Etwas ist faul im Euroland

Mascha Madörin zur Griechenland- und Eurokrise


29. Juli 2015

Soll der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis des Hochverrats angeklagt werden? Das fordern einige konservative politische Opponenten in Griechenland, und der Vorstoss ist von einigen europäischen Medien begierig aufgegriffen worden.

Hintergrund ist die Behauptung, Varoufakis habe noch während der Verhandlungen mit den Institutionen heimlich einen Grexit (Austritt Griechenlands aus der Eurozone) vorbereitet. Varoufakis dementierte postwendend, aber die Botschaft war schon weltweit verbreitet und ist inzwischen nur teilweise korrigiert worden (so z.B. in der «taz»). Tatsächlich ging es um zwei Dinge: Erstens um die Einführung von staatlichen Schuldpapieren (sog. IOUs) – einer Vorstufe einer Parallelwährung, angesichts des wachsenden Entzugs von Liquidität durch die EZB. Diese Papiere hätten vor allem der Verrechnung von Guthaben von Unternehmen gegenüber dem Staat (Leistungsabrechnungen) und von Guthaben des Staats gegenüber Unternehmen (Steuern) gedient und damit Euro-Engpässe sowohl beim Staat als auch bei Unternehmen verringert. Zweitens ging es um die Vorbereitung für den Fall, dass Griechenland zu einem Grexit gezwungen würde. Diskutiert wurde beispielsweise, wie parallele Bankensysteme aufgebaut werden könnten, wenn die EZB die Notkredite für die Banken völlig stoppen würde. Dazu war eine Arbeitsgruppe einberufen, die versuchte, sich ein Bild der organisatorischen und technischen Probleme bei einem Grexit zu machen.

Die Steuer-Geschichte hatte Varoufakis schon bei seiner öffentlichen Rücktrittsrede erzählt, als er über seine Arbeit berichtet hat. Kein Pressevertreter fand dies damals interessant. Bekannt wurde es erst als grosse Recherche einer als seriös geltenden konservativen griechischen Zeitung, nachdem diese die Aufzeichnungen einer regelmässigen Telefonkonferenz internationaler Hedgefund-Mananger erhalten hatte. Varoufakis war zur Beantwortung von Fragen eingeladen, und natürlich wurde er auf die Entwicklung einer Parallelwährung angesprochen. Diese Frage hätte ich auch gestellt … Gegenwärtig wird an Universitäten und in renommierten Ökonomen-Blogs viel über die IOUs geredet, angesichts der zunehmenden Liquiditätsengpässe in Griechenland und der ständigen Grexit-Drohungen.

Trotz gegenteiliger Vereinbarungen landete das aufgezeichnete Konferenzgespräch postwendend bei der griechischen Zeitungen «ekathimerini» (Englisch online: http://www.ekathimerini.com/news). «Ekathimerini» zitierte daraus sehr selektiv, ohne Varoufakis dazu zu befragen, und stellte noch ein paar Informationen zum Steuerverrechnungssystem hinzu. Diese Überlegungen zu IOU wurden aber nicht im Zusammenhang mit einem möglichen Grexit angestellt, sondern waren vor allem gedacht als Hilfe bei den jetzigen Liquiditätsengpässen, obwohl sie notfalls auch im Fall eines Grexit gebraucht werden könnten. Fast alle internationalen Medien übernahmen allerdings zuerst die Version, Varoufakis habe aktiv einen Grexit geplant. Dann veröffentlichte die «Financial Times» mit Zustimmung von Varoufakis das transkribierte Gespräch (nur im Abonnement erhältlich) und veröffentlichte dazu einen Artikel von Varoufakis (nun zugänglich auf: http://en.enikos.gr/economy/33069,Varoufakis-Tsakalotos-was-briefed-on-Plan-B-for-Greece.html). Am Schluss erzählt er in diesem Artikel (und im Gespräch ausführlicher), dass sie im Finanzministerium zum Computer respektive zum Programm der eigenen Steuerbehörde keinen Zugang hatten – es gehörte dem in Griechenland von der Troika kontrollierten «General Secretariat for Public Revenues». Sie wollten aus naheliegenden Gründen die Troika nicht um Erlaubnis für den Zugang zur Software fragen und hackten diese deshalb. Dieser Hintergrund wurde von der Presse im Wesentlichen weggelassen. Die EU hat inzwischen die Computergeschichte dementiert, die aber ziemlich viel Staub aufgewirbelt hat.

Paul Krugman sagte dazu auf seinem Blog, dass es ein Skandal gewesen wäre, wenn die Regierung keinen Plan B entwickelt hätte. In der deutschsprachigen Presse hat der «Financial Times»-Artikel nachträglich doch ein wenig gewirkt. Es wird nicht mehr so dumm über den angeblichen Skandal von Varoufakis’ angeblicher Grexit-Vorbereitung geschrieben. Oder anders gesagt: Auch diese Rufmordaktion ist wahrscheinlich schief gelaufen. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Zur ganzen Debatte gibt es auf der Website von Varoufakis zwei Stellungnahmen von ihm und von einem der AG-Mitglieder, dem US-Amerikaner James K. Galbraith, beide Einträge datieren vom 27. Juli: http://yanisvaroufakis.eu.

Dazu ist noch anzufügen: Die IOU-Frage wurde angesichts der griechischen Misere mit den Euro-Engpässen in Universitäten von zahlreichen Ökonomen diskutiert und der griechischen Regierung empfohlen. Doch dann griff Schäuble die Diskussion auf, postulierte sie als Übergang zum Grexit und liess dazu auch eine Studie machen. In dieser Konstellation war es für die griechische Regierung sehr schwierig, die IOU-Frage öffentlich überhaupt aufzunehmen, geschweige denn einen Plan B2 für den Fall eines Grexit zu diskutieren. Aber ich selbst bin überzeugt, dass es für alle Euroländer in Zukunft solche Parallelwährungen für die interne Wirtschaft zeitweise oder vielleicht auch permanent brauchen wird, soll ein Einheitswährungssystem beibehalten werden. Diese Debatte wird bestimmt kommen.

Im Prinzip gibt es zwei EWU-Zukunftsdebatten: Zum einen stellt sich bei der Frage, was denn anstelle der Währungseinheit kommen sollte, das Problem einer koordinierten, einigermassen egalitären Währungspolitik. Man kann von den früheren EU-Systemen nicht behaupten, dass sie gut funktioniert hätten, Deutschland dominierte auch da. Dazu kommt, dass ja eine Zentralbank und ein System, das die Länder gegen Krisen und Spekulation schützt, sehr zu wünschen sind. Nur war die EZB in der jetzigen EWU nicht dafür vorgesehen. Aber das könnte im Rahmen einer Einheitswährung gelöst werden – entsprechende Debatten sind im Gang, u.a. sehr profiliert von Varoufakis. Zum andern wirft die Einheitswährung das Problem der staatlichen Souveränität in Sachen Makroökonomie, insbesondere der Fiskal- und Geldpolitik auf, das nicht mit einer Einheitswährung gelöst werden kann. Eine Einheitswährung zwingt den Staat quasi strukturell zu Austerität. Aber IOUs wären ein möglicher Weg, die Grundideen von Keynes (ein internationales Abrechnungssystem neben einer nationalen Währung) neu anzugehen. Das müsste alles diskutiert werden und wird es auch zunehmend.

Wer eine Art Polit-Home-Story lesen mag: Am 3. August wird im Magazin «New Yorker» ein sehr langes Porträt über Varoufakis erscheinen, der Journalist Ian Parker hat ihn seit dem Februar mehrere Mal besucht und bei seiner Arbeit begleitet: http://www.newyorker.com/magazine/2015/08/03/the-greek-warrior.

Ebenso hat mich eine Mail-Leserin (Danke!) darauf aufmerksam gemacht, dass am Donnerstag, dem 30. Juli in der «Zeit» ein Interview mit Varoufakis erschienen ist. Die Vorschau dazu: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/yanis-varoufakis-ruecktritt-deutschland-beziehung-scheitern. Auch dem «Stern» hat Varoufakis ein Interview gegeben. Hier der online Verweis: http://www.stern.de/sonst/vorabmeldungen/ex-finanzminister-varoufakis-im-stern–ich-dachte-an-die-einfuehrung-einer-parallelwaehrung-in-griechenland-6362560.html.

Weitere Hinweise

• Euro: Zunehmend werden von Ökonomen verschiedenster theoretischer Hintergründe kritische Stellungnahmen zum Grexit veröffentlicht. Auch Varoufakis hat sich inzwischen wieder dezidiert gegen einen Grexit geäussert. In der «taz» erklärt Friederike Spieker, eine enge Mitarbeiterin von Heiner Flassbeck (der sich früher für einen Grexit aussprach, soweit ich mich richtig erinnere), weshalb heute ein Grexit für Griechenland schlimm wäre. Heiner Flassbeck wie auch Oskar Lafontaine sind für eine Abschaffung des Euro und die Einführung eines anderen Währungssystems für die EU, aber der Grexit als isolierter Schritt ist nicht dasselbe. Zunehmend sehen auch frühere BefürworterInnen eines Grexit ein, dass er für Griechenland ein grosses Problem wäre. Interview mit Spieker: http://www.taz.de/Oekonomin-ueber-griechische-Wirtschaft/!5217878/. Eine lange Geschichte des Grexit-Komplotts der Deutschen und zunehmend der EWU hat die «New York Times» geschrieben. Sie kann heruntergeladen werden auf: http://en.enikos.gr/media/33125,How-Germany-prevailed-in-the-Greek-bailout–The-New-York-Times.html. Horst Seehofer (CSU) distanziert sich vom Grexit – ein gutes Omen für die nächsten Verhandlungen. Es scheint, dass Schäuble zunehmend isoliert ist. Aber man kann nicht genügend warnen vor dem noch im Detail auszuhandelnden dritten Bail-Out-Programm. Zwar will der IWF eine Teil-Schuldenstreichung, und laut verschiedenen Meldungen werden langfristige Umschuldungen bereits diskutiert. Auch die EZB scheint laut verschiedenen Pressemeldungen nicht mehr absolut abgeneigt zu sein. Aber bereits wird berichtet, dass der IWF stärkere Streichungen bei den Renten verlange. Zudem hat die neue Vertreterin des IWF seit ihrer Arbeit in Zypern den Übernamen «Dracula» erhalten. Sie gilt als Hardlinerin.

• In der französischsprachigen «Le Monde diplomatique» vom August werden verschiedene Artikel zu Griechenland veröffentlicht werden, u.a. ein Artikel zum Ordoliberalismus, der heute die EWU-Politik dominiert. Diese Artikel werden wohl auch in der deutschsprachigen Ausgabe erscheinen.

• Seit der Abstimmung in Griechenland und seit den Verhandlungen des Eurogipfels zu Griechenland gibt es etliche Artikel, offene Briefe und Kontroversen zur Zukunft der EWU. So auch von Etienne Balibar, Sandro Mezzadra und Frieder Otto Wolf. Ihr interessanter Artikel ist in Englisch, Französisch und Deutsch (schlechte Übersetzung) erschienen. Der deutsche Titel lautet: «Das Diktat von Brüssel: Was folgt daraus?» Die Analyse ist sehr lesenswert, wäre sehr brauchbar als Grundlage für eine Diskussion über die Zukunft Europas – vor allem aus einer demokratiepolitischen Perspektive. Die Autoren stellen bei ihrer Analyse unter anderem zwei Fragen: War es richtig, diese Abstimmung zu organisieren? Die Antwort lautet: Ja. Eine neue Demokratiedebatte sei ausgelöst worden: «Ein Gespenst geht nämlich in Europa um: das Gespenst der Stimme des Volkes, wenn nicht gar seiner Macht.» War es richtig von Tsipras die Unterschrift unter die Eurogipfel-Abstimmung mit der drohenden Katastrophe zu begründen? Die Antwort lautet: Ja. Der Text ist wohl ursprünglich in Französisch erschienen: https://opendemocracy.net/can-europe-make-it/etienne-balibar-sandro-mezzadra-frieder-otto-wolf/brussels-diktat-and-what-follow.

Die politische Zukunft Europas gibt viel zu reden. Varoufakis hat auf seiner Website Hinweise auf mehrere Zuschriften (Briefe direkt an ihn, insbesondere aus Italien) und Artikel zu dieser Frage: http://yanisvaroufakis.eu. Varoufakis macht via Twitter und Blog aufmerksam auf Artikel, die er interessant findet – sehr hilfreich auf die Schnelle. Ein sehr breites (politisch: liberal-linksliberales) Spektrum von Artikeln enthalten auch https://opendemocracy.net, http://www.socialeurope.eu/#ios und http://www.project-syndicate.org. Varoufakis wird in Zukunft regelmässig für das «project syndicate» schreiben. Diese Websites vereinigen Artikel aus einer sehr pluralistischen Perspektive. Ebenso bringt zunehmend die griechische Website http://en.enikos.gr kurze Informationen und Hinweise auf Artikel zu den Verhandlungen.

Hier muss ich nochmals der Berichterstattung von «Guardian online» http://www.theguardian.com/international und der «Financial Times» http://www.ft.com/home/europe ein Kränzchen winden. Letztere kostet leider viel. Aber die Berichterstattung zu Griechenland und der EWU ist sehr informativ und schön kontrovers. Die FT veröffentlicht Artikel von Schäuble bis Varoufakis. Ich war erleichtert, dass die FT nun nicht von Axel Springer, sondern vom grössten japanischen Medienkonzern Nikkei gekauft wurde. Vielleicht würde mich das nicht freuen, wenn ich in der FT viel über Japan lesen möchte, aber für den Pluralismus in der Berichterstattung in Sachen EU dürfte es nicht schädlich sein, es sei denn der Konzern will sparen und lässt den aufwendigen Journalismus, den die FT in Sachen Griechenland (weitsichtig) betrieben hat, einschränken. Dann last but not least: Wolfgang Münchau schreibt regelmässig Kommentare für den «Spiegel». Er hat eine Serie begonnen über die verschiedenen Währungsunions-Vorstellungen. Der Titel des ersten Artikels: «Schäubles Europa ist brandgefährlich»: http://www.spiegel.de/thema/spon_muenchau/#ref=meinunghp.

Im deutschsprachigen Raum ist noch hinzuweisen auf die Berichterstattung von Andreas Wehr in der «Jungen Welt» sowie gelegentlich von Philipp Löpfe in «Watson» und auf einen Beitrag von Werner Vontobel im «Infosperber». Die «Weltwoche» hat mittlerweile das Interview mit Varoufakis aus dem «New Statesman» nachgedruckt, natürlich, um Wasser auf die (konservative) Anti-EU-Mühle zu leiten.


Mascha Madörin, Ökonomin, viele Jahre Koordinatorin des Südafrika-Boykotts in der Schweiz, Arbeit bei der Aktion Finanzplatz Schweiz. Seit den 1980er-Jahren Arbeit zur feministischen Wirtschaftstheorie und -politik, Spezialistin für Care Ökonomie. Zahlreiche Publikationen in Büchern und Zeitschriften.



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