Irgendwann kam die Frage, was der Anlass sei, dass so viele, die angetreten waren mit der Vision, die Welt, sich selber und die Bedingungen unter denen die Menschen zu leiden haben, zu verbessern, resignieren, zynisch werden oder sich aktiv dem Verrat dem als Jugendillusion abgewerteten Traum einer besseren Menschheit widmen. Und zweitens was ich denn selber, der ich, sensibilisiert durch die Armeeabschaffungs-Initiative und die überhebliche sowie kannibalistische Abfertigung Osteuropas nach dem Fall der Mauer 1989, den elterlichen Katholizismus des Zweiten Vatikanums mit einer durch diese Ereignisse ebenfalls bereits anachronistisch gewordenen sozialistischen Geschichtsphilosophie ergänzt hatte, und also drohte, auch mangels sinnvoller Aktivierungsangebote in den leeren 90er-Jahren, schon früh ganz aus der Zeit herauszufallen, in der Wirklichkeit festhalten oder affirmieren konnte.
Diese Frage, die mich antrieb und der ich nach einer zwar intellektuelle Begeisterung auslösenden, in dieser Sache mich aber eher ratlos zurücklassenden intensiven Adornolektüre dann in den «Thesen über die Geschichte» von Walter Benjamin auf die Spur gekommen bin, fand ich später beim Berliner Religionsphilosophen und Mitbegründer der Freien Universität Klaus Heinrich in bewegender Form bearbeitet. In verschiedenen Formulierungen findet sich dort jene Frage, die Treue ermöglicht und Verrat verhindert – diesen ohne Kritikverbot und jene ohne Regressionssog – und also sowohl uns einzelnen gebeutelten Triebsubjekten als auch der Menschheit als prekärer Gattung einen Weg ermöglicht, der sich, so Heinrichs schlichte Formel, «nicht entmutigen lässt durch Enttäuschung». Es ist die Frage nach dem, was in unserer schwankenden und von vielfältigen Zerreissprozessen bedrohten Wirklichkeit diese gut heisst und trotzdem nicht aufhört, über sie hinauszugehen.
In der Auseinandersetzung mit den die Widersprüche der menschlichen Gattung und die Konflikte ihrer Entwicklungsgeschichte harmonisierenden, verdrängenden oder sich durch die Preisgabe der Selbstbehauptung den überwältigenden Lösungen der Eindeutigkeit und Endgültigkeit anheimgebenden und daher wirkmächtig verführerischen Denkschulen wie zum Beispiel der griechischen Logik, der christlichen Mysterienkulte, der politischen Romantik, der Phänomenologie, des Strukturalismus, der funktionalistischen Systemtheorien und immer wieder der Existentialphilosophie Martin Heideggers, verhandelt Heinrich die Geschichte der menschlichen Gattung als Geschichte der abgewehrten und ersehnten Bündnisfähigkeit «des Schicksals, der Natur und des Triebgrunds der Wirklichkeit.» Mit Letzterem benennt Heinrich die menschheitsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Göttlichen und zwar dort, wo es als Grund einer dynamischen Wirklichkeitsauffassung eingesetzt wird, die immer wieder das Entspringen aus den Ursprüngen zu denken erlaubt, im Gegensatz zur Beschwörung eines sogenannten Seinsgrundes, der nichts aus seinem Machtbereich entlässt und alles und jedes zu verschlingen droht.
Die Stoffe, die gegen die Unterwerfung unter die Mächte von Natur, Schicksal und Triebgrund der Wirklichkeit einerseits und gegen Komplizenschaft mit Herrschaft andererseits, die Kraft des Bündnisses und des gleichberechtigten Vertrags behaupten, findet Heinrich in den Mythologien, den prophetischen Schriften des Alten Testaments, der Renaissance, der Aufklärung und namentlich in den sowohl die geschichtliche Verfasstheit der Gesellschaft als auch die Bedürfnisse der Triebsubjekte ernst nehmenden Werken von Sigmund Freud und – etwas weniger explizit – von Karl Marx. Beider Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es auf eine autonomistische Kritik, die nicht selber in den behandelten Gegenstand involviert ist und ihn nicht selber verwandeln möchte in etwas Neues, verzichtet. So hält Marx durch die Kritik an der herrschaftlichen Determinierung der Geschichtsschreibung hindurch am Anspruch an der Möglichkeit von Wahrheit in der Geschichtswissenschaft fest und Freud durch sein Unbehagen in der Kultur hindurch am Anspruch auf Heilung von psychischen Leiden. Die Theorie, die Heinrich im Anschluss daran erarbeitet, scheut sich daher nicht, apologetisch zu sein. Das heisst, die Theorie schliesst ein Bündnis mit dem von ihr behandelten Gegenstand und hält sich nicht über die Distanzierungsverfahren einer sogenannt interesselosen Verwissenschaftlichung, des Methodenzwangs, der Disziplinentrennung oder der Objektivierung, in einer scheinbar neutralen Position schadlos, die den herrschenden Verzweckungen ihres Gegenstandes kein eigenes Interesse entgegenhalten kann oder will. «Nicht die Versöhnung hat Marx Hegel vorgeworfen, sondern das Misslingen der Versöhnung», schreibt Heinrich in seinem frühen Buch «Von der Schwierigkeit Nein zu sagen» und an gleicher Stelle: «Der uns vertraute Begriff der ‹Aufklärung› ist nicht denkbar ohne den Begriff einer potentiellen universalen Bundesgenossenschaft gegen Verrat.» Sie ist die einzige Möglichkeit, den Geist in der Wissenschaft und die Parteilichkeit im Denken zu behalten.
Klaus Heinrich: vom bündnis denken. Religionsphilosophie, Frankfurt am Main und Basel 2000, Stroemfeld 283 S.