An manchen Abenden …
entronnen den Schrecken der Ökonomie …
erschauert er, sieht er die Horden
der wilden Jagd vorüberziehen …
Arthur Rimbaud
Eines Tages erzählte mir ein Gefangener, er verspüre gelegentlich Lust, einem Bettler den Hut wegzutreten. Ich war schockiert und begann mich zu fragen, wie es sein kann, dass angesichts der Not eines Mitmenschen der eine Mensch den Impuls verspürt zu helfen, der andere Wut auf einen „Schmarotzer“, der sein Brot nicht „im Schweiße seines Angesichts“ verdient. Wie kommt es zu derart unterschiedlichen Reaktionen? Die Fragestellung weitete sich im Laufe der Zeit aus: Warum tendiert der eine Mensch nach links, wird zum libertären Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten, warum der andere zum Rechten oder gar Faschisten? Ich bin im Kontext meiner Beschäftigung mit dem Spanischen Bürgerkrieg erneut auf diese Frage gestoßen. Geht es lediglich um ideologische Prägungen, die meist in der Pubertät erfolgen und lebensgeschichtliche Weichen in die eine oder andere Richtung stellen? Der eine trifft in der sensiblen Phase der Orientierungssuche auf eine Gruppe libertärer Sozialisten, der andere gerät an Faschisten? Solche Zufälle spielen sicher eine Rolle, aber ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Die Entscheidung für die eine oder die andere Seite hat ihre triebmäßige Basis und wurzelt in psychischen Prozessen, die entweder lebendig mäandern und pulsieren oder eingefroren und erstarrt sind.
„Früh in der Kindheit“, berichtet Theodor W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia, „sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.“ Der kleine Theodor reagiert zunächst ganz im Sinne der Erwachsenenwelt, deren Urteile und Vorurteile er sich zu eigen gemacht hat. Die Schneeschaufler trifft seine mitleidlose Wut. Dann aber besinnt er sich und beginnt zu weinen – aus Scham wegen seiner Anpassung und aus Mitleid mit den frierenden Menschen. Der kleine Junge schlägt sich auf die Seite der gequälten Männer, in deren Leiden er sich wiedererkennt. Adorno kriegt die Kurve zum Menschlichen, weil er in der Morgenstunde des Lebens durch seine Mutter Liebe empfangen hat. Aus dieser erfahrenen Zuneigung hat er einen Kokon aus Urvertrauen um sich bauen können, der ihn schützt und gegen faschistische Versuchungen immunisiert. Glückserfahrungen der frühen Kindheit sind es, die uns ein Leben lang an- und umtreiben und beim Erwachsenen zum Ferment von politisch-libertären Rekonstruktionsversuchen und Utopien werden können.
Peter Brückner schildert in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort eine ähnlich ambivalente Szene. Er, der sich damals bereits als Antifaschist und Linker begriff, erschrak über eine Regung, die sich seiner angesichts eines elenden russischen Kriegsgefangenen bemächtigte, dem er 1943 begegnete. Obwohl er wusste, wie russische Kriegsgefangenen in deutschen Lagern behandelt wurden, empfand er angesichts des zerlumpten Mannes Abscheu. Begriffe wie „asiatischer Untermensch“ schossen ihm durch den Kopf und färbten seine Wahrnehmung ein: „Obwohl ich – oder vielleicht gerade weil ich – glaubte, dergleichen Residuen des Faschismus bei mir nicht suchen zu müssen, hatten sie sich meiner Spontaneität bemächtigt.“ Der Gefangene sprach ihn an. „Er sprach fließend deutsch. Es stellte sich heraus, dass er ein Filmregisseur aus Leningrad war. Man kann wohl sagen, dass ich Glück gehabt habe: dass er mich ansprach, und wie er das tat, durchbrach schlagartig den spontanen ‚Sekunden-Mechanismus‘ der Wahrnehmung. Ich hatte Glück …, weil man eine solche Lehre nicht wieder vergisst.“
Faschismus der Gefühle
Man muss für solch ein Glück allerdings auch offen sein und die Differenzwahrnehmung zulassen. Ein wirklicher Faschist hätte es soweit nicht kommen lassen. Später hat Brückner diese Erfahrung auf den Begriff gebracht: „Wer nicht sichtlich unsereiner ist, steht sehr unfest in der Kultur.“ Er spricht von einem „Faschismus der Gefühle – weit weg vom Kopf“. Mitunter wird unser aufgeklärt-tolerantes Erwachsenenbewusstsein von Regungen überrascht und manchmal auch überrumpelt, die plötzlich wie durch ein Steigrohr aus den Innenräumen unserer Kinderseele aufsteigen, in denen noch jede Menge faschistoides Gerümpel herumliegt, das unsere Nazi-Vorfahren dort hinterlassen haben.
Der autoritär erzogene und „zur Sau gemachte“ Mensch wird eine Neigung davontragen, das, was er selbst unter Schmerzen in sich abtöten und begraben musste, aus sich herauszusetzen und dort – am Anderen und Andersartigen – zu bekämpfen und zu vernichten. Das niedergedrückte und beschädigte Leben brütet über seinen Kompensationen und sinnt auf Rache. Auf der Basis eines an seiner Entfaltung gehinderten, durch pädagogische Dressur partiell getöteten Lebens entwickelt sich eine Tendenz, sich am Anderen schadlos zu halten und zu verfolgen, was einem lebendiger vorkommt: „Der da, der reißt sich nicht so zusammen wie ich!“ Spielerisch-provokant hat diesen Mechanismus eine Berliner Punkerin entlarvt, die in den Anfangsjahren der Punk-Bewegung mit ihrem schrillen Outfit und bunten Haaren in ein Taxi einstieg und vom Fahrer gefragt wurde: „Wat bist’n du für eene?“ Sie antwortete: „Gestatten, ich bin Ihr Trieb!“
Ressentiments und Feindseligkeit schlagen dem um sein Glück Betrogenem aus allen Poren. Auf Anzeichen von einem Mehr an Glück und Lebendigkeit reagiert er mit Härte und Grausamkeit. „Gleiches Unrecht für alle“ avanciert zur Maxime seines ungelebten Lebens. Der Faschismus setzte und setzt bis heute dieses Ressentiment politisch in Gang, er war und ist psychodynamisch die Wiederkehr des Verdrängten: „Wenn die toten Wünsche auferstehen, werden sie verwandelt in die Masse der Umzubringenden“, schreibt Klaus Theweleit in seinem leider beinahe vergessenen Buch Männerphantasien.
In dem Maße, wie wir Objekt und Opfer solcher Erziehungsprozesse geworden sind, sind wir alle partiell Getötete und tragen in uns den Widerstreit des Toten mit dem Lebendigen aus. Ein Teil von uns ist durch haltende, schützende und wärmende Körper früher Liebesobjekte belebt und bewohnt, der andere durch Abwesenheiten, Strafen, Kälte und Verlassenheit unbewohnt, entlebendigt, anästhesiert, im Extremfall totgestellt. Zwischen diesen beiden in uns miteinander ringenden Prinzipien herrscht kein ruhiges, homöostatisches Gleichgewicht. Jeder Mensch muss sich entscheiden, welches von beiden die Oberhand über sein und in seinem Leben gewinnen soll. Entscheidet man sich nicht, hat man sich auch entschieden: Der Überhang der gesellschaftlichen Objektivität, der aufgehäuften und zu Kapital gewordenen toten Arbeit wird dafür sorgen, dass im Zustand scheinbarer Balance das tödliche Prinzip den Sieg davonträgt. Affirmation ans Tote oder Emanzipation, auf diese existentielle Frage antwortet jeder mit seinem Lebenslauf. „Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie“, schrieb Max Horkheimer in seinen Notizen, weniger zwischen der abstrakten politischen Entscheidung zwischen links und rechts. Geschichtliche Erfahrungen haben uns schmerzhaft darüber belehrt, dass auch vermeintlich linke Entwürfe in den Sog einer tödlichen und todbringenden Produktionsweise geraten können, wenn sie sich von der regulativen Idee der Emanzipation, verstanden als Erzeugung des Menschlichen, allzu weit entfernen. Diese Erfahrung mussten Kommunisten wie Alfred Kantorowicz in Spanien machen, als sich NKWD-Leute und stalinistische „Parteischranzen“ breitmachten und die Atmosphäre vergifteten: „Die beste Sache wird oft von Menschen mitverteidigt, die man lieber auf der Gegenseite wüsste. Bedenklich ist, dass gerade solche neuerdings bei uns zum Zuge kommen, in den Stäben, den Bürostuben von Albacete, Valencia, Barcelona und – Moskau.“
Halten wir fest: Es gibt in Gestalt des Toten oder Totgestellten in uns einen fortdauernden Faschismus weit unterhalb des Kopfes, einen Faschismus der Gefühle oder der Gefühllosigkeit, der uns zu einem lebenslangen Austrag des Kampfes nötigt. Das kann man die Innenseite des Klassenkampfes nennen.
Faschismus und Anarchismus in Spanien
Nun aber noch einmal zurück nach Spanien. Wo verlief dort jenseits und unterhalb der Ebene der Ideologien die Grenze zwischen Linken und Rechten?
Malraux beschreibt, wie anarchistische Milizionäre Zigaretten an faschistische Gefangene verteilen, die auf einem öffentlichen Platz antreten mussten. Später reden zwei Protagonisten seines Romans Die Hoffnung über diese Szene und fragen sich, wie sie zu deuten ist. Einer vermutet: „Sie wollen denen da oben beweisen, dass sie kein Recht haben, sie zu verachten. Was ich da sage, klingt wie ein Spaß, aber ich meine es durchaus ernst. In Spanien scheiden sich die Rechte und die Linke dadurch, dass die einen für die Demütigung eine Vorliebe haben, die anderen sie verabscheuen. Die Volksfront stellt unter anderem die Gemeinschaft derer dar, welche die Demütigung verabscheuen. … Das Gegenteil von Demütigung … ist nicht die Gleichheit, sondern die Brüderlichkeit.“ Es gibt Leute, die von klein auf gedemütigt wurden und sich nun ein Leben lang von denen da oben demütigen lassen. Sie halten sich schadlos, indem sie Demütigungen an jene weiterreichen, die noch weiter unten stehen. Und es gibt andere, die aus den selbst erlittenen Demütigungen den Schluss ziehen, dass niemand mehr gedemütigt werden sollte.
Aus den von Enzensberger gesammelten Berichten über Durruti und die anarchistischen Milizen spricht trotz allen Ernstes und aller Kampfbereitschaft doch auch eine enorme Lebensfreude, eine Lust am Fest und an der Liebe. Die spanische Arbeiterklasse war wilder und auch gewalttätiger als die deutsche oder englische, hatte weniger Respekt vor dem Privateigentum und dem Staat. Sie war noch nicht domestiziert und zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Die Köpfe der spanischen Tagelöhner und Arbeiter waren noch nicht vom kapitalistischen Geist kolonialisiert, ihre Körper waren noch nicht zu bloßen Arbeitsinstrumenten geworden. Michel Foucault hat daran erinnert, dass „das Leben und die Zeit des Menschen nicht von Natur aus Arbeit sind, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren.“ Diesen Vorgang kann man als „größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment aller Zeiten“ (Klaus Dörner) und weltgeschichtlichen Dressurakt betrachten, die dann gelungen sind, wenn die Peitsche des Aufsehers nicht mehr nötig ist und die Menschen ihr kapitalverwertendes Unglück als Erfüllung und Bestimmung erleben. Schließlich, heißt es bei Marx, entsteht eine Arbeiterklasse, die „aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.“ Die domestizierten Arbeiter benehmen sich manierlich, verzichten auf Gewalt, organisieren sich in Parteien und Gewerkschaften, die die Lage der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft verbessern wollen, die sie als Ganze nicht mehr in Frage stellen. Die spanischen Arbeiter waren nicht geneigt, sich der Fabrikdisziplin und den anderen Verhaltenszumutungen der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise zu unterwerfen und rebellierten gegen sie.
Malraux, Borkenau und Orwell beschreiben aus den Tagen und Wochen nach der Niederschlagung des Militärputsches in Barcelona eine überschäumende Begeisterung, Fröhlichkeit, revolutionären Enthusiasmus und gelebte Brüderlichkeit. In der Hitze des Kampfes legen die Menschen die Stacheln ab, die sie sonst gegeneinander isolieren und auf Distanz halten, sie entdecken im anderen den Menschen. Die revolutionäre Masse erlebt sich wie ein einziger großer lebendiger Körper. „Die Nacht war nichts als Brüderlichkeit, … immer wieder die gleichen erhobenen Fäuste, die gleiche Brüderlichkeit“, heißt es bei Malraux. Diese Brüderlichkeit schloss im Übrigen Schwestern/Frauen mit ein, die sich gleichberechtigt an den Kämpfen beteiligten: „Alle in irgendeiner Weise Unterdrückten haben sich um uns gesammelt, kämpfen mit uns“, heißt es bei Malraux. Die größte Kraft der Revolution ist die Hoffnung, die Hoffnung auf ein menschenwürdiges und glückliches Leben, ein Leben ohne Herren und Knechte. „Das, was wirklich zählt – ist das nicht etwa das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“ fragt Pasolini in den Freibeuterschriften.
Angesichts dieser Lebendigkeit geht Faschisten „das Messer in der Tasche auf“. Der Anarchist ist im Inneren des Faschisten anwesend in Gestalt seiner verdrängten Begierden und unterdrückten Wünsche. Der Faschist hält in sich ein anarchistisches Double gefangen, das ins Freie möchte und lebendig sein will und dessen Gefangenschaft er verewigt, indem er gegen die Anarchisten draußen zu Felde zieht. „Äußeres weist innen auf Verschüttetes“, wie der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny einmal geschrieben hat. Wenn sich bei anderen Menschen Wünsche nach einem Mehr an Autonomie und Lust regen, geraten das Anpassungsgefüge und die Festigkeit der Triebverdrängung des Faschisten in Gefahr. Überall sieht er die Kellerratten der Revolution „aus der Tiefe“ herausdrängen und das Land überfluten. Überall muss er „Sümpfe trockenlegen“ und „Sauställe ausmisten“. Der Hass des Faschisten ist ein Hass auf Teile der eigenen Person, auf abgewehrte und mühsam in Schach gehaltene eigene Triebwünsche und Begierden. Und vor allem Verachtung von und Hass auf Frauen, die die Faschisten aller Länder und Zeiten umgetrieben haben und bis heute um- und antreiben.
„Umgekehrte Psychoanalyse“
Vieles von diesem faschistischen Syndrom haben wir gerade im amerikanischen Wahlkampf wieder aufleben sehen. „Lock her up!“, Sperrt sie ein!, „Drain the swamp!“, legt den Sumpf trocken“, „Close the borders!“, Schließt die Grenzen!, wurde da von Trump und seinen Anhängern skandiert. Man müsste sich die Mühe machen, die Sprache Donald Trumps zu analysieren, zu schauen, welche Metaphern und Bilder er verwendet. Den Faschisten erkennt man nicht zuletzt an der Sprache, die er verwendet. Die Parolen Trumps zielen in erster Linie darauf ab, das aus dem Lot geratene innere Gleichgewicht des „kleinen Mannes“ wiederherzustellen – auf Kosten von allen, die nicht sichtlich „unsereiner“ sind. Trump liefert Viagra für das Selbstwertgefühl des verunsicherten „kleinen Mannes“, der im Übrigen auch eine „kleine Frau“ sein kann. In einer eigenartigen „Identifikation mit dem Aggressor“ haben über die Hälfte der weißen Frauen für Trump gestimmt, obwohl dieser sie zuvor derb beleidigt hatte.
Leo Löwenthal hat Politiker vom Typus Trump im Rahmen der Studies in Prejudice des emigrierten Instituts für Sozialforschung bereits 1944 beschrieben. Der von Löwenthal zusammen mit Norbert Guterman verfasste Teil der Studie heißt Prophets of Deceit, Lügenpropheten. Eine Studie über die Techniken und Themen des amerikanischen Agitators. Dort entwickeln Löwenthal und Guterman in Ansätzen eine Theorie der faschistischen Agitation, die uns auch heute noch ein Verständnis des rechten Populismus, zumal des Trumpismus eröffnet. Sie beschreiben das Vorgehen der amerikanischen Agitatoren der 1940er Jahre als „umgekehrte Psychoanalyse“. Während die Psychoanalyse die Ängste des Einzelnen aufklärt und bisher Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben versucht, um ihn mündiger zu machen, will der Rechtspopulismus die Ängste aller bestärken, um sie unmündig zu halten. Ein Beispiel für diesen Vorgang: Statt die vagen Überfremdungsgefühle der Menschen in eine Kritik der real existierenden und von Tag zu Tag wachsenden kapitalistischen Entfremdung zu überführen, lenkt der Populist sie gegen die Fremden, an deren Präsenz es liegen soll, dass man sich in der Heimat nicht mehr geborgen und zu Hause fühlt.
Doch hören wir Löwenthal und Guterman in ihrem Buch Lügenpropheten: „Der Agitator geht genau den entgegengesetzten Weg (wie die Psychoanalyse, G.E.). Er bedient sich solcher populären Stereotypen nur, um die vagen Ressentiments zu verstärken, deren Ausdruck sie sind. Er benutzt sie nicht als Ansatzpunkt für eine Analyse, sondern vielmehr, als wären sie schon das Ergebnis von Analysen: die Welt ist kompliziert, weil es Gruppen darin gibt, deren Absicht es ist, sie kompliziert zu machen. Er hetzt sein Auditorium zu sozialen Reaktionen auf, die denen des verfolgungswahnsinnigen Individuums gleichen, und er bringt es dahin vor allem durch ein endloses Breittreten der Verschwörungsidee. (…) Statt Vorschläge zu machen für eine bessere Ausnützung der Produktionsmöglichkeiten oder für eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts, unterhält der Agitator lediglich die Ressentiments gegenüber den Exzessen des Luxus. … Nach seinen Enthüllungen sollen Pläne bestehen, dass immer neue Einwanderermassen in das Land kommen. Diese Fremden erscheinen dann als eine gefährliche Konkurrenz, ein räuberisches Element, verbündet mit den ‚internationalen Bankiers‘. (…) Die Heimatlosigkeit des Flüchtlings wird das psychologische Äquivalent für unterdrückte Triebe des Zuhörers. Solch eine Gleichsetzung ist eine Vorbereitung für ein Loslassen verbannter Triebe gegen ein verbanntes Volk; eine psychologische Brücke ist geschlagen zwischen dem inneren Druck eines Ressentiments gegen die Verdrängung und des Ressentiments gegen ein heimatloses Volk. Wer kein Heim hat, verdient auch keines.“ Der Agitator spricht davon, dass „Amerika gereinigt werden müsse, empfiehlt ein reinigendes Bad. (…) Oft spricht er von dem gegenwärtigen Zustand des Landes als von einem verwahrlosten Haus. Er beschwert sich darüber, dass die Feinde ‚unser schönes Land in Unordnung gebracht haben‘, dass ‚ideologische und intellektuelle Krankheitskeime‘ Amerika mit ihren Seuchen bedrohen und dass es Zeit für einen ‚Hausputz‘ sei. Er wettert gegen diesen ‚ganzen stinkenden Unrat‘ und betont die Notwendigkeit, ‚das Land von dieser schmutzigen Bande zu säubern‘. Ebenso wie die ‚niedere Tiere‘-Metapher tritt die hygienische Metapher so häufig und in so konsistenten Zusammenhängen auf, dass sie nicht als zufällig beiseitegeschoben werden kann. (…) Die Projektion der eigenen unterdrückten Triebe auf den Feind gemahnt die Zuhörer jedoch gleichzeitig daran, dass diese Triebe unanständig und abstoßend sind. So erzeugt die Projektion gleichzeitig Lustgewinn und Feindeinstellung.“
Soweit die Studie über die Lügenpropheten aus dem Jahr 1944. Sind die Parallelen zur Gegenwart nicht erstaunlich und erschreckend? Man müsste sich die Zeit nehmen, Reden von Trump und anderen Rechtspopulisten nach dem Vorbild von Löwenthal und Guterman eingehend auf ihre unterschwelligen Botschaften zu untersuchen. Seit den Studien über Autorität und Vorurteil weiß man, dass so etwas wie ein rechtsradikal-faschistisches Syndrom existiert, zu dem verschiedene „Symptome“ gehören. Unter der Federführung von Adorno wurde die sogenannte „Faschismus-Skala“ entwickelt. Diese ist ein Fragebogen, der antidemokratische Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften der autoritären Persönlichkeit erfassen soll. Der Rechtsradikalismus kann wechselnde Züge annehmen, aber dennoch zeigt sich, dass bestimmte Einzelseiten in seiner Physiognomie regelmäßig im Verein mit anderen auftreten. So ist, wer gegen Ausländer, Juden und andere Minoritäten wettert, in der Regel auch gegen Frauenrechte und für die Prügel- und Todesstrafe. Er verachtet das Parlament als „Quasselbude“ und wünscht sich einen „starken Mann“, der „das Land mit harter Hand regiert“. Es existiert eine sozialpsychologische Komplementarität, die dafür sorgt, dass bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen verbinden. Das ist bis auf den heutigen Tag nicht anders geworden und findet sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auch im gegenwärtigen Rechtspopulismus, wobei der Antisemitismus häufig nicht offen agiert wird. Aber es ist wie so oft: Was zum Verschwinden gebracht werden soll, scheint in der Bewegung durch, durch die der Rechtspopulist es zu verbergen versucht.
Die „umgekehrte Psychoanalyse“ ist im Schwange und feiert nach wie vor ihre Triumphe. Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste der Leute über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignet sich der faschistische Agitator beziehungsweise Rechtspopulist diesen Rohstoff so an, wie er bereit liegt, und setzt ihn für seine Zwecke in Gang. Er bedient wiederentflammte Spaltungsneigungen in „nur gut“ und „nur böse“ und rückt den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. Da einer Erkenntnis Melanie Kleins zufolge alle Menschen das Stadium der frühkindlichen Spaltungsneigung, der „paranoid-schizoiden Position“, durchlaufen, bleibt die Neigung, widersprüchliche Situationen und seelische Spannungszustände auf diese Weise zu entschärfen, nicht nur bei den Menschen virulent, die aufgrund blockierter Reifungsprozesse auf dieses Entwicklungsstadium fixiert blieben, sondern auch bei „durchschnittlich-normalen“ Erwachsenen. In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung findet eine kollektive Regression auf archaische Mechanismen der psychischen Regulation statt. Urteils- und Differenzierungsvermögen bilden sich zurück und es steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen. Wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat nun die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistisch-Reklameähnliche – ist dagegen anstrengend und schmerzhaft. Das ist der Grund, warum in Krisenzeiten, wenn die Menschen sich nach schnellen Lösungen sehnen, linke Aufklärungsversuche gegenüber den populistischen Vereinfachungen kaum eine Chance haben.
Erich Kästner hat am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung eine denkwürdige Rede gehalten, in der es heißt: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf (…). Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“
Ich werde in Anbetracht der aktuellen Vorgänge in der Welt von Tag zu Tag hilf- und ratloser. Können wir im Sinne Kästners den rollenden Schneeball noch zertreten, oder ist er bereits im Begriff, sich zu einer Lawine auszuwachsen, die sich nicht mehr stoppen lässt und die uns alle unter sich begraben wird?
Bellettini Franco
Ich empfehle ihnen Didier Eribons ” Rückkehr nach Reims ” . Also statt Sozialpsychologie , ein wenig
mehr Soziologie . Und das ihr Aufsatz in Hilflosigkeit
endet und sich auf eine idealisiert-historische
Betrachtungsweise des spanischen Bürgekrieges
beschränkt ohne die neuen Bewegungen in Südeuropa
zu erwähnen , ist unter anderem auch eine verbreitete
Eigentümlichkeit des Diskurses in Theorie.ch .
Ihre tiefe , humanistische Sehnsucht ohne politische Konzepte , bringt vielleicht ein paar gut Betuchte auf
die psychoanalytische Liege , mehr aber auch nicht .
Faschismus – auch eine psychische Störung? | Akademie Integra
[…] das Lebendige. Anmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus – einst und jetzt“, in: http://www.theoriekritik.ch/?p=3111. Götz Eisenberg, geb. 1951, ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er lebt in Gießen und […]
Ayaan Hirsi Ali
Die Parallelisierung von Faschismus und Rechtspopulismus halte ich für extrem vereinfachend. Es scheint mir, man will insbesondere in Deutschland einen Widerstand gegen den Nationalsozialismus nachholen, der in der gegenwärtigen Lage wenig realitätstauglich ist.
Lesenswert hierzu:
https://www.nzz.ch/feuilleton/andreas-roedder-angst-vor-deutschland-ld.1439649
antira-Wochenschau: Frontex-Langstreckendrohnen, Vucjak-Räumung, UNO-Flüchtlingsforum – antira.org
[…] Der Hass auf das LebendigeAnmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus – einst und jetzthttp://www.theoriekritik.ch/?p=3111 […]