft, wie es kurze Zeit debattiert wurde, hätte ein gewaltiges Ungleichgewicht bewirkt, und wäre auf die Dauer nicht haltbar gewesen. Ein armseliges Bergtal wie Uri, das nicht einmal 10 000 Einwohner aufwies, hätte zusammen mit einer Kleinstadt wie Luzern eine solche gigantische Wirtschafts- und Kulturmetropole unter Kontrolle bringen sollen – ein echter Verhältnisblödsinn.

Die für sie zu grosse, letztlich unverdauliche Beute verloren die Eidgenossen jedoch bald wieder an die Franzosen unter König François I – in der Schlacht von Marignano 1515. Als Feldprediger war ein gewisser Huldrych Zwingli dabei, was die darauf folgende Schweizergeschichte fast noch mehr prägte, als die katastrophale militärische Niederlage.

Die Eidgenossenschaft nach Marignano

In der heute viel beschworenen Schlacht von Marignano ist den Schweizern dasselbe passiert wie den Habsburgern 1315: Ihre Kriegsform ist technologisch überholt worden – durch die Feuerwaffen, die Kanonen, gegen die selbst die grösste Kraftprotzerei und Kriegslust nichts vermag, weil man inzwischen die Helden aus sicherer Distanz abknallen kann. Welche Folgen hatte diese Niederlage für die weitere Entwicklung der Eidgenossenschaft?

Nach der kurzen Phase der Grossmachtsphantasien, als sie für kurze Zeit das Herzogtum Mailand kontrollierte, buchstabierte sie etwas zurück, aber entschied sich keineswegs, wie man später hineininterpretierte, sich nicht länger in fremde Händel einzumischen. Es gab nun überhaupt keine gemeinsame Aussenpolitik mehr, nachdem sie auch vorher nur ansatzweise bestanden hatte. Bald nach Marignano erschütterte Zwinglis Reformation die die Eidgenossenschaft und spaltete sie in zwei Blöcke, nach alten Bruchlinien: die ökonomisch starken und nun protestantischen Städte wie Zürich, Bern und Basel versus die rückständigen katholisch gebliebenen Landorte, hauptsächlich der Innerschweiz. Dem vorangegangen war ein richtiger Bürgerkrieg, der Kappelerkrieg, in dem auch Zwingli fiel. Die Eidgenossenschaft überlebte nur deshalb, weil sie sich nicht an den verheerenden europäischen Religionskriegen beteiligte. Das war jedoch eher ein Abseitsstehen aus Selbstschutz als die Frucht einer politischen Konzeption. Und die Lösung brachten nicht sie selber zustande, sondern der Augsburger Religionsfriede mit dem Prinzip „Cuius regio eius religio“, das sie übernahmen. Deshalb mussten z.B. die Locarneser Protestanten nach Zürich auswandern, wo sie den Reichtum der Stadt mehrten, während dem das rekatholisierte Locarno verarmte. Der Geist des Kapitalismus ist ja, wie Max Weber herausfand, protestantisch.

Die angebliche ewige Neutralität von 1515 – keine Einmischung in fremde Händel – die die SVP wie Moses‘ Gesetzestafel behandelt, ist in Wirklichkeit ein weiterer Mythos analog zu dem der Bundesgründung 1291. Die enge Bindung an den Sieger von Marignano – Frankreich – kann man kaum nur bei vollständiger Realitätsblindheit als Neutralität bezeichnen. 1587 schlossen die katholischen Orte (ohne Solothurn) eine Allianz mit dem katholischen Spanien. Auch passt nicht ins Bild, dass die Berner noch 1536 den Savoyern grosse Gebiete entrissen, das heutige Waadtland, was doch eine ziemliche Einmischung in die Angelegenheiten des Hauses Savoyern bedeutete.

Die Eidgenossenschaft agiert von jetzt an bis zu ihrem Untergang schlicht und einfach als eine Art von Juniorpartner Frankreichs. Im Rahmen des Soldbündnisses, das die Eidgenossen 1521 mit Franz I schlossen, liefert sie ihm massenhaft Söldner. Er bekommt den privilegierten Zugriff auf das immer noch gewaltige militärische Potenzial der Eidgenossenschaft, das „wichtigste Söldnerreservoir des frühneuzeitlichen Europa“ (Reinhardt). Eidgenossen sind weiterhin an den europäischen Kriegen aktiv beteiligt und sterben auf den Schlachtfeldern, jetzt eben (meistens) für Frankreich und nicht mehr unter eigener Flagge. Unter dieser gemeinsamen Flagge haben sie nach Marignano nie mehr einen Krieg geführt, nur noch interne Konfessionskriege unter sich. Die Eidgenossenschaft zerfiel in zwei Blöcke, religiös und wirtschaftlich, und konnte schon deswegen keine gemeinsame Aussenpolitik formulieren. Seit der Reformation wurden selbst die Eide nie mehr neu beschworen, die ihre verfassungsmässige Grundlage bildeten, wie es vorher Brauch war. Ein gemeinsamer Entscheid für „Neutralität“ hätte so gar nicht fallen können – und dementsprechend taucht dieser Begriff in den Beschlussprotokollen der Tagsatzung nicht auf, und ein entsprechendes Verfassungsdokument existiert erst recht nicht.

Wem die Eidgenossenschaft Soldaten zur Verfügung stellen und wem nicht, ist hingegen ein durchaus politischer Entscheid, weil sie dadurch das europäische Kräftespiel beeinflusst: ein eindeutiger Eingriff in fremde Händel. Wahre Neutralität sieht anders aus. Bereits die Friedensbedingungen nach der Niederlage gegen die Franzosen waren schon auffällig milde gewesen. Im „Ewigen Frieden“ von 1516 durfte die Eigenossenschaft ihre Eroberungen im Süden behalten, das kleine Stück Lombardei, das heute Tessin heisst. Sie geriet in eine ökonomische Abhängigkeit vom grossen Bruder und wird fast schon zum französischen Klientelstaat. Er gewährt der Eidgenossenschaft Handelsprivilegien und überschüttet die Söldnerbeschaffer mit Geld. In Freiburg machten die französischen Pensionen – so heissen die Provisionen – zwei Drittel der Staatseinnahmen aus. Dieser Geldsegen verschärfte auch die Gegensätze zwischen arm und reich und förderte die Korruption. Pas d‘ argent, pas de Suisses. Diese vor allem in den inzwischen katholischen Waldstätte und in den kleineren Stadtorten als Einnahmequelle forcierte Reisläuferei führte denn auch zu einem der Strukturkonflikte in der Eidgenossenschaft, die ihren Zusammenhalt fast zerstört hätte.

Die protestantischen Städte bekämpften das Söldnerwesen, weil sie die destruktiven Folgen für die Gesellschaft erkannten: die gewaltigen Verluste an Menschenleben, die Verrohung und Brutalisierung der Rückkehrer, die Korruption der herrschenden Eliten, das Ende der alten eidgenössischen Schlichtheit der Lebensführung. Aufgrund ihrer ökonomischen Stärke waren sie auch nicht auf es angewiesen waren. Die wirtschaftlich schwachen Landorte – oder vielmehr ihre führenden Familien, die direkt davon profitierten – hingegen wollten sich diese stetig sprudelnde Geldquelle nicht nehmen lassen. Obwohl sie bedeutete, dass sie ihre männliche Jugend kontinuierlich ins Ausland verschacherten und damit langfristig ihre eigene Zukunft verspielten. Das innovative Element, das die junge Generation in der Regel in eine Gesellschaft einbringt, ging so völlig verloren. Mit den zu erwartenden Folgen: die katholischen Orte verknöcherten unheilbar. Die Söldnervermittler vermittelten aber auch keine unbedarften Naivlinge, die nicht wussten, was sie erwartete, sondern Abenteuerlustige, die auf reichlich und raschen Gewinn hofften – ein Gewinn, der ihnen sonst nirgendwo winkte.

Insbesondere Zürich war gegen den Massenexport der Jugend, die dann auf den Schlachtfeldern Europas verblutete, und weigerte sich sogar, das Soldbündnis von 1521 mit Franz I zu unterzeichnen, was nicht auch bedeutet, dass es keine Empfänger von Pensionen gab . Dieser Export von Kanonenfutter belegt zugleich auch die wirtschaftliche Unterentwicklung der einen Hälfte der alten Eidgenossenschaft, insbesondere der Urschweiz, die nicht in der Lage war, ihren Söhnen eine friedlichere und gesündere Erwerbsarbeit zu garantieren.

Von den Söldnern, die zurückkehrten und nicht auf einem Schlachtfeld liegen blieben, kamen die einen in Samt und Seide zurück, mit prächtigen Federhüten auf dem Kopf. Sie waren stinkreich geworden, während die anderen als Krüppel zurück kehrten und aufs Betteln verwiesen sind. Viele finden Weg ins Zivilleben nicht zurück und üben weiterhin Gewalt aus, als Räuber und Wegelagerer. Die Söldnerführer bauen sich mit dem Blutgeld schmucke Paläste, besonders schöne Beispiele finden sich in Schwyz und in Solothurn, und fühlen sich als souveräne Herren, hängen aber am finanziellen Tropf der Franzosen und sind sich der korrumpierenden Wirkung dieser „Pensionen“ nicht einmal bewusst.

Vom Reich hatte sich die Schweiz erst mit dem westfälischen Frieden 1648 formell gelöst, der den „Dreissigjährigen Krieg“ der europäischen Grossmächte beendete. Zuvor hatte sie in einem Legitimationsnotstand gelebt, denn sie konnte sich ja nicht auf den Gedanken der Volkssouveränität berufen. Aus diesem Defizit entstand die Urschweizer Befreiungstradition, die aber nichts Revolutionäres darstellt. Erst 1674 erklärte sie sich im Krieg Ludwig XIVs gegen Niederlande explizit für neutral.

Die „ewige“ Neutralität bildete sich dann erst viel später mit der entschiedenen Nachhilfe der europäischen Grossmächte heraus – am Wiener Kongress 1815. Sie lag in ihrem gemeinsamen Interesse, weil dadurch der verkehrstechnisch zunehmend wichtiger werdende Alpenraum nicht in den exklusiven Besitz der einen von ihnen gelangte, die dann so einen strategischen Vorteil gegenüber den anderen gewänne. Schon gar nicht in denjenigen der Franzosen, die die Alte Eidgenossenschaft zum Ausgangsort ihrer Feldzüge gegen die europäischen Monarchien gemacht hatten. Die Siegermächte wollten einen Pufferstaat, der niemandem gefährlich werden konnte, und zwangen diesem die Neutralität geradezu auf. Dazu gehörte auch, dass die Schweiz eine Armee aufbaut, die in der Lage ist, ihr Territorium auch militärisch zu verteidigen. Ferner verlangten sie, dass ihre Jahrhunderte lange Zwietracht endlich aufhören, und die Schweiz ihre Grenzen definitiv akzeptieren müsse. Ebenso, dass es keine Untertanengebiete mehr geben dürfe, wogegen sich die Waldstätte und Bern heftig wehrten. Die Fundamente der modernen Schweiz mussten ihr also von aussen aufgezwungen werden, und entstammten nicht der eigenen Einsicht. Der Wiener Kongress legte ihre völlige Unfähigkeit zur Selbstreform bloss. Der Zweite Weltkrieg wird allerdings zeigen, dass die Schweiz den Erwartungen an ihre Neutralität nicht gerecht wird, weil sie den Transport von Waren und Soldaten der einen Kriegspartei, der deutschen zuliess. Im sogenannten Kalten Krieg fügte sich nahtlos ins westliche Lager ein.

Das Verschwinden der Eidgenossenschaft von der grossen Bühne belegt auch die Unzulänglichkeit ihrer politischen Organisationsform. Ihr lockeres Bündnissystem ist den Aufgaben der Zeit nicht mehr gewachsen, es ist gleichsam unterinstitutionalisiert. Ohne eine gemeinsame Exekutive, mit den Tagsatzungen als einzigem Koordinationsorgan lässt sich keine Grossmacht regieren, und wer so regiert wird, bliebt keine Grossmacht. Selbst die Tagsatzung hatte sich erst im 15. Jahrhundert als ein gemeinsames Organ entwickelt, eine Art nicht ständiges Parlament, an dessen Beschlüsse sich die einzelnen Länder längst nicht immer gebunden fühlten. Eine gemeinsame Regierung wird es bis zum ruhmlosen Ende 1798 nicht geben. Ab 1513 blieb es bis zuletzt ein Bündnisgeflecht aus 13 nominell gleichberechtigten Partnern (Orten) und „zugewandten Orten“ wie Genf, Sieben Zehnden (Wallis), dem fürstäbtischen Staat St. Gallen und den drei Bünden. Die einzelnen Partner oder Orte der Eidgenossenschaft verband nur ein wechselseitiges und auch unterschiedliches Bündnissystem. Ein einheitliches staatliches Gebilde war die Eidgenossenschaft noch immer nicht, nicht einmal ein Staatenbund, schon deswegen nicht, weil die einzelnen Orte selber keine volle Staatlichkeit erreicht hatten. Neben den souveränen Orten gibt es nur noch Untertanengebiete, gemeine Herrschaften, die erst dank der französischen Revolution und der napoleonischen Neuordnung volle Souveränität erlangen werden: Aargau, Thurgau, Waadt, Tessin. Die Verwaltung und Ausbeutung dieser gemeinen Herrschaften, bildeten „das wichtigste gemeinsame Projekt der Alten Eidgenossenschaft“ (Maissen 2015:83) und wirkten als einigende Klammer des heterogenen Gebildes. Sie – deren Ursprungsmythos im Kampf gegen fremde Vögte besteht – unterteilt diese Untertanengebiete in Vogteien, die Vögte bestimmt die Tagsatzung. Im Falle des Tessins erkennt man die neue Kolonialherrenattitüde schon daran, dass die Vögte häufig kein Wort italienisch sprachen. Nicht einmal die alten Ortsnamen meistern sie, so nannten sie Lugano Lauis, Locarno Luggarus, Bellinzona Bellenz und das Vallemaggia Meintal. Bern wiederum raubte den Talleuten von Oberhasli, die sich noch 1275 mit ihm als gleichberechtigte Partner verbündet hatten, ihre alt her gebrachte Reichsfreiheit und zwang sie 1334 mit Gewalt zur Unterwerfung.

Auch in den einzelnen souveränen Orten herrscht keine Demokratie. Sie werden zu Obrigkeitsstaaten („Ancien Régime“) und die althergebrachte Führungsgruppen aus den alteingesessenen besitzenden Familien versteinern zu gnädigen Herren, die nur noch aus einer beschränkten Zahl regimentsfähigen Familien stammen dürfen – einer neuen Art von selbsternannter Aristokratie, ohne blaues Blut. Besonders die Berner Aristokratie äfft das französische Vorbild nach. Die Bauern sind die Beherrschten und Ausgebeuteten. Sie sind nicht besser gestellt als ihre Kollegen im habsburgischen Österreich. Gelegentlich rebellieren sie, und werden dann von der Obrigkeit blutig niedergeschlagen, wie im sogenannten Bauernkrieg von 1653 – vor allem im Emmental (durch Bern) und Entlebuch (durch Luzern). Die Eidgenossenschaft erweist sich als völlig reformresistent und wird schliesslich von den revolutionären Truppen Frankreichs überrannt, ohne dass sie grosse militärische Gegenwehr zu leisten vermochte. Vom einst in ganz Europa Angst und Schrecken verbreitenden Kriegsgeist der Alten Eidgenossen war nichts mehr übrig geblieben. Der Preis des Söldnerwesens, wenn man nur noch für Geld ins Feld zu ziehen gewohnt ist.

In der Eidgenossenschaft blieben die Waldstätte das strukturschwache Randgebiet, das sie immer schon waren. Wirtschaftlich lebten sie bis ans Ende vom Export von Vieh, Käse und Soldaten, die als unerschrockene Haudegen lange berüchtigt und gefragt waren. So löste sie zugleich das Problem, dass ihre eigene Wirtschaftskraft nicht allen jungen Talbewohnern eine Existenz garantieren kann: der frühe Tod auf dem Schlachtfeld als Regulativ der Bevölkerungszahl und verspätete Geburtenkontrolle. Dafür wurden ihre Söldnerführer reich, wie ein kurzer Spaziergang durch die luxuriösen Herrensitze im Flecken Schwyz demonstriert. Das Klischee vom Volk der Hirten setzte sich ausserhalb der Eidgenossenschaft durch, und wer sie verspotten wollte, nannte sie Kuhschweizer oder muhte in ihrer Gegenwart demonstrativ.

Die Waldstätte überleben trotz ihrer nie überwundenen wirtschaftlichen Schwäche, weil sie nach Luzern (1332) mit den Städten des Mittellandes (1351 Zürich, 1353 Bern) eine dauerhafte Verbindung eingehen und in ihrem Sog wirtschaftlich überlebensfähig werden konnten. Der Getreide- und Salzhandel lief über Zürich, was sie völlig abhängig machte von dieser Stadt, die ihnen die Lebensader hätte abschneiden können. Und dies tatsächlich zweimal auch versucht, im Alten Zürichkrieg und nochmals im Kappelerkrieg 1530.

Mit der sich im Spätmittelalter durchsetzenden Geldwirtschaft – inklusive Bankwesen – geht die ökonomische Führung auf die grossen Städte über. Indem sich die Landorte mit ihnen verbünden, gewinnen sie einen sicheren Zugang zu den städtischen Warenmärkten und partizipieren an deren wirtschaftlicher Dynamik. „Als Kristallisationskerne der späteren Eidgenossenschaft waren die beiden Reichsstädte ungleich bedeutender als die Waldstätte, und im Mittelland haben eigentlich die Habsburger das Gerippe der nachfolgenden eidgenössischen Herrschaft ausgebildet (Sablonier 2008:204)“. Das ist der Witz des Gründungmythos: Er kehrt die Realität um. Die Waldstätte überlebte anfänglich wegen ihrer urwüchsigen militärischen Potenz, dem vielzitierten „altschweizerischen Kriegertum“, das sich den feudalen Ritterheeren als überlegen erwies. Sie führte letztlich dazu, dass der militärische Schutz und Schirm durch einen fürstlichen Landesherrn überflüssig wurde, aber das wirtschaftliche Überleben verdankte sie den Städten.

Nachspiel: die späte Karriere des lange vergessenen Bundesbriefs von 1291

Wer den Bundesbrief von 1291 liest, dem entgeht nicht dass es sich um die Erneuerung eines früheren, aber nicht datierten Briefes geht (antiqua confoederationis forma) , dessen Text offensichtlich weitgehend übernommen wird. Ein neues Element scheint einzig und allein der von der SVP so geliebte „Richterartikel“ zu sein, nämlich das Gelöbnis, keine fremden Richter über die Tal-Leute richten zu lassen. Die patriotische Geschichtsschreibung hat daraus eine anti-habsburgische Stossrichtung (und die SVP eine anti-europäische) herauslesen wollen. Dabei heisst es schlicht, dass nur Einheimische richten dürfen – vermutlich weil sie ihre Pappenheimer besser kennen, aber auch weil das Richteramt Macht und Prestige verleiht. Zu den nicht-fremden Richtern gehören natürlich auch die taleigenen mit Habsburg liierten Potentaten, also etwa die Hochadligen von Attinghausen, aber eben nicht die luzernischen, aargauischen oder sonstigen Ministerialadligen im Dienste der Habsburger. Allerdings haben die Waldstätte noch 1327 Eberhard von Kyburg – einen Grafen aus der sogenannten Neu-Kyburgerlinie, denen Burgdorf und Thun gehören – als Vermittler in allfälligen Streitsachen vorgesehen. Also einen eindeutig „fremden Richter“ – und nebenbei bemerkt: Brudermörder.

Es fällt auch auf, dass die Tal-Leute explizit darauf verpflichtet werden, ihren jeweiligen (Feudal)herren weiterhin als treue Untertanen Gehorsam zu leisten – und das sind ebenfalls zu einem gewissen Teil Habsburg verpflichtete Adlige. Keine Befreiung ist angesagt, kein Umsturz der Machtverhältnisse beabsichtigt, und von Demokratie ist erst recht keine Rede. Die Urkunde besiegelt wie ihre unbekannte Vorgängerin ein Landfriedensbündnis im Rahmen der herrschenden Feudalordnung („sich und das Ihrige zu schirmen“). In diesem steht die friedliche (d.h. juristische) Regelung von Konflikten und die Eindämmung von privater Gewalt im Zentrum, zu der es immer wieder kommen kann, wenn jeder das Recht in die eigenen Hände nimmt und immer weiter ausufernde Fehden am Ende die Existenz des ganzen Gemeinwesens akut gefährden.

Im Falle der blutigen Fehde zwischen den Clans der Izeli und Gruoba in Uri war noch Graf Rudolf von Habsburg 1257 in persona in Altdorf erschienen, um ihn zu schlichten. Er kam mit einem ganzen Gefolge von habsburgischen Vasallen und Ministerialen, darunter die Herren von Wolhusen und Balm, die Ritter von Hüneberg und Baldegg (lauter fremde Richter!), musste sich aber ein zweites Mal nach Altdorf bemühen, weil die Izeli den Friedensschluss durch ein „ungeheuerliches Verbrechen“ brachen. Nebenbei ist dies ein Beleg, dass der in der Bundesurkunde von 1291 erwähnte Vorgängerbund damals noch nicht bestanden haben kann, sonst hätte es den künftigen König nicht gebraucht. Es zeigt sich auch, dass man damals nicht einfach ein Urteil fällen konnte, sondern man die Leute gleich zur Verfügung haben musste, um seine Vollstreckung garantieren zu können. Das Thema der Briefe ist also primär die politische Ächtung des bisher üblichen Fehdewesens, das mit Methoden wie dem Niederbrennen von Feldern, dem Viehraub und der Ermordung derer, die ihr Eigentum verteidigen wollen, operiert hat.

Deswegen ist es auch von so grosser Bedeutung, wer das Richteramt ausübt. Der Bund zur Sicherung des Landfriedens von 1291 wurde vielleicht gerade zu diesem Zeitpunkt erneuert, weil König Rudolf aus dem Hause Habsburg gerade eben gestorben war und im Reich keine Einigung darüber herrschte, wer ihm nachfolgen sollte. Was Wirren und sogar kriegerische Auseinandersetzungen erwarten lässt, welche die ohnehin prekäre öffentliche Sicherheit zusätzlich in Frage stellen würde (die „Arglist der Zeit“?). Für diese verantwortlich ist klar die lokale Elite aus Kleinadligen und alteingesessenen besitzenden Familien. Der Kreis, innerhalb dessen sich die Eidgenossen einander im Konfliktfall beistehen wollen, ist geographisch klar umrissen. Geographisch eindeutig definiert sind die Vertragspartner nur im Falle von Uri (homines vallis Uranie) und Schwyz (universitas vallis de Switz), während die „communitas hominum Intramontanarum Vallis Inferioris nicht zwingend Unterwalden sein muss. Nicht klar ist auch, wer jeweils mit homines, universitas oder communitas hominum gemeint ist. Sicher keine Länder im heutigen Sinn, sicher nicht das versammelte Volk der Täler. Was ebenfalls auffällt, ist, dass der Brief in Latein verfasst ist und obendrein in einem grammatikalisch eher ziemlich fehlerhaften. Latein konnte damals in der Innerschweiz, einer im Übrigen fast vollständig schriftlosen Gesellschaft, kaum jemand schreiben oder lesen, was die Frage nach dem Adressaten aufwirft.

Ungewöhnlich ist auch, dass die Namen der Unterzeichner ebenso fehlen wie ein eindeutiges Datum (incipiente mense augusto: anfangs August), der Ort des Vertragsschlusses und der Ausfertigung der Vertragsurkunde) und vor allem auch – ausgerechnet – das Siegel von Schwyz, dem Ort, wo das einzige Exemplar aufbewahrt wurde. Der Bund von Schwyz und Uri mit Zürich hingegen, nur zehn Wochen später geschlossen, nennt sehr wohl Namen: Attinghausen, Schüpfer, Konrad Meier von Erstfeld, Ab Iberg, Stauffacher und Hunn.

Man hat auch eine Fälschung vermutet, bis die Radio-Carbon-Analyse (C 14) 1991 das Alter des Pergamentes auf die Jahre zwischen 1260 und 1312 bestimmt hat. Eine weitere Theorie besagt, dass die vermeintliche Gründungsurkunde schlicht vordatiert wurde, weil sie vom Inhalt her ohnehin besser ins Jahr 1309 passt, als König Heinrich VII die drei Waldstätte in eine gemeinsame Reichsvogtei packte und ihnen die Reichsfreiheit garantierte. Mit diesen Rechten waren natürlich auch die Pflichten verbunden: Für den Landfrieden, die öffentliche Sicherheit und die Verfolgung von Straftaten selber besorgt sein zu müssen, da der König weit weg residiert.


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Anton M. Fischer, geb. 1945, studierte in Zürich, Tübingen und Marburg Philosophie und arbeitet heute als Psychoanalytiker in Zürich. Er ist Autor einer umfangreichen psychoanalytischen Biographie von Martin Heidegger („Martin Heidegger – Der gottlose Priester“ 2008), sowie von: „Sigmund Freuds erstes Land. Eine Kulturgeschichte der Psychotherapie in der Schweiz“ (2013).




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