Mit mulier sacer werden jene Frauen bezeichnet, die das Bild der Frau als ‹Heilige und Hure› verkörpern. Es sind Frauen, die als Vogelfreie ungestraft getötet werden dürfen, denen als Heilige das Leben aber eben gerade nicht genommen werden kann. Die Autorin Jimini Hignett schliesst sich mit diesem Begriff explizit den Überlegungen Giorgio Agambens und Slavoj Žižeks zum homo sacer an. Im Anschluss an Žižek definiert Hignett den homo sacer als«the one who deprived of his or her full humanity, being taken care of in a very patronizing way». Um dieser herablassenden, paternalistischen Behandlung der mulier sacer nicht in die Hände zu spielen, versammelt die Künstlerin und Polit-Aktivistin aus Amsterdam in ihrem spannungsgeladenen Band verschiedene Stimmen zum Thema Prostitution, allen voran jene der mulier sacer selbst.
Das Buch beginnt mit einer Reflexion: Wie kann Hignetts ihrem Sohn die ‹Arbeit› der Frauen im Amsterdamer Rotlichtbezirk erklären? Diese Überlegungen werden abrupt unterbrochen: Durch das Layout stark hervorgehoben führt Hignett die Definition des homo sacer an. Nach nur einer Seite erfolgt wieder ein Sprung: die Nacherzählung eines Treffens von Hignett mit einer Prostituierten. Solche Stimmenwechsel durchziehen fortan die Lektüre des Buches. Die Stories der mulier sacer werden unterbrochen von einem Essay, einem Gesetzesentwurf, einem Interview und Blogeinträgen. Die Prostituierten kommen dabei nicht nur in Form nacherzählter Begegnungen und Interviews zu Wort, sondern auch in Bildern. Photos zeigen sie mit übergestülpten Papiertüten auf dem Kopf. Die Tüten sind mit Selbstporträts bemalt. Eine überzeugende Darstellung der mulier sacer, die sich zwar als Prostituierte, nicht aber als eigenständiges weibliches Subjekt in der Öffentlichkeit zeigen darf. Es sind Porträts von Frauen, die ihre Identität begraben müssen, die sich fürchten und schämen, denen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in den Niederlanden vorenthalten wird. Verortet werden diese Porträts durch eine weitere Bildserie, welche Wohnblocks niederländischer Städte zeigt: in schwarz-weiss gehaltene Fassadenbilder, die europäische Normalität, die ‹Normalität› dieser Frauen.
Als eine weitere Stimme der mulier sacer versammelt Hignett drei Einträge der Bloggerin rmott62. Sie, die sich selbst als privilegierte weil europäische Prostituierte bezeichnet, wirft nicht nur die Frage der Freiwilligkeit dieser ‹Arbeit› auf, sondern auch jene nach dem Unterschied von Prostitution und Pornographie. Neben diesen drastischen und aufwühlenden Schilderungen von rmott62 lesen sich die weiteren Beiträge des Bandes wohltuend distanziert. In ihrem Essay Towards a Politics of Feeling. Between Theory, Lived Experience and Praxis theoretisiert Maggie O’Neill, Professorin für Kriminologie der Universität Durham, verschiedene Debattenstränge rund um das Thema der Prostitution. Mit dem Ansatz der participatory action research stellt sie eine Möglichkeit vor, wie die Erforschung von Prostitution methodologisch und moralisch dem Forschungsfeld verpflichtet sein kann und so Wissen generiert, das aktiv zu einem Wandel der gegenwärtigen Verhältnisse beitragen will.
Eine weitere Stimme im Diskursfeld ‹Prostitution› ist der Vorschlag einer anonymen Staatsanwältin in Form eines Gesetzestextes. Alarmiert von der Alltäglichkeit und Nonchalance, mit denen Fällen von Zwangsprostitution und Zuhälterei bei Gericht begegnet wird, hat sie ein Gesetz zur Ermächtigung der Prostituierten ausgearbeitet. Ein äusserst lesenswertes Interview hat Hignett zudem mit Areim aus Barcelona geführt, die für Menschen mit Behinderungen Begegnungen mit Prostituierten organisiert. Dieser Zugang zu selbstbestimmter aber auf fremde Hilfe angewiesener Sexualität beleuchtet die Möglichkeiten der Prostitution als soziale und emotionale Arbeit, die nur aufgrund langjähriger Beziehung und Einfühlungsvermögen überhaupt erst möglich wird. Hier verkehren sich Abhängigkeitsverhältnisse auf ungeahnte und meines Erachtens bis anhin zu wenig thematisierte Weise.
Die Stärke des Buches Mulier Sacer liegt in der Verflechtung persönlicher, biografischer, theoretischer, juristischer und aktivistischer Beiträge. Kein einziger Artikel lässt sich ohne Unterbrechung lesen. Stimmen, Ansätze, Perspektiven durchkreuzen sich permanent, so dass ebenso viele neue Schnittstellen wie Widersprüche sichtbar werden. Und: Keine Stimme ist privilegiert. Das Nicht-zuhören- und Nicht-hinsehen-wollen, welches die Prostitutionsdebatte kennzeichnet, wird so zum Verhängnis aber auch zur Chance aller hier versammelter Beiträge. Überlegungen werden widerlegt oder unterstützt, fallengelassen und wieder aufgegriffen, ergänzt und zugespitzt. Selbst die Abbildungen sind eigenständige Argumente, ebenso wie die knallbunten Farbseiten, die dieses Buch zumindest fürs Auge zu einem sinnlichen Genuss machen. Hignett legt mit Mulier Sacer ihren eigenen Versuch der participatory action research im Sinne O’Neills vor. Ein sehr gelungener Versuch. Dieses Buch artikuliert Verstörung, Wut und Verständnislosigkeit, zeigt in seiner differenzierten Komposition aber auch auf, wie das Thema der Prostitution verhandelt werden muss: vielstimmig und in all seinen Widersprüchen.
Hignett, Jimini: Mulier Sacer. Amsterdam: How to go on Series 2013, 221 Seiten.
* Dieser Text erschien erstmals in RosaRot – Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen, Nr. 48, Frühling 2015.